Darky Green. Adrian Plass

Darky Green - Adrian Plass


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      Bald zeigte sich, dass Lance seine Gefühle über den Tod seines Vaters nie richtig ausgedrückt hatte, oder zumindest nicht so, dass es ihn weitergebracht hätte. Jetzt, am Ende seiner Schulzeit, wünschte er sich seinen Vater an seiner Seite, als Helfer, Unterstützer und Ratgeber.

      Unterstützt und abgelenkt von seiner eigenen Therapie vergrub sich Lance bald wieder im Lernen, auch wenn er auf Steves Vorschlag hin die Sitzungen noch einige Wochen lang fortsetzte, nachdem die schlimmste Phase seiner Depression vorbei war.

      Das nächste Mal war es um den Beginn seines zweiten Jahres auf der Universität so weit gewesen – in einer Zeit, in der etliche Studenten den sogenannten »Drittsemesterblues« durchlebten, wie man Noreen erklärt hatte. Diesmal erfuhr sie eigentlich erst davon, als es schon mehr oder weniger bewältigt war. Beth erzählte ihr viel später davon. Offenbar ging es irgendwie um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Repressive Regime. Kriminellen Missbrauch von Entwicklungsgeldern. Das Wohl des Volkes als Ganzes wurde an die erste Stelle gestellt und die dringenden Bedürfnisse echter einzelner Menschen hatten das Nachsehen. Das Elend des Welthungers. Kleinkarierte Psychopathen, denen die totale Macht auf dem Silbertablett gereicht wurde. Und unter alledem anscheinend, für Noreen völlig unerklärlich, wieder jene Angst vor dem Versagen. Das Grauen davor, mit nichts in den Händen aus dem Westen zurückzukehren. Keine Beute. Nichts für den Topf. Wie konnte es auch anders kommen bei jemandem, der gar kein richtiger Mann war?

      Diesmal keine Psychiater oder Therapeuten. Nur Freunde. Olly und Tom und Beth. Hauptsächlich aber, so erfuhr Noreen, Olly, der stundenlang mit Lance im Café des Kunsthandwerkerviertels saß oder zuschaute, wie das Wetter an stürmischen Tagen das Wasser der Cardigan Bay aufpeitschte. Am Ende wurde alles gut. Das zweite Jahr ging vorbei und das dritte kam. Lance hatte ein erstklassiges Examen hingelegt. Olly natürlich ebenso. Beth und Tom, die beide Englisch als einziges Fach belegt hatten, hatten mit Zwei abgeschlossen. Während jener drei Jahre war Olly manchmal während der Ferien bei Lance zu Besuch gewesen. Noreen vergötterte Olly. Er behandelte sie wie eine Königin und er hatte den Kniff heraus, sich mitten im tiefen Herzen ihrer Küche breitzumachen, als hätte er schon immer dort gewohnt. Als Lances Studium zu Ende ging, hatte Noreen die endlose und endlos komplizierte Eisenbahnreise hinunter nach Aberystwyth unternommen, um sie alle bei der Abschlussfeier in ihren gemieteten Roben zu sehen, wie sie ihre akademischen Hüte in die Luft schleuderten, während die stolzen Eltern, die es geschafft hatten zu kommen, Bilder schossen.

      Ja, auf lange Sicht war alles gut gegangen, aber seit der Universität war dann die ganze Sache mit den Regenwäldern und der globalen Erwärmung und alledem gekommen. Der Himmel wusste, worum es dabei in Wirklichkeit gegangen war. Jene finstere Wolke hatte sich Gott sei Dank wieder aufgelöst, bevor die Natur und der Ursprung ihres Kerns offenbar wurden. Noreen war es nie gelungen, das Gefühl abzuschütteln, dass möglicherweise sie an allem schuld war. Vielleicht hatte sie irgendeinen Fehler gemacht, als Lance klein war, ohne zu merken, was sie da tat. Hatte sie ihn irgendwie verkorkst? Gewollt hatte sie das auf keinen Fall.

      Und jetzt ging es wieder los. Sie konnte es einfach nicht glauben. Noreen packte ihren Einkaufswagen ein bisschen fester, biss sich auf die Unterlippe und blinzelte heftig, um die Tränen zu unterdrücken, die plötzlich in ihr aufstiegen. Jetzt bloß nicht albern werden. Reiß dich lieber zusammen und tu etwas Nützliches. Etwas, das hilft. Sie schlug die Augen auf, zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres Mantels, putzte sich die Nase und stieß einen kleinen Seufzer aus. Dann zog sie den Wagen mit einer Hand näher zu sich, nahm ihre Handtasche heraus und fischte darin herum, bis sie ihr kleines Notizbuch mit den Telefonnummern hinten drin gefunden hatte. Jetzt noch ein bisschen Kleingeld. Zehn Pence reichten heute nicht einmal mehr aus, um durchzukommen, und selbst zwanzig Pence waren im Nu verbraucht. Aber zwei Fünfzig-Pence-Stücke müssten reichen. Ja, gut. Sie fand noch vier davon zwischen dem anderen Kleingeld in dem kleinen Reißverschlussfach ihrer Handtasche.

      Mit einem stummen, entschlossenen Nicken packte sie den Einkaufswagen mit beiden Händen, schwenkte ihn vorsichtig um hundertachtzig Grad und machte sich auf den Weg zum Hauptausgang. Soweit sie sich erinnerte, befanden sich dort in einer Nische neben jener großen Drehtür ein paar Telefonsäulen an der Wand.

      Beth war bei Tom, als Noreens besorgter Anruf vom Supermarkt kam.

      In gewisser Weise war der Anlass der Unterbrechung eine große Erleichterung. Schon seit über einer Stunde hatten die beiden trübsinnig über ihren teilweise geleerten Kaffeebechern und teilweise verzehrten Keksen gehockt. Endlos hatten sie Toms unerklärliches Erlebnis im Zug in allen Einzelheiten auseinandergenommen und erörtert, in dem verzweifelten Bemühen, sich einen Reim auf diesen Wachalbtraum zu machen, der doch anscheinend keinerlei Sinn hatte und der zutiefst und nachhaltig erschreckend war.

      Beth fand Toms bedrohliche Zeitlupenkatastrophe tief beunruhigend; teilweise natürlich wegen der möglichen körperlichen Gewalt, die ihrem Freund in der Zukunft drohen könnte. Zugleich aber war ihr sehr deutlich bewusst, dass jenes Erlebnis im Zug Wasser auf die Mühle von Toms Furcht vor seiner eigenen Hilflosigkeit angesichts von Gewalt war, die ihm ohnehin schon immer sehr zu schaffen gemacht hatte. Gab es irgendetwas, was er und Beth praktisch tun konnten, irgendetwas, was wirklich helfen konnte?

      »Angenommen, das war alles von irgendjemandem geplant«, hatte Tom gerade gesagt, bevor das Telefon klingelte. »Das macht die Sache doch nur noch merkwürdiger, findest du nicht? Ich meine, lieber Himmel, was habe ich denn an mir, was habe ich getan oder was könnte ich tun, das diesen ganzen Aufwand rechtfertigen könnte? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Es ist Wahnsinn! Absoluter Wahnsinn!«

      Nachdem sie das Telefon zum Schweigen gebracht hatte, indem sie den Hörer von der Gabel an der Wand nahm, hörte Beth drei oder vier Minuten lang der Person am anderen Ende der Leitung zu. Ihr Beitrag zu dem Gespräch bestand nur aus einem gelegentlichen mitfühlend zustimmenden Gemurmel.

      »Ja, Noreen«, sagte sie schließlich entschieden. »Natürlich kommen wir – sofort, nachdem ich aufgelegt habe, versprochen. Bis gleich.«

      Tom hörte auf, sich mit den Händen das Gesicht zu reiben, und blickte fragend auf.

      »Noreen«, sagte Beth. »Lances Mutter. Der arme alte Lance ist wieder mal dabei, in einem seiner schwarzen Löcher zu verschwinden. Ob wir mal nach ihm sehen können?«

      Tom stand auf, klopfte sich auf die Taschen und sah sich in der Küche nach dem Autoschlüssel um. Er fand ihn in einer kleinen Metallpyramide hinter dem Becher, der vor ihm auf dem Tisch stand. Er griff nach dem Schlüsselbund und klingelte laut damit. Punkt.

      »Okay – gehen wir.«

      Beth atmete erleichtert auf. Sie war froh, dass der Kreislauf durchbrochen war, wenigstens für eine kleine Weile.

      Auf der Außenseite der gelb lackierten Zimmertür neben dem Badezimmer der Wilsons hing ein eigens angefertigtes Metallschild, das Lance am vorletzten Weihnachtsfest mit gebührendem Zeremoniell von seinem Freund Olly überreicht bekommen hatte. Darauf stand in leuchtend roten Großbuchstaben, erhaben auf hellblauem Hintergrund:

      ACHTUNG! LANZENWUNDEN HEILEN SELTEN SIE WURDEN GEWARNT

      Dieses exzentrische, alberne Geschenk war ein kleines Symptom dessen, was Olly selbst vielleicht seinen krankhaften Sinn für Ironie genannt hätte. Seine typisch beharrliche und theoretisch humorvolle Marotte baute auf der Vorstellung auf, Lance sei sanftmütig und zurückhaltend, bis man ihn reizte. Dann aber verwandelte er sich in eine Art Neandertaler im Quadrat, vor dem starke Männer entsetzt die Flucht ergriffen, wenn ihnen ihr Leben lieb war. Lance, der sich wirklich und wahrhaftig nicht an den geringfügigsten Anlass erinnern konnte, bei dem er je auch nur einen Anflug von Aggression gegenüber irgendjemandem empfunden oder gar gezeigt hätte, nicht einmal in den angespanntesten Situationen, war (natürlich) über diese freundschaftliche Frotzelei nie beleidigt gewesen. Im Gegenteil, er fand es sehr lustig, ja sogar schmeichelhaft, auch wenn er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, warum. So war Olly nun einmal.

      Manchmal


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