Ketzer. Gerd Ludemann

Ketzer - Gerd Ludemann


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Kirche und des sich neu formierenden jüdischen Synagogenverbandes.

      Durch die Zerstörung Jerusalems hatten auch die jungen heidenchristlichen Kirchen ihren durch Jesus und die Jerusalemer Gemeinde (!) gesetzen Mittelpunkt verloren; ein neuer etablierte sich mit der römischen Gemeinde, die unter Berufung auf Petrus und Paulus (1Clem 5) bald einen Führungsanspruch erhob und ihn innerhalb eines Jahrhunderts auch durchsetzte.

      Erst in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s entdeckten einzelne Heidenchristen das Heilige Land wieder neu (Bischof Melito von Sardes besuchte um 160 n. Chr. Jerusalem [vgl. Euseb, KG IV 26,14])12, aber da war es für eine Rehabilitierung der Jerusalemer Christen schon zu spät; sie waren zu ebionitischen Ketzern geworden. Auch im Verhältnis zu ihren jüdischen Brüdern ging es ihnen nicht besser. Wenn sie beispielsweise am Synagogengottesdienst teilnehmen wollten, mussten sie fürchten, dass man bei der Rezitation des Achtzehnbittengebetes den Spruch gegen die Häretiker auf sie beziehen würde.13

       Teil I: Das Jerusalemer Judenchristentum vor dem Jüdischen Krieg

      Ich zeichne im Folgenden die dramatische Vorgeschichte des Jüdischen Kriegs nach.14 Das Auftreten Jesu hatte durch seine Kreuzigung ein Ende gefunden. Die Motive für die Hinrichtung durch den Römer Pilatus lagen darin, dass er Jesus für einen politischen Aufrührer hielt, den es kaltzustellen galt. Die Kreuzesinschrift »Der König der Juden«. (Mk 15,26) zeigt, wie Jesu Wirken als politisches verstanden werden konnte.

      Und doch bedurfte es für die Überstellung Jesu durch die jüdische Behörde an die Römer eines besonderen Grundes. Dieser dürfte in Jesu Haltung zum Tempel zu finden sein.15 In den ntl. synoptischen Evangelien steht der Auftritt Jesu im Tempel (Mk 11,15 – 19 parr) in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner späteren Hinrichtung. Wohl ist nicht ohne weiteres klar, was Jesus mit der Aktion – ihre Historizität vorausgesetzt – bewirken wollte.

      a) War sie als Tempelreinigung gedacht? Aber wer wird das Vertreiben der Händler und Verkäufer und das Umstoßen der Tische der Geldwechsler und Taubenhändler so auffassen können?

      b) War sie als Tempelreform zu deuten? Aber dazu passt nicht, dass sie gar nicht den ganzen Tempel, sondern nur einen kleinen Bezirk betraf.

      c) Jesu Aktion im Tempel dürfte eher eine symbolische Handlung sein, die auf etwas anderes hindeutet (vgl. die Zeichenhandlungen der atl. Propheten.16 Jesus versuchte, zeichenhaft den Tempelkult aufzuheben. »Diese Aufhebung aber geschah nicht, um den Tempelkult zu reformieren oder seine (weitere) Profanisierung zu stoppen, sondern um einem ganz neuen Tempel, dem eschatologischen und damit von Gott erwarteten, Platz zu machen.«17

      Voraussetzung dieses Verständnisses ist zweierlei: 1) Jesus hat in wörtlichem Sinn das Umstürzen (Mk 11,15) verstanden, das auf den ganzen Tempel zielte; 2) er hat damit die Hoffnung auf einen neuen Tempel verbunden, wie sie sich im Judentum in verschiedenen Ausprägungen findet (Jes 60,13; Mi 4,1 – 2; Hag 2,6 – 9; Tob 14,7; 1Hen 90,28 f).

      Ein weiterer Reflex der Tempelkritik Jesu findet sich im Bericht über seinen Prozess. Vgl. Mk 14,58: »Wir haben gehört, dass er gesagt hat: ›Ich will diesen Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen anderen bauen, der nicht mit Händen gemacht ist‹.« Die jesuanische Herkunft dieses Tempellogions ist sehr wahrscheinlich, umso mehr, als Mk 14,57 es ausdrücklich als Falschzeugnis darstellt (vgl. Apg. 6,14, wohin es – zur Entschärfung? – vom Vf. der Apg transportiert worden ist) und damit der Radikalität der Verkündung Jesu an dieser Stelle die Spitze abbricht. Des weiteren war die jesuanische Erwartung des himmlischen Tempels auch insofern gut verstehbar, als die Jerusalemer Urgemeinde sich mit dem Tempel identifizierte. Ihre Mitglieder hielten sich stets zum jüdischen Heiligtum (Apg 2,46; 3,1 ff; 21,26) und erwarteten hier in Einklang mit Jesus das Ende der Zeiten.

      Als Analogie zum Tempelwort Jesu und der Reaktion der jüdischen und römischen Behörden sei auf das Beispiel von Jesus, Sohn des Ananus verwiesen. Über ihn schreibt der jüdische Historiker Josephus in einem bisher nicht ausreichend gewürdigten Bericht18:

      »Vier Jahre vor dem Krieg, als die Stadt noch im höchsten Maße Frieden und Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lande zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott eine Hütte bauen, in das Heiligtum und begann unvermittelt zu rufen:

      ›Eine Stimme vom Aufgang,

      eine Stimme vom Niedergang,

      eine Stimme von den vier Winden,

      eine Stimme über Jerusalem und den Tempel,

      eine Stimme über Bräutigam und Braut,

      eine Stimme über das ganze Volk!‹ (vgl. Jer 7,34; 16,9)

      So ging er in allen Gassen umher und schrie Tag und Nacht. Einige angesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von sich, weder zu seiner Verteidigung noch eigens gegen die, die ihn schlugen, sondern stieß beharrlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe, und führten ihn zum Statthalter, den die Römer damals eingesetzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag: ›Wehe dir, Jerusalem!‹

      Als aber Albinus – denn das war der Statthalter – fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das Geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen und ließ nicht ab, bis Albinus urteilte, dass er wahnsinnig sei, und ihn laufen ließ.

      In der Zeit bis zum Kriege aber näherte er sich keinem der Bürger, noch sah man ihn mit jemandem sprechen, sondern Tag für Tag rief er, als ob er ein Gebet eingelernt hätte, seine Klage: ›Wehe, wehe dir, Jerusalem!‹

      Er aber fluchte keinem von denen, die ihn schlugen, obwohl es täglich vorkam, noch segnete er die, die ihm Nahrung gaben, – eine einzige Antwort nur hatte er für alle, jenes unselige Rufen.

      Am meisten aber schrie er an den Festtagen, und das tat er sieben Jahre und fünf Monate lang ohne Unterbrechung – seine Stimme stumpfte nicht ab, noch wurde er müde, bis er zur Zeit der Belagerung zur Ruhe kam, als er seinen Ruf zur Tat werden sah. Denn als er auf seinem Rundgang von der Mauer herab gellend rief: »und noch einmal wehe der Stadt und dem Volk und dem Tempel!‹, da setzte er zum Schluss hinzu: ›und wehe auch mir!‹, denn ein Stein schnellte aus der Wurfmaschine und traf ihn, so dass er auf der Stelle tot war und, noch jene Weherufe auf den Lippen, seinen Geist aufgab«. (Bell VI 300 – 309).19

      Zurück zu Jesus von Nazareth: Seine männliche Jüngerschar, die von Galiläa mit ihm nach Jerusalem zum Passahfest gezogen war, hatte ihn vor bzw. bei der Festnahme fluchtartig verlassen, nach anfänglichem Zögern auch Simon Petrus, der unter den Jüngern Jesu eine Vorrangstellung innehatte. Freundinnen Jesu, die ebenfalls mit ihm von Galiläa nach Jerusalem zum Passahfest gereist waren, hielten dagegen länger bei ihrem Meister aus. Doch konnten auch sie sein Schicksal nicht wenden. Zu ihnen gehörte mit Sicherheit Maria aus dem galiläischen Fischerort Magdala, die von Jesus von einer schweren Krankheit geheilt worden war (Lk 8,2).

      Endete der Karfreitag also wie ein großes Rätsel und war damit scheinbar alles zu Ende, so brach nicht lange nach dem Tod Jesu am Kreuz und der Flucht der Jünger nach Galiläa unverhofft ein neuer Frühling an. Wann genau sich das abgespielt hat, werden wir nie wissen. Aber nicht lange nach dem Todesfreitag sah Petrus in einer Vision Jesus lebendig, und dieses Geschehen führte zu einer Kettenreaktion.20 Hatte Petrus Jesus gesehen und gehört, so war damit der Inhalt der Visionen und Auditionen der anderen vorgegeben. Die Kunde verbreitete sich blitzartig, dass Gott Jesus nicht im Tod gelassen, ja, ihn zu sich erhöht hatte und dass dieser demnächst als Menschensohn auf den Wolken des Himmels wiederkommen werde.

      Damit war eine neue Lage geschaffen, und die Jesusbewegung erlebte einen schwungvollen Neuanfang. Jetzt konnten Jesu Freunde noch einmal nach Jerusalem gehen und dort anknüpfen, wo ihr Meister das Werk unvollendet gelassen hatte, und das Volk sowie seine Oberen


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