Ketzer. Gerd Ludemann
gesammelt worden, damit diese »den traditionellen Status der Gruppe der ›Gottesfürchtigen‹ einnehmen können.«54 Da Primärquellen für die Sicht der Jerusalemer Gemeinde nicht vorhanden sind, bleiben das alles nur Vermutungen.
Eines scheint freilich sicher zu sein: Die Jerusalemer Verhandlungspartner und Paulus haben die Kollekte verschieden aufgefasst55, oder, vorsichtiger gesagt, die Vereinbarung erlaubte ihnen, die Kollekte unterschiedlich zu interpretieren. Dabei hat die Jerusalemer Gemeinde mit großer Wahrscheinlichkeit Rechtsforderungen aus der »Vereinbarung« abgeleitet56, Paulus aber den rechtlichen Charakter der ständigen Unterstützung z. T. verschleiert. Man vgl. Röm 15,25f: »Jetzt aber fahre ich hin nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen. Denn die in Makedonien und Achaia haben freiwillig eine gemeinsame Gabe zusammengelegt für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem.« Doch an anderen Stellen kommt zum Ausdruck, dass »Arme«57 ebenso wie »Auserwählte«. (Röm 8,33; Kol 3,12) und »Heilige« Ehrennamen der Jerusalemer Gemeinde waren.58. Es bleibt auffällig, wie viele verschiedene Ausdrücke Paulus für die Kollekte benutzt: logeia, charis, koinonia, eulogia. Dies zeigt die Dehnbarkeit der gemeinten Sache an.
Jedenfalls blieben zwischen Paulus und den Leitern der Jerusalemer Gemeinde, denen er eine Einigung abringen konnte, auch während der Konferenz erhebliche Spannungen bestehen. Gleichzeitig gehörten die »falschen Brüder« trotz des Konkordats mit dem Heidenapostel natürlich weiterhin der Gemeinde in Jerusalem an und werden die Vereinbarung nach Kräften bekämpft haben. Ihre offene Feindschaft gegen Paulus ist jedenfalls als maßgeblicher Faktor auf dem Konzil und in der Folgezeit vorauszusetzen, in der die Jerusalemer Kirche unter der Führung des Jakobus aktiv in die paulinischen Gemeinden eingriff.
Falls diese Überlegungen von der historischen Wahrheit nicht allzu weit entfernt sind, sollte man auch annehmen dürfen, dass die »falschen Brüder« trotz der Niederlage in der Beschneidungsfrage von indirektem Einfluss auf die Einzelheiten des Verhandlungsergebnisses gewesen sind. Diese Annahme wird bestätigt durch eine genaue Betrachtung der einen rechtlichen Charakter aufweisenden Einigungsformel Gal 2,9: »Wir zu den Heiden, sie … zu den Juden.«
Das Missionsfeld wird aufgeteilt. Die Heidenmission ist fortan Aufgabe des Paulus und des Barnabas, die Judenmission die der Jerusalemer Jakobus, Kephas, Johannes. Die Wendungen »zu den Heiden« bzw. »zu den Juden« lassen vom Wortlaut her nur ein exklusives Verständnis der in ihnen ins Auge gefassten Bezugsgruppen zu. Daraus ist dann zu entnehmen, dass jeweils nur Heiden bzw. ausschließlich Juden Zielgruppen der Mission sind. Das hat dann aber auch zur Konsequenz: Der Einigungsvertrag der Apostel war zugleich ein Scheidungsvertrag der beiderseitigen Kirchen, der gesetzestreuen und der gesetzesfreien.
Die obige Einigungsformel sicherte zwar Paulus das uneingeschränkte Recht der Heidenmission zu. Aber gleichzeitig konnte sie auch dazu benutzt werden, um eine Mission an Heiden und Juden rückgängig zu machen. Die Regelung schloss daher nicht aus, dass in Zukunft Juden, die gesetzeslos in einer heidenchristlichen Gemeinde lebten, auf das Halten des jüdischen Gesetzes verpflichtet werden konnten. Wir beobachten hier den Vorgang, dass ein zu starker Wille zur Einigung, die fast um jeden Preis geschieht und daher eigentlich nichts taugt, die entgegengesetzten Kräfte, die den Konflikt erst ausgelöst haben, wieder neu belebt.
Dafür liefert ein weiterer Vorgang, von dem wir einen Augenzeugenbericht besitzen, reichhaltiges Anschauungsmaterial.59
In der neugegründeten Gemeinde Antiochiens hielten geborene Juden(christen) mit Heiden(christen) regelmäßig Tischgemeinschaft. Daran hatte Paulus, als er in Antiochien anwesend war, teilgenommen, und ebenso Petrus. Als »einige von Jakobus«, d. h. von ihm abgesandte Boten, in Antiochien ankamen, änderte sich das schlagartig. Petrus, Barnabas und die anderen anwesenden Juden(christen) ziehen sich aus Furcht vor den »Beschneidungsleuten« zurück und erregen damit den Zorn des Paulus, nach dessen Meinung Petrus damit die alleingelassenen Heiden(christen) zwinge, sich beschneiden zu lassen, um die Tischgemeinschaft zwischen Juden(christen) und Heiden(christen) wiederherzustellen. Ja, Paulus spitzt die Situation noch dadurch zu, dass er sagt, Petrus habe vorher heidnisch gelebt (Gal 2,14).
Wie »heidnisch« hatten die dort anwesenden Gemeindeglieder wirklich gelebt? War etwa Schweine-, Esel- oder Hasenbraten auf den Tisch gekommen?60 Trank man gar heidnischen Wein, der den Göttern geweiht worden war? Ging es um Speisen, für die man nicht den Zehnten abgeliefert hatte?61 Oder hatte man Fleisch gegessen, das ursprünglich den Göttern geopfert worden war? Diese Fragen stellen heißt einerseits, vor Augen zu führen, wie wenig wir über den Zwischenfall in Antiochien eigentlich wissen. Andererseits ist aus 1Kor 8 – 10 bekannt, wie Paulus sich zum Götzenopferfleisch verhielt. Im allgemeinen hatte er keine Bedenken, es zu essen (1Kor 10,25 – 27). Falls aber jemand auf die Herkunft des Fleisches hinweisen würde, gab er den Rat, auf dessen Verzehr zu verzichten – dies um der Gemeindeglieder willen, die schwach im Glauben waren (1Kor 10,28 f). Hatte also Paulus für seine eigene Person eine große Freiheit gegenüber Götzenopferfleisch, so traf das für Barnabas und die übrigen Judenchristen nicht zu, andernfalls hätten sie sich nicht so schnell in Antiochien zurückgezogen.
Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass die oben genannten extremen Möglichkeiten zutrafen. Vielmehr wird ein Mindestmaß an Thora eingehalten worden sein; nur Jakobus selbst drang auf eine strikte Einhaltung und hatte dafür gute Gründe, weil nämlich die Judenchristen in Jerusalem nicht noch mehr kompromittiert werden sollten. M. a. W., auch hier findet er eine Trennung besser – ebenso wie beim Jerusalemer Konzil.62
Paulus sah im Verhalten des Petrus ein falsches Verständnis der Gerechtigkeit vor Gott, in der er mit ihm doch einig gewesen war (Gal 2,15 - 16), übertreibt dann aber, wie erwähnt, mit seiner Bemerkung, Petrus habe vorher heidnisch gelebt (Gal 2,14). Indes stellte sich sofort die allgemeine Frage, wieviel Wert das Gesetz für die junge Kirche überhaupt noch haben sollte. Immerhin war der vorher und später erhobene Vorwurf gegen Paulus nicht von der Hand zu weisen, dass er mit solcher Schwarz-weiß-Malerei, die in einem Entweder-Oder gipfelte, dem jüdischen Gesetz den entscheidenden Stoß versetzt hatte, auch wenn er das Gegenteil behauptete.
Die geschichtliche Entwicklung (Fortsetzung):
Vom Apostelkonzil bis zur Ablehnung der paulinischen Kollekte und der Hinrichtung des Jakobus
In der Zeit zwischen dem Konzilsbesuch und der letzten Jerusalemreise des Paulus nahm die dortige Gemeinde unter der Führung des Jakobus zunehmend eine paulusfeindliche Haltung ein, ja, sie stilisierte Paulus förmlich zum Ketzer. Das findet eine Reaktion in der zunehmenden Bitterkeit des Paulus gegenüber Jerusalemer Sendlingen. Er hatte die Judaisten in Galatien konditional verflucht (Gal 1,6 ff) und sich ähnlich zu den Eindringlingen Jerusalemer Provenienz in Philippi geäußert (Phil 3,2 ff). (Im nächsten Kapitel werden wir die Geschichte dieser Paulusfeindschaft weiter verfolgen.) Der Bericht der Apostelgeschichte (Kap. 21) bestätigt die Paulusgegnerschaft der Jerusalemer Gemeinde weiter.
Paulus bemühte sich zwischen dem zweiten und dritten Jerusalembesuch, der Zusatzformel des Jerusalemer Konkordats zu genügen und in seinen Gemeinden eine Kollekte zugunsten der Armen in Jerusalem einzusammeln. Den ursprünglich gefassten Plan, Abgesandte mit dieser Kollekte nach Jerusalem zu schicken (vgl. 1Kor 16,3: »Wenn ich also [sc. zu euch nach Korinth] gekommen bin, will ich die, die ihr für bewährt haltet, mit Briefen senden, damit sie eure Gabe nach Jerusalem bringen«), ließ er fallen und plante, die Kollekte selbst nach Jerusalem zu bringen (Röm 15,25: »Jetzt aber fahre ich hin nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen«), – das hatte er freilich bereits vorher als Möglichkeit erwogen (1Kor 16,4: »Wenn es aber die Mühe lohnt, dass ich auch [nach Jerusalem] hinreise, sollen sie [sc. die Abgesandten der Gemeinde] mit mir reisen«). Diese Änderung in der (seit 2Kor 9,4 absehbaren) Strategie lässt sich wohl nur so erklären, dass Paulus der judenchristlichen Gegnerschaft vor Ort entgegentreten wollte.
Die Kollekte kristallisierte sich förmlich zu einem Symbol der Einheit der Kirche aus Heiden- und Judenchristen, an dessen Ausgang sich ihre Zukunft entscheiden würde. An der Gemeinschaft von Heidenchristen und Judenchristen war Paulus alles gelegen. Gerade deswegen musste er entsprechend dem vor wenigen Jahren geschlossenen Vertrag die vereinbarte Kollektengabe nach Jerusalem bringen und gleichzeitig den in seinen Gemeinden durch Jerusalemer Sendlinge verursachten Streit schlichten. Das sind keine »unhaltbaren Behauptungen«, wie der