Ketzer. Gerd Ludemann
Pseudoklementinen sind in ihrer jüngsten Fassung (4. Jh.) ein Wiedererkennungsroman, angeblich verfasst von Klemens von Rom, der in ihm von dem Verlust seiner Familie und ihrer glücklichen Zusammenführung berichtet. In sie wurden verschiedene Quellenschriften eingelegt, deren älteste Schichten aus dem 2. Jh. stammen. Sie enthalten heftige Polemik gegen Paulus, die z. T. pamphlethaft wirkt, und es »spitzt sich alles auf eine krasse Bestreitung der Legitimität seines Apostolats zu.«96 In einer Disputation in Laodicea, deren Tradition ins 2. Jh. weist, führt Petrus in einer für jerusalemische Paulusgegner typischen Art ein für allemal aus, dass Paulus den Auferstandenen auf keinen Fall gesehen haben könne. Die Begründung dafür ist ebenso einfach wie einleuchtend: Nur die Augenzeugen des geschichtlichen Jesus kommen für die Erwählung zum Apostelamt in Frage. Man vgl. Apg 1,21 f.
Demgegenüber hätten die Schauungen des Herrn, die Paulus 2Kor 12,1 zufolge empfangen habe, keine Geltung, und nicht nur dies, sie seien vielmehr Offenbarungen eines bösen Dämons oder Lügengeistes. Allein der persönliche Umgang mit dem geschichtlichen Jesus und die Belehrung durch ihn gäben Gewissheit, die Vision dagegen, die auch von einem Teufelsgeist herrühren könne, lasse in Ungewissheit. Zwar lögen von Gott gesandte Visionen nicht. »Ungewiss aber ist, ob der Sehende einen gottgesandten Traum gesehen hat«. (Hom XVII 15,2).
Im Anschluss führt Petrus eine Reihe biblischer Visionen bzw. Träume auf (XVII 17,1 – 4), um sofort zu betonen, dass der Fromme dieses Umgangs gar nicht bedürfe.
»Denn dem Frommen quillt das Wahre im Verstand, der angeboren und rein ist, hervor – nicht im Traum erstrebt, sondern dem Guten durch Einsicht gegeben. Denn so ist auch mir der Sohn vom Vater offenbart worden. Daher weiß ich, was das Wesen der Offenbarung ist, da ich es an mir selbst erfahren habe. Denn zugleich, als der Herr sagte, wie man ihn nenne, und da ich hörte, dass ihn jeder anders nannte, stieg es in meinem Herzen auf; und ich sprach, ich weiß wahrlich nicht, wie ich dazu kam: ›Du bist der Sohn des lebendigen Gottes‹ (Mt 16,16). Nachdem er mich aber seliggepriesen hatte, verriet er mir, dass es der Vater sei, der mir das offenbart habe, ich aber weiß seither, dass Offenbarung Wissen ist ohne Belehrung, ohne Erscheinung und Träume«. (Hom XVII 17,5 – 18,2).
Die daraus gezogene polemische Nutzanwendung an die Adresse des Paulus lautet dann:
»Wenn dir wirklich auch unser Jesus in einer Vision erschienen ist und sich dir bekanntgemacht hat, dann ist er mit dir zürnend wie mit einem Widersacher zusammengekommen; deshalb sprach er durch Visionen und Träume oder auch durch Offenbarungen, die von außen sind. Ob aber jemand aufgrund einer Erscheinung zur Lehre befähigt werden kann? Und wenn du sagst: ›Es ist möglich‹– weshalb blieb und verkehrte dann der Lehrer ein ganzes Jahr mit denen, die wach waren? Wie können wir dir aber auch glauben, selbst wenn du sagst, dass er dir erschienen ist? Wie kann er dir aber auch erschienen sein, wenn du das denkst, was seiner Lehre widerspricht? Wenn du aber von jenem eine Stunde lang besucht und unterwiesen und daraufhin Apostel geworden bist, dann verkündige seine Worte, lege seine Lehre aus, liebe seine Apostel, kämpfe nicht mit mir, seinem Jünger; denn mir, gegen den festen Fels, der ich bin, den Grundstein der Kirche, bist du feindlich entgegengetreten. Wenn du kein Widersacher wärst, würdest du mich nicht schmähen, indem du die Verkündigung von mir verleumdest, damit man mir nicht glaubt, wenn ich sage, was ich vom Herrn als Ohrenzeuge gehört habe, so als sei ich unstreitig verurteilt worden und du von gutem Ruf. Wenn du mich aber ›verurteilt‹ nennst (Gal 2,11), beschuldigst du Gott, der mir den Christus offenbart hat, und setzt den herab, der mich aufgrund der Offenbarung seliggepriesen hat. Wenn du aber doch wahrhaftig die Wahrheit fördern willst, dann lerne zuerst von uns, was wir von jenem gelernt haben, und wenn du ein Jünger der Wahrheit geworden bist, dann werde unser Mitarbeiter«. (Hom XVII 19,1 – 7).
Diese Rede des Petrus ist sensationell. Sie wirkt echt und erweckt den Eindruck, die wichtigsten Argumente der judenchristlichen Widersacher gegen Paulus zu enthalten. Formal hat sie eine Entsprechung in der Gal 2,11 ff aufbewahrten Rede des Paulus an die Adresse des Petrus in Antiochien und ist von dem bitteren Beigeschmack durchdrungen, den diese bei Petrus hinterlassen hat. Auf derselben Ebene an einer anderen Stelle der Pseudoklementinen liegt die Bemerkung des Petrus, dass Paulus von dem Vorfall in Antiochien eine falsche Darstellung gegeben habe. So heißt es im dortigen Brief des Petrus an Jakobus, der den Homilien vorangestellt ist:
»Denn einige derer, die von den Heiden sind, haben die durch mich verkündigte gesetzliche Predigt verworfen und sich einer ungesetzlichen und albernen Lehre des feindlichen Menschen (= Paulus, Vf.) angeschlossen. Und noch dazu haben einige, obwohl ich noch lebe, versucht, mit manch schillernden Deutungen meine Worte zu entstellen in Richtung auf eine Auflösung des Gesetzes, als ob auch ich selbst so dächte, es aber nicht freimütig predigte. Das sei fern!«. (2,3 f).
Andererseits – trotz der scheinbaren Echtheit des Stils der petrinischen Rede – stammt diese bzw. die in ihr überlieferte Tradition frühestens aus dem 2. Jh. und kann nicht direkt auf die antipaulinischen Widersacher zurückgeführt werden. Das scheidet auch deswegen aus, weil der historische Petrus in einer relativen Nähe zu Paulus stand und die eigentliche Opposition auf die Kreise um Jakobus bzw. diesen selbst zurückgehen. Trotzdem dürfte die Annahme berechtigt sein, dass in den Pseudoklementinen die »alten Argumente der Jerusalemer Judenchristen gegen Paulus benutzt und konserviert worden sind.«97
Der kompromisslose Widerstand der Judenchristen gegen Paulus entzündete sich dort, wo er seine Damaskusvision dazu gebrauchte, a) seine Ebenbürtigkeit mit den Jerusalemer Aposteln zu erweisen und b) daraus die Rechtfertigung zu einer »gesetzeslosen« Predigt unter den Heiden abzuleiten. Das konnten jene, die mit Jesus persönlichen Umgang hatten, niemals zulassen.
Paulus galt unter diesen Judenchristen sogar als der »feindliche Mensch«. In dem oben angeführten Brief des Petrus an Jakobus prangern sie sein Falschevangelium an und verabscheuen seine ungesetzliche Lehre. Petrus und Jakobus vertreten demgegenüber die »gesetzliche« Verkündigung, die sich an Juden aber auch an Heiden richtet. Von dem Ketzer Paulus sei ein Evangelium gekommen. Dann sei nach der Zerstörung Jerusalems »ein wahres Evangelium heimlich ausgesandt worden, um die kommenden Ketzereien zu korrigieren«. (Hom II 17,4). Offenbar haben dabei die judenchristlichen Lehrer, die hinter dieser Tradition stehen, an die Stelle der Beschneidung die Taufe als Initiationsakt gesetzt. Waren sie sich etwa nicht bewusst, dass sie nun ebenso wie ihr Feind Paulus Heidenmission trieben und dabei in gleicher Weise auf die Beschneidungsforderung verzichteten? Merkten sie nicht, dass sie Paulus ein Stückweit entgegengekommen waren, ohne es zu wollen? Aber jetzt war es für eine wirkliche Annäherung zwischen diesen Judenchristen und Paulus schon zu spät.
Zusätzlich ist es eine Ironie des Schicksals, dass die Jerusalemer Judenchristen bzw. ihre Nachfahren zu einem Zeitpunkt weiter heftig gegen Paulus polemisieren, als dessen Person und Wirken in der katholischen Kirche bereits im Vormarsch war. Walter Bauer hat die Ironie in dem sich über eineinhalb Jahrhunderte abspielenden Prozess mit folgenden Worten beschrieben:
»So ist also, wenn man sich etwas zugespitzt ausdrücken darf, der Apostel Paulus das einzige Ketzerhaupt gewesen, das die apostolische Zeit kennt, der einzige, der in ihr – wenigstens von gewisser Seite her – so beurteilt worden ist. Wenn man so will, haben die Judenchristen in ihrem Gegensatz zu Paulus den Begriff Ketzerei in die christliche Betrachtungsweise eingeführt. Der Pfeil ist schnell auf den Schützen zurückgeflogen.«98
Diesem ältesten christlichen »Ketzer« wenden wir uns in dem nun folgenden Kapitel zu.
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