Malefizkrott. Christine Lehmann
folgte ihr.«
»Hehe!«
»Damals fand ich es ziemlich kompliziert, junge Frauen anzusprechen. Ich hatte zwei Kilometer Zeit, alle Varianten durchzuspielen. Dann betrat sie in der Philosophenstraße am Nordring ein Studentenwohnheim. Ihr dort hinein zu folgen wagte ich nicht. In den sechziger Jahren, zumindest in denen, aus denen ich kam, siezten Studenten sich noch. Und man stellte sich förmlich vor.«
Ich lachte. »Du warst total verknallt! Wie hübsch!«
»Ich wartete auf ihren Anruf bei meiner Zimmerwirtin, aber er kam nicht. In den folgenden Tagen führte mich mein Weg immer wieder durch die Philosophenstraße. Einmal sah ich sie herauskommen, einmal kam sie gerade zurück, ohne dass ich fähig war, sie anzusprechen. Aber ich hörte, wie eine Freundin sie Marie rief!«
»Das ist ja Literatur, Richard.«
»Ja, sie war die Marie von Goethe bis Böll, die Marie, an die wir uns verlieren, die wir anbeten, die wir nicht kennen, nicht verstehen, von der wir meinen, dass sie uns gehören müsste, die uns verlässt. Meine Marie war schlank, brünett, sie trug Kostüme und Röcke, sie hatte mandelförmige Augen. Ich sah sie und fühlte mich ihr vertraut, als kennten wir uns schon seit der Kindheit. Natürlich war sie für mich unerreichbar. Dennoch folgte ich ihr in Seminare. Sie studierte Anglistik und Geschichte, und die Professoren kannten sie mit Namen: Marie Küfer.«
»Dann stammte Schloss und Fabrik aus ihrem Elternhaus.«
»Mag sein. Ich habe sie nicht gefragt.«
»Aber geredet habt ihr schon miteinander?«
Richard lächelte schief. »Eines Tages setzte sie sich in der Kantine zu mir an den Tisch. Rein zufällig, es waren zwei Plätze frei. Bei ihr war ihr Freund. Sie nannte ihn Wolfi. Ich kannte ihn bereits. Er verwickelte die Professoren gern in endlose Diskussionen über die herrschenden Verhältnisse und die Generation der Täter. Er gehörte dem SDS an, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund.«
»Dutschke und Konsorten?«
Richard nickte. »Es lag in der Natur der Sache, dass Wolfi mir nicht sonderlich gefiel. Und ich war absolut überzeugt, dass der nicht der Richtige für Marie sei. Ich hielt ihn für einen selbstverliebten, rücksichtslosen Egozentriker.«
»Darin stimme ich dir vollinhaltlich zu!«
Richard versuchte eine Grimasse ironischer Ergebenheit, aber sie misslang ihm. »Wolfi war ein Grobian, intelligent, aber ungehobelt, und sie hatte so eine Art vornehmer Zurückhaltung, nichts Kumpelhaftes jedenfalls. Und plötzlich saßen die beiden nun an meinem Tisch in der Mensa. Ich weiß nicht mehr, wie wir ins Gespräch kamen – sicherlich nicht mein Verdienst –, aber plötzlich diskutierte ich mit Wolfi über den Spruch ›Sous les pavés, la plage‹.«
»Unterm Pflaster der Strand. Gab es da nicht eine Zeitung?«
»Der PflasterStrand, ja, herausgegeben von Cohn-Bendit, aber das war ungefähr zehn Jahre später. Ich interpretierte den Spruch als Aufforderung zur Gewalt, die er war, und verstieg mich zu der Behauptung, auch Polizisten seien Menschen. Daraufhin meierte Wolf mich als unmündig gehaltenes Subjekt der Gesellschaft ab, blind für die Ökonomisierung der Bildung in Abhängigkeit von den Produktionsverhältnissen. Und so weiter. Doch, prophezeite er, die Geschichte werde letztlich auch meine abgeschlossene Welt verändern. Ich fragte: ›Wie, mit Bomben?‹ – ›Mit Mao-Cocktails‹, antwortete er.«
Richard sah mir an, dass ich entschlossen war, meine Ahnungslosigkeit hinter dem Fluch der späten Geburt zu verstecken.
»Eine Anspielung auf den Aufreger des Jahres 1967. Der amerikanische Vizepräsident sollte nach Deutschland kommen. In der Kommune 1 heckte man geeignete Maßnahmen zum Empfang aus. Man dachte an Rauchbomben, aber es gab einige, die fürchteten, dass die US-Sicherheitskräfte dann ein Blutbad anrichten würden. Ein V-Mann unter den Kommunarden war vermutlich etwas zu früh gegangen. Jedenfalls wurden elf Studenten, unter ihnen Fritz Teufel, festgenommen, die Bild-Zeitung sprach von Bomben, hochexplosiven Chemikalien, mit Sprengstoff gefüllten Plastikbeuteln, die von den Terroristen Mao-Cocktails genannt würden. Aber es war dann halt nur Pudding.«
»Pudding?«
»Ja, das Zeug aus Milch und Maizena mit Vanille oder Schokolade. Die elf Puddingattentäter wurden unter öffentlichen Gelächter am anderen Tag wieder freigelassen und erlangten internationalen Ruhm. So kam es, dass Uwe Johnson … der Schriftsteller …«
Ich nickte. »Ist mir vage bekannt.«
»… der gerade in den USA lebte, in der New York Times las, dass diese ungezogenen jungen Leute sein Arbeitsatelier in Berlin-Friedenau als Basislager für den Anschlag missbraucht hatten. Johnson stand seit langem in regem freundschaftlichem Briefwechsel mit Günter Grass.«
»Kenne ich: Massenonanie auf einem Wrack.«
»Deshalb bat er ihn um Hilfe. Und Grass veranlasste, ausgestattet mit einer Vollmacht, die Räumung der Wohnung, die unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit stattfand.«
»Hähä, Grass der Rausschmeißer der Puddingschmeißer!«
»Er befand, die Wohnung hätte nach Lager ausgesehen, aber von Johnsons Schriften fehle nichts, nur ein Chemiebuch habe die Polizei beschlagnahmt.«
»Oha! Wozu brauchte Uwe Johnson ein Chemiebuch? Sehr verdächtig.«
Richard zündete sich die zweite Zigarette an. »So war das damals. Man schloss aus dem Bücherschrank auf das Wissen der Besitzer. Heute muss man dazu das Internetprotokoll nachvollziehen. Es war tatsächlich nicht so ohne, dass ich dieses Hybridbüchlein mit den Kommunardentexten besaß. Und da saß ich nun auch noch mit Wolfi an einem Tisch. Es war eine Zeit, in der die Gesellschaft Angst vor ihrer Jugend hatte …«
»Hat sie das nicht immer?«
»Aber damals autorisierte sie die Polizei, mit Schlagstöcken auf die Jugend einzuprügeln. Und Männer mit Hut sagten in die Fernsehkameras: ›Auf der Flucht erschießen!‹ Leute wie Wolfi machten Studenten wie mir, die einfach nur irgendwie durchkommen und Abschlüsse machen wollten, Angst. Er verkündete: ›Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch!‹ Ich widersprach vehement und nannte Wolfi einen selbstgerechten Egoisten! Daraufhin schlug er mir ohne weitere Umschweife die Faust ins Gesicht.«
»Hui!«
»Ich hagelte zwischen die Mensatische und blutete aus der Nase. Marie gab mir ihr Taschentuch, eines aus Stoff, wie man es damals hatte.« Richard drehte sich um und stippte die Zigarette im Aschenbecher aus.
Ich legte meine längst ausgekühlte Kippe dazu. »Und dann?«
»Immerhin nahm Marie mich jetzt wahr.« Er schaute auf die Uhr. »Ich glaube, wir sollten …«
»Und das Buch? Hast du sie gefragt …«
»Ehrlich gesagt, das Buch interessierte mich nur noch am Rande. Marie und meine vergeblichen Gefühle für sie nahmen mich voll in Anspruch.«
»Was ist aus ihr geworden?«
Richard zuckte mit den Achseln.
»Und aus Wolfi?«
Seine Antwort kam zögernd. »Ich habe mir später die RAF-Fahndungsplakate, die in Postämtern und öffentlichen Gebäuden hingen, stets angeschaut, ob ich Wolfi erkenne, aber … nein.«
»He! Willst du mich verarschen?« Ich gab ihm einen Stoß vor die Brust. Er stolperte rückwärts gegen den Tisch. Ich packte ihn vorsichtshalber am Revers seines maßgeschneiderten Anzugs, was unnötig war, mir aber gut gefiel.
Er umfasste mein Handgelenk. »Lisa, bitte!« Er hätte mir problemlos Sehnen und Knochen zerquetschen können, aber er war ein der Gewalt grundsätzlich abgeneigter Mann. »Nicht jetzt!«
Zwei Frauen hatten sich genähert, klappten die Schirme zusammen und