Geburtsort: Königsberg. Ursula Klein
lauter Aufregung schweißnassen Händen schützen. Onkel Fritz hielt eine wunderschöne Predigt unter der Losung „Herr, leite mich in deiner Gerechtigkeit um meiner Feinde willen; richte deinen Weg vor mir her“. (Psalm 5, Vers 9). Alle Konfirmanden fühlten sich von diesem Text angesprochen und jeder gelobte auch im Stillen, der Kirche und dem Glauben treu zu bleiben. Das Glaubensbekenntnis „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erden und an Jesus Christus, … “ kam Lisbeth aus ehrlichem Herzen und innerer Überzeugung über die Lippen.
Mutter nahm ihre Große nach der Einsegnung in die Arme. Tränen der Rührung schluckte sie herunter. „Meine Große“, sagte sie, „du bist schon immer meine Große gewesen. Manchmal warst du schon so vernünftig wie eine Erwachsene: hast deine Geschwister oft betreut und Verantwortung getragen, mir im Haushalt ohne Murren geholfen und trotzdem in der Schule gut gelernt. Viel Zeit zum Spielen ist dir nicht geblieben. Und doch warst du immer fröhlich und guter Dinge. Gehe deinen Weg weiter, wie du ihn begonnen hast. Der Herr wird dir auch in trüben Tagen Helfer und Beschützer sein.“
Am Nachmittag kamen einige Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen zum Kaffeetrinken. Es war eine fröhliche Runde. Die Kleinen durften danach auf dem Hof herumtollen und die üblichen Spiele machen. An solchen Tagen machte das Spielen noch mehr Spaß, da die Cousins und Cousinen alle mitmachten.
Die Großen, zu denen ja nun auch Lisbeth gehörte, unterhielten sich angeregt mit der Verwandtschaft. Aber lange dauerte das nicht, denn wie selbstverständlich wurden zu solchen Gelegenheiten gerne Lieder gesungen. Alle Chorstimmen waren in der Familie Krohn vertreten und so hörten auch die Passanten die Kirchen- und Volkslieder auf der Straße mit. Viele blieben stehen und lauschten dem manchmal andächtigen und manchmal freudigen Gesang, je nachdem, welches Lied gerade gesungen wurde. Und es gab viele Lieder. Jeder hatte so sein Lieblingslied, das er anstimmte und alle anderen sangen dann mit, bis einer zum Aufbruch mahnte. Dieses Mal war es Mutter, die das Ende des Gesanges ankündigte, denn Erna musste ja mit ihren gut eineinhalb Jahren rechtzeitig ins Bettchen gebracht werden und alle Gäste mussten rechtzeitig zum Abendbrot wieder Zuhause sein.
So harmonisch verliefen alle Familienfeiern. Darum war es auch gar nicht so wichtig, wieviel Kuchen auf dem Tisch stand oder was – wie heute – für Getränke gereicht wurden. Es war einzig und alleine die Freude des Zusammenseins und des gemeinsamen Gesangs.
Diese Harmonie der Familienfeiern war Tradition und wurde von Kindern und Kindeskindern übernommen.
Doch nicht nur in der Familie Krohn wurde gefeiert, sondern auch in der Stadt. Am folgenden Ostermontag, so war überall zu lesen, ist die „Kantfeier“. Der berühmteste Königsberger wurde zu seinem 200. Geburtstag geehrt.
Schon lange vor diesem Tag wurden in der Universität Vorlesungen besonderen Inhalts von Gastprofessoren gehalten, Schriften veröffentlicht und dem neu gegründeten Stadtgeschichtlichen Museum Dokumente aus fernen Ländern übergeben, die von Kant stammten oder über ihn berichteten, denn eine Abteilung war ihm gewidmet. Zwar war der Nachlass des kinderlosen Philosophen nach seinem Tode verkauft und verstreut worden, aber was erhalten geblieben oder später mühsam wieder zusammengetragen worden war, bildete einen besonderen Anziehungspunkt für die Besucher aus aller Welt. Der Weltweise war kein Heimatromantiker, aber bewusst ein Königsberger. Er hat seine Geburtsstadt nur selten, Ostpreußen nie verlassen hat. Er scheute nicht die Welt, sondern blieb in seiner Vaterstadt, weil er nach seiner Meinung in ihr alles vorfand, was er brauchte. Als die Stadt eine Kantmedaille stiftete und mit ihr verdiente Frauen und Männer auszeichnete, ehrte sie damit nicht nur ihren größten Mitbürger, sie bekannte sich damit auch zu seiner Heimatgeborgenheit und Weltoffenheit, die sie siebenhundert Jahre lang in besonderer Weise ausgezeichnet hat.
Und so strömte, alles, was Beine hatte, zum Dom und Kneiphof, um wenigstens den Festzug sehen zu können. Die „Königsberger Allgemeine Zeitung“ vom 22. April 1924 lässt (auszugsweise) erkennen, in welchem Umfang das geschah:
„Als eine Kantfeier besonderer Art ist unter den Veranstaltungen des ersten Haupttages noch ein Essen zu verzeichnen, zu dem die Königsberger Allgemeine Zeitung eingeladen hatte, das am Sonntag Abend in der Wohnung des Chefredakteurs Wyneken stattfand. Es war der Wunsch der Zeitung gewesen, einige Stunden im Zeichen Kants gesellig mit den Persönlichkeiten aus aller Herren Länder zu verleben, wie es Kant getan hätte. Alle, die an der Festzeitung mitgewirkt hatten, Vorlesungen und Diskussionen vorbereitet und Studien zum Thema „Kant“ veröffentlicht hatten, waren eingeladen. Und so wurde beim Essen im Kreis honoriger Herren, wie es die Überlieferung aussagte, gefachsimpelt, Theorien aufgestellt und wieder verworfen. Doch alle waren sich einig, dass die wissenschaftlichen Leistungen Kants unantastbar waren.“
Wie die Feierlichkeiten im Dom abliefen, beschreibt die Zeitung folgendermaßen: „Regenschwer und windbewegt hat der 2. Ostertag begonnen, grau und tief hängen die Wolken über den Straßen der Stadt. Der Himmel zeigt sich Kants Verehrern von der rauhesten und unfreundlichsten Seite; durchnäßte Kleider und aufgespannte Schirme scheinen das Kennzeichen des Tages werden zu wollen.
Trotzdem ist Leben und Zudrang zum Kneiphof. Ein Teil der Brodbänkenstraße und das große Rund des Domplatzes sind von einer dichten harrenden Menschenmenge eingerahmt, die von einem Spalier von Sicherheitsbeamten zurückgehalten werden – trotz des Regens und der nordischen missmutigen Witterung ein Bild von verhaltener Teilnahme und Erwartung, wie man es seit vielen Jahren in unserer Stadt entbehrt hat. Man ist sich bewusst, ein großes und einmaliges Ereignis zu erleben. Die Menschen wollen wenigstens aus der Ferne dabei gewesen sein, sie wollen davon erzählen, wollen sich daran erinnern können.
Aber erst, wenn man den Dom betritt, wird man in eine andere Welt von der Stimmung der weihevollen Gehobenheit empfangen und getragen. Die graue, regenschwere Nüchternheit des Tages ist zurückgeblieben – hier unter den hohen gotischen Spitzbögen leuchten die zahllosen Kerzen der großen Kronleuchter, goldene Schnitzereien, lateinische Inschriften funkeln auf, im Hintergrund streben die goldenen Zierrate des Altars empor. In diesem gedämpften Licht, mitten unter alter Architektur, ist alles Sammlung und Andacht und Erinnerung. Das große Schiff der Kirche und die Orgelempore sind von einer dichten Menschenmenge gefüllt.
Die Hoffnung der draußen auf den Zugangsstraßen geduldig wartenden Zuschauer wurde leider enttäuscht. Denn der Festzug durch die Straßen musste ausfallen und sich auf den kurzen Weg vom Stadtgymnasium bis zum Dom beschränken. So staute sich denn die neugierige Menge um so dichter auf dem Domplatz, der durch Schupobeamte (Polizei) zu Pferde und zu Fuß recht streng abgesperrt war. Galt es doch, den recht umfangreichen Auto- und Wagenverkehr zu regeln, der sich bei Anfahrt der Gäste in dem sich sonst verhältnismäßig ruhigen Domviertel entwickelte.
Als dann unter den wuchtigen Akkorden der Orgel der Festzug im Portal des Domes erschien, und sich in würdigem Schritt durch den Mittelgang zum Altar bewegte – welch farbenprächtiges Bild! Im Dämmerdunkel des Kirchenraumes gestaltete es sich um so wirkungsvoller. Jeder empfand aber zugleich in dem Äußeren des Bildes dessen symbolische Bedeutung: Ein Huldigungszug Deutschlands, Europas, ja der Welt vor Königsbergs größtem Sohn, der zu einem Genius der Menschheit geworden ist. Das Licht des Weisen, der niemals über die Grenzen Ostpreußens hinausgekommen ist, hat inzwischen längst den Siegeszug über die Ozeane angetreten, so dass in Japan, wie der erste Festredner des Tages, Stadtschulrat Stettiner, später bemerkte, von einer weitverzweigten Gesellschaft der Geburtstag Kants regelmäßig festlich begangen wird.
Der Zug wurde eröffnet durch den Oberbürgermeister Lohmeyer im Schmuck der schlichten Amtskette, die auch Zeuge und Zeichen der deutschen Not- und Kampfjahre Königsbergs ist. Mit dem Oberbürgermeister schritten Bürgermeister Goerdeler und Stadtschulrat Stettiner. Dann folgte Kultusminister Boelitz in Begleitung des Kurators Hoffmann, hinter ihnen die Studenten als ein wandelnder Wald von Fahnen und Bannern, bestickt mit den tapferen Sprüchen akademischer Jugend. Die Königsbergs Studentenschaft nahm mit Recht bei dieser Huldigung einen breiten Platz ein. Denn sie ehrte, wie sie da festlich mit Pekesche und Schläger aufmarschierte, zugleich mit dem Weltweisen den größten Professor der Albertina, der ihr unsterblichen Ruhm bereitet hat. Mahnte schon dieses Bild der studentischen Verbindungen an die Tatsachen, welche Mächte die Traditionen und ehrwürdigen Bräuche der Universität darstellen, so wurde dieser Eindruck noch