Geburtsort: Königsberg. Ursula Klein
Mutter hatte auch Sorgen mit den Kindern: Hanna, die Zweitälteste, war eigentlich für die Schule nicht kräftig genug und hatte einen schwachen Rücken. Oft musste sie ermahnt werden, dass sie gerade gehen solle, doch war sie aus dem Blickwinkel verschwunden, rutschte sie wieder in sich zusammen. Tante Malche riet: „Reibe doch den Rücken von Hanna täglich mit Franzbranntwein ein, das durchblutet den Körper und festigt die Muskulatur.“ Besorgt schaute Mutter ihre Tochter an und stellte außerdem fest, dass sie viel zu mager war. Sie tollte aber auch viel zu viel herum und die wenige Nahrung reichte nicht zum Speckansetzen.
Das nächste Sorgenkind war Herta. Sie kam in der Schule nicht richtig mit und oft saßen Lisbeth und Hanna mit ihr am Nachmittag, damit sie ihre Schularbeiten ordentlich machte. Eigentlich hatte sie eine sehr schöne Schrift und rechnen konnte sie auch, wenn sie die Aufgaben Zuhause nacharbeitete, das Lesen ging – wie eben in der 1. Klasse – und doch war mit Herta, seitdem sie in der Schule war, eine Wandlung vorgegangen. Sie war sehr zurückhaltend, sehr still und in sich gekehrt. Manchmal träumte sie und hörte gar nicht, wenn Mutter oder die Kinder sie riefen. Am liebsten spielte sie alleine. Mutter konnte sich auch nicht erklären, warum Herta ihre Aufgaben Zuhause sehr ordentlich und auch richtig machte, während sie in der Schule viele Fehler hatte, Aufgaben angefangen und nicht beendet waren, ein allgemeines Durcheinander herrschte.
Mutter nahm sich ein Herz und ging zum Lehrer. Das war bei Krohns gar nicht üblich. Doch sehr freundlich wurde sie begrüßt: „Guten Tag, Frau Krohn. Na, was haben Sie denn für Sorgen?“ „Ach, Herr Gland, meine Herta macht mir Sorgen. Zuhause machte sie ihre Schularbeiten ganz vorbildlich und die Aufgaben in der Schule sind ein einziges Durcheinander. Ich kann mir das nicht erklären.“
„Liebe Frau Krohn. Ich habe beobachtet, dass Ihre Herta, wenn ich vor ihr stehe und sie direkt anspreche, auch bei mir in der Schule alles richtig macht. Vor ein paar Tagen bin ich auf die Idee gekommen, bei ihr eine Gehörprobe zu machen und stellte fest, dass sie sehr schlecht hört. Daraufhin habe ich sie in die ersten Reihe gesetzt und seit gestern haben sich die Leistungen bereits verbessert. Wenn sie also die Aufgaben nicht richtig gemacht hat, war es bei ihr nicht eine Frage der Konzentration oder des Nichtwissens, sondern sie hat einfach die Aufgabenstellung nicht verstanden. Vielleicht sollten Sie ihr auch eine andere Frisur machen, die Zopfschnecken über den Ohren verschlechtern vielleicht auch noch ein wenig die Hörfähigkeit.“
Mutter war einigermaßen überrascht über diese Situation, wenn sie auch schon so etwas vermutet hatte. „War Ihre Tochter denn als Kleinkind schwer krank, so dass sich das auf die Gehörorgane gelegt haben könnte? Ich würde Ihnen empfehlen, mit ihr zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt zu gehen. Vielleicht kann der Schaden noch behoben werden.“
Bedrückt ging Mutter nach Hause. Das war also die Ursache, die sie bisher nicht wahrhaben wollte. Nun konnte sie sich nachträglich viele Situationen erklären. Aber nie war sie auf die Idee gekommen, dass Herta tatsächlich schwerhörig sein könnte.
Der Facharzt konnte aber keine Besserung in Aussicht stellen. „Sie müssen sich damit abfinden, dass Ihr Kind auf diesem Ohr fast nichts hört und eine Besserung kaum möglich ist. Sprechen Sie Ihr Kind immer direkt an – nicht von hinten – und vor allem deutlich. Sie werden merken, dass sich die Kleine dann wie die anderen Kinder weiter entwickeln wird.
Das war zunächst keine gute Nachricht. Aber Herta und alle um sie herum mussten sich in diese Situation fügen. Manchmal wurde sie zwar von anderen Kindern gehänselt, aber solidarisch nahmen alle Geschwister in solchen Situationen Partei für Herta ein. Und das tat ihr gut. Auch Herta lernte mit dieser Einschränkung umzugehen.
Und so war es für Mutter eine große Freude, als Tante Hedwig aus Maraunenhof in einem Brief schrieb, dass sie gerne zwei Kinder in den Sommerferien zu sich nehmen würde. Sie schrieb „ … damit ich euch ein wenig helfen kann und sich wenigstens zwei Kinder wieder richtig satt essen können.“ Und das war im Sommer 1922 bereits fast zum Luxus geworden.
Hinter vorgehaltener Hand sprach man „im Reich“ bereits von der „galoppierenden Inflation“. Eine Straßenbahnfahrt kostete in Berlin bereits 4,- Mark, ein Brief bereits 6,- Mark, ganz zu schweigen von den Preisen für Lebensmittel. Spargeld hatte niemand mehr. Die Banken vergaben für die kleinen Leute keine Kredite mehr, da durch den Rückgang des Giroverkehrs der Spielraum der Banken zur Abschöpfung des Bargeldes eingeschränkt war. Die Preise verteuerten sich schneller als die Löhne und Gehälter mit einer Inflationsrate angehoben wurden. Die Mehrzahl der Bevölkerung lebte in völliger Armut, während einige wenige durch die Inflation reich wurden. Sie hatten ihr Kapital rechtzeitig in ausländischer Währung angelegt und lebten von ihren Zinsen herrlich und in Freude. Für diesen Personenkreis begann die Jagd auf Dollar und Rubel.
In Ostpreußen und besonders in Königsberg hatte diese wirtschaftliche Entwicklung bisher nicht so stark gegriffen. Durch die vom Magistrat geschaffenen Königsberger Betriebe (Straßenbahn, Reinigungs- und Fuhrunternehmen, Schlacht- und Viehhof, Stadtbank, Kauf des ehemaligen Festungsgürtels zur Umgestaltung als Grünanlagen usw.) und die Nutzung der inflationären Entwicklung des Geldes zur Bezahlung der Immobilien war es dem Magistrat gelungen, die Arbeitslosigkeit nicht so krass werden zu lassen wie im Reich.
Doch das Geld von Vater reichte zum Einkaufen höchstens für fünf Tage, dann war die Eigenversorgung gefragt, die für diesen Zeitraum nicht ausreichend war. Und so war bei Familie Krohn oftmals „Schmalhans“ der Küchenmeister.
Darum war es gar keine Frage: Hanna und Herta durften fahren. Eilig wurden die Vorbereitungen getroffen: noch schnell ein Kleidchen und eine Schürze für jeden genäht, die Unterwäsche ergänzt, Söckchen gestrickt, die Füße von den Kniestrümpfen angestrickt. Mutters Stricknadeln flogen in jeder freien Minute.
Hanna und Herta waren glückselig. Sie durften Urlaub auf dem Land bei Tante Hedwig machen! Das war kaum zu begreifen. Die beiden tuschelten jetzt oft miteinander, malten sich Bilder aus, was sie alles anstellen würden. Wieviel sie wohl zu essen bekommen? Gerne würden sie auch auf dem Bauernhof helfen. Hanna meldete sich schon jetzt zum Hühnerfüttern an, Herta würde die Häschen betreuen, beide wollten auf der Wiese das Heu wenden, mit dem Hund spielen, die Gänse jagen, auf die Schafe aufpassen. Vielleicht sogar einmal auf dem Pferd sitzen? Ach, es träumte sich so schön!
Endlich, endlich war der Tag gekommen. Die Mädchen meinten, ihnen müsse jeder ihr persönliches Glück ansehen und jeder sich mit ihnen freuen.
Die anderen Geschwister mussten mit dem Vater Zuhause bleiben, denn die Straßenbahnfahrt wäre für alle viel zu teuer gewesen. Und so hatte Mutter für alle das Sonntagsessen vorgekocht, die Wäsche für die Kinder – wie üblich – gehäufelt auf das Sofa gelegt und allen noch die notwendigen Ermahnungen gegeben, wie sie sich zu verhalten hatten. Sie war aufgeregter als Herta und Hanna, denn sie hatte ihren Mann mit den Kindern bisher noch nie alleine gelassen. Darum wurde Tante Malchen nebenan noch schnell informiert, damit Vater Hilfe hatte, falls er mit dieser Situation nicht alleine fertig wurde.
Und so war dieser Sonntag ein ganz besonderer Tag: Nach dem Frühstück und der Morgenandacht zogen sich Vater, Lisbeth, Fritz und Lotte an, Lena wurde von Mutter betreut. Jeder bekam noch ein Abschiedsküsschen von Mutter und nochmals gute Ratschläge mit auf den Kirchenweg. Vater umarmte seine Frau liebevoll und meinte: „Sei schön vorsichtig beim Ein- und Aussteigen, damit du nicht hinfällst. Lass auch lieber die Taschen von den beiden Mädchen tragen, ich möchte nicht, dass unserem Nachwuchs etwas passiert.“ Dabei streichelte er ihr liebevoll über den Bauch, in dem neues Leben bereits erwacht war.
Nachdem Vater mit den Kindern das Haus verlassen hatte und in Richtung Kirche gegangen war, setzte sich Mutter erst einmal hin und atmete tief durch. Hanna sagte gleich zur Mutter: „Bleib sitzen, wir räumen auf und waschen das Geschirr ab.“ Und flink wie die Wiesel sausten sie durch die Wohnung und machten Ordnung.
Ach, die Ruhe tat Anna gut. Sie erwartete mit ihren 42 Jahren nun schon ihr siebentes Kind. Die viele Arbeit im Haushalt und die Sorgen um das tägliche Brot hatten ihre Kräfte fast völlig aufgezehrt. Doch während die beiden die Arbeit machten, faltete sie die Hände, dankte Gott für diesen schönen Tag, bat um Hilfe für den Vater, der das erste Mal mit den Kindern einen Tag alleine war und um Kraft für das neue Leben