Leere Hand. Kenei Mabuni
Karate sankoku shi Schriften aus dem Nachlaß meines Vaters herausgegeben. Sein Buch war für mich sehr lehrreich. Er schreibt: »Die Essenz des japanischen Budō liegt darin, mit einer geraden Linie einen Kreis zu beschreiben.« Dieser Satz hat mich sehr bewegt. Was ich mit dem ganzen Körper wahrnehme, hat er sehr treffend in Worte gefaßt. Im Iaidō40 kann man sehr gut erkennen, daß die Arme sich geradlinig nach vorn bewegen, während das Schwert aus der oberen Position mit einer kreisförmigen Bewegung nach unten schneidet. Eine gerade Linie beschreibt also einen Kreis. Auch die Geschwindigkeit, mit der das Schwert im Jigen ryū als »Flammenwolke« aufschlägt, kann mit einer kreisförmigen Bewegung allein nicht erreicht werden. Nach Meister Aragaki wird die aus der kreisförmigen Bewegung gewonnene maximale Energie mit der geraden Linie über die kürzestmögliche Distanz übertragen. Diese Technik des japanischen Budō repräsentiert das höchste Niveau der Körperbeherrschung.
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Fotos 5-7:Das Ausführen des Fauststoßes. Die Faust ist neben die Hüfte eingezogen (5). Sie dreht sich aus dieser eingezogenen Position heraus (6), und es erfolgt ein Stoß in gerader Linie (7).
Nicht das Abhärten der Fäuste, ihre Verwandlung in Waffen, macht den Unterschied zum chinesischen Kempō aus, sondern die Körperbeherrschung im Moment des Stoßens oder Tretens. Alle Techniken schließen den ganzen Körper ein. Betrachten wir die Stoßbewegung der Faust im Karate, so wird anders als beim geraden Schlag im Boxen der Schlag in einer vollständig geraden Linie geführt, indem sich die Faust aus der zurückgezogenen Position (hikite) herausdreht (Fotos 5-7). Auch die Tritte des Karate beschreiben im Gegensatz zum chinesischen Kempō oder zum Kickboxen keine großen Kreise. Der Tritt geht gerade ins Ziel. Dazu wird das Bein nach innen eingewinkelt nach oben geschwungen und auf diese Weise Energie aus der Kreisbewegung gewonnen. Dann wird ein geradliniger Stoß mit dem Fuß ausgeführt (siehe Fotos 8-10).
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Fotos 8-10: Ausführung eines Fußtritts. Einnehmen derGrundstellung oder Bereitschaftshaltung (kamae) (8). Das Bein wird angewinkelt nach oben geschwungen (9). Der Tritt oder Fußstoß erfolgt in gerader Linie (10).
In den traditionellen Karate-Kata gibt es keine Halbkreisfußtritte (mawashi geri). Es gibt auch keine Tritte in der oberen Ebene (jōdan geri). Allerdings gibt es Sprungtritte (tobi geri), die jedoch nur als finale Fall- oder Selbstopferungstechnik (sutemi) zum Einsatz kommen. Tritte, die eine große Ellipse beschreiben, beeinträchtigen die Stabilität und legen die eigenen Schwachstellen bloß. Zudem sind sie für den Kampf mit einem Schwert-Gegner nicht schnell genug, und sie sind nicht für einen tödlichen ersten Tritt geeignet. Außerdem kann man Tritte häufig nicht wirksam gegen einen physisch stärkeren Gegner einsetzen.
Foto 11: Mabuni Kenwa und sein Sohn Kenei bei der Übung des »Fallenden Baumes« (tōboku hō).
Es gibt eine für das japanische Budō spezielle Übung, die man »Fallender Baum« (tōboku hō) oder »zu Boden fallen« (tōchi hō) nennt. In dem oben erwähnten Buch »Die Essenz des okinawanischen Budō-Karate« von Meister Aragaki ist ein Foto abgebildet, das mich als Kind bei einer solchen Übung zeigt. Es stammt aus dem Buch meines Vaters von 1938 »Einführung in die Angriffs- und Abwehrtechniken im Karate«. Es zeigt, wie mein Vater mich stützt bzw. auffängt. Bei dieser Übung gewinnt der Körper seine Geschwindigkeit gleich einem fallenden Baum. Man bringt der Schwerkraft dabei keinerlei Widerstand entgegen. Dieses dem japanischen Budō eigentümliche Prinzip bezeichnet Aragaki als Gipfel menschlicher Körperbeherrschung. Mir persönlich gefällt die Formulierung, unter der die Technik im Itosu-Stil bekannt ist, am besten, auch wenn sie vielleicht nicht sehr wissenschaftlich ist. Man nennt sie hier »Kraft von der Erde leihen«.
Alle Anfänger im Itosu ryū beginnen ihre Studien mit den Kata des Shuri-te. Die Technik »Kraft von der Erde leihen« gehört zu den Übungen des ursprünglichen Okinawa-te, also zu den Grundlagen des Shuri-te. Der natürliche Fall wird durch die Kraft der Erde bewirkt. Ob man stößt oder tritt, immer wirkt diese Kraft, und man kann sie sich dabei zunutze machen. In allen Kata des Shuri-te wird das Prinzip des fallenden Baumes angewendet. Ob dieses Prinzip auch im heutigen Karate genutzt wird, ist eine Frage, zu der ich mich an anderer Stelle äußern möchte, wenn es um die Entwicklung des Karate zum Wettkampfsport geht.
Die Entwicklung des Naha-te
Das Naha-te soll seinen Ursprung im Dorf Kume haben. Kume wurde von Chinesen gegründet, die 1393, während der Ming-Dynastie, aus der chinesischen Provinz Fukien auf die Ryūkyū-Inseln gekommen waren.41 Unter ihren Nachkommen waren viele im Handel mit China tätig. Sie brachten Kempō-Kenntnisse aus ihrer chinesischen Heimat mit, die sie offenbar auch den Adligen von Kume vermittelten. Wahrscheinlich handelte es sich aber schon nicht mehr um reines chinesisches Kempō, sondern um eine vom Shuri-te beeinflußte und den auf Ryūkyū herrschenden Verhältnissen angepaßte Kampfkunst. Aragaki Seishō (1840-1920) aus Kume, der den Namen »Aragaki, die Katze« erhalten hatte, war ein großer Meister der Kampfkünste. Sowohl mein Vater, als auch Funakoshi Gichin und Miyagi Chōjun hatten bei ihm Unterricht. Er praktizierte nicht nur Karate, sondern auch bō-Techniken.
Higaonna Kanryō (1853-1916) hat ebenfalls bei Meister Aragaki Karate gelernt. Higaonna stammte aus einer Familie von Feuerholzhändlern aus Naha. Er muß sich durch besonderes Talent zum Kämpfen ausgezeichnet haben, da Aragaki ihn trotz seiner einfachen Herkunft Kempō lehrte, das eigentlich den Adligen aus Kume vorbehalten war. Er begab sich danach für 15 Jahre nach Fukien, studierte das dortige Kempō und entwickelte nach seiner Rückkehr das Naha-te. Deshalb ist das Naha-te jünger als das Shuri-te und der chinesische Einfluß noch stärker. Mein Vater sagte über das Karate von Higaonna: »Meister Higaonna war in China und hat dort das Fukien-Kempō studiert. Sein Unterricht ist anders als der heute sonst allgemein übliche.«
Während für das Shuri-te der Kampf auf Distanz charakteristisch ist, da man von einem Gegner mit Schwert ausgeht, ist das auf dem südchinesischen Kempō beruhende Naha-te auf den Nahkampf orientiert.
Fotos 12 und 13: Die hängende, auf- oder angelegte Hand (kake-te). Foto 12 zeigt die Technik des kake-te, wie sie im Shuri-te eingesetzt wurde, und Foto 13 zeigt dieselbe Technik bei ihrem Einsatz im Naha-te.
Es gibt keine Stöße und Tritte wie im Distanzkampf. Natürlich ist auch das Naha-te nicht reines chinesisches Kempō, sondern vom Shuri-te beeinflußt und weitgehend an die Bedingungen Okinawas angepaßt, aber seine Besonderheit sind die im chinesischen Kempō »Explosivkraft« (hakkei) oder »Kraft des Moments« (sunkei) genannten Techniken. Im Naha-te werden sie zuerst anhand der Basis-Kata Sanchin (»drei Phasen«) und Tenshō (»Handfläche drehen«) trainiert.
Im Naha-te gibt es eine Übung, die im Shuri-te nicht existiert. Bei dieser kontrahiert man mit einer besonderen Atemtechnik die gesamte Muskulatur des Körpers. Anfänger üben, indem sie langsam ein- und langsam