Leere Hand. Kenei Mabuni

Leere Hand - Kenei Mabuni


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Karate als Weg ohne Ende erleben.

      Über einen solchen Zustand der Versenkung, der vollkommenen Konzentration und inneren Ruhe, zanmai,14 hat mein Vater einmal folgende Zeile geschrieben: »Ich genieße es, wenn der Geist sich leert beim Rudern zur Insel des bu«.15

      Im Japanischen gibt es das Wort gunshū, das in etwa bedeutet: »Lernen durch Geruch annehmen«. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß sich der Geruch eines Gegenstands auf die Person überträgt, die ständig mit ihm umgeht. Wenn man regelmäßig mit Holz arbeitet, nimmt man nach und nach dessen Geruch an. Was jemand immerfort tut und denkt, wird schließlich Teil von ihm selbst, prägt seinen Charakter und im übertragenen Sinne seinen »Geruch«. Wenn mein Vater als Polizist auf Okinawa die hier und da zurückgezogen lebenden Karate-Meister besuchte, oder wenn er an der Fischereischule Karate unterrichtete oder zu Karatevorführungen ging, nahm er mich immer mit und ließ mich auf seinem Schoß sitzen. Auf diese Weise habe ich zweifelsohne seinen »Geruch« angenommen.

      Immer wieder sehe ich in der Erinnerung meinen Vater vor Augen, wie er mit seinen Kameraden im Licht einer nackten Glühbirne mit freiem Oberkörper trainierte, und wie sie einander dabei anfeuerten und die Welt ringsum vergaßen. Nachdem er nach Ōsaka gezogen war, wußte er nie, was der nächste Tag bringen würde. Trotzdem widmete er sich weiter ganz dem Studium des Karate, immer in Gemeinschaft mit einigen Freunden, denen er häufig auch Essen und Unterkunft bot. Seine Sorge galt auch der Pflege der tatami-Matten, die im Training schnell verschlissen. Kehrte einer seiner Schüler unversehrt aus dem Krieg zurück, war er darüber genauso glücklich, wie er es bei meiner Heimkehr aus dem Kriege war. Dieser Art ist der Geruch meines Vaters, der sich unauslöschlich an meinen Körper geheftet hat und den ich nie verlieren werde. Auch ich werde wie mein Vater den Weg des Karate gehen, der kein Ende kennt. Ich werde mein Leben lang üben, solange, wie mein Körper sich bewegt, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. Ich weiß nicht, wie weit ich dabei komme, ich weiß nur, daß ich gehen werde, solange ich kann. Tag für Tag besser zu werden, immer weiter voranzukommen, nur das hat Sinn und bringt Freude. Das ist es, wodurch sich das Budō-Karate auszeichnet, welches ich verbreiten möchte und das der Gegenstand dieses Buches ist.

I

      1 Entstehung und Entwicklung des Karate

      1.1 Karate als Kampftechnik

      Formen des waffenlosen Kampfes in alter Zeit

      Von allen Völkern sind Formen des waffenlosen Kampfes überliefert, so daß man davon ausgehen kann, daß es sich hierbei um ein gemeinsames Erbe der Menschheit handelt. In der ältesten japanischen Schrift, dem Kojiki16 wird von einem Kräftemessen der Götter Takemigazuchi no kami und Takeminakata no kami am Inasa-Strand von Izumo berichtet. Die Annalen des Nihonshoki erwähnen einen Kampf zwischen Nomi no Sukune und Taima no Kehaya. Dieser Kampf zwischen Sukune und Kehaya gilt als Geburtsstunde des Sumō.17 Anders als im heutigen Sumō muß es ein Wettkampf auf Leben und Tod gewesen sein, der zwar waffenlos, aber ansonsten ohne Verbote geführt wurde. Denn Sukune brach Kehaya mit Tritten die Hüfte und trat ihn dann zu Tode.

      Solche Techniken des waffenlosen Kampfes gab es seit alter Zeit überall auf der Welt. Selbst aus dem alten Indien wird berichtet, daß Buddha mit seinem jüngeren Bruder gekämpft haben soll, um als Sieger ein schönes Mädchen zur Frau nehmen zu können. Ich selbst habe in Indien Kämpfe gesehen, die dem Sumō ähneln. Auch in China gab es von alters her Kempō-Faustkampftechniken.18 In der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (722-481 v. Chr.) hießen sie »Tapfere Faust« (kenyū) oder »Kampfkunst« (bugei), in der Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) »Schlagtechnik« (gigeki) und in der Han-Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) einfach »Technik« (gikō) oder »Rundschlagen« (shubaku).

      Das Shaolin-Kempō entstand im chinesischen Shaolinkloster, das im Jahr 495 (späte Wei-Zeit) von Kaiser Xiào Wén (471-499) für den aus Indien kommenden Zen-Meister Ba Tuo errichtet wurde. Es liegt in der Provinz Henan südlich vom Gelben Fluß (Huanghe) am Fuße des Songshan-Gebirges (japanisch: Sūzan) und wird deshalb auch Kloster Songshan Shaolin genannt. Das Shaolinkloster wurde berühmt durch den Aufenthalt von Bodhidharma19 (jpn. Daruma), der zum Begründer des Zen-Buddhismus in China wurde und die zazen-Meditation20 einführte. Er wurde deshalb auch – wahrscheinlich fälschlicherweise – als Gründer des Shaolintempels oder Ahnherr des Kempō bezeichnet.

      In den chinesischen Klöstern gab es viele Kunstschätze und anderes Vermögen. Die Notwendigkeit, diese in dem ständig von Unruhen geplagten Land verteidigen zu müssen, hat dazu geführt, daß sich die Kampftechniken in China vorrangig in den Klöstern entwickelten. Unter dem Begriff Shaolin-Kempō sind Techniken zusammengefaßt, die aus dem Shaolinkloster bzw. aus der Region, in der es sich befand, stammen. Einige davon sind im Laufe der Zeit verlorengegangen, wie z. B. die Techniken »Durchschlagende Faust« (tsūhai ken), »Beseelte Faust« (shin i ken) oder »Kosmische Faust« (rikugō ken).

      Im Shaolinkloster unterschied man zwischen Gebetsmönchen, die sich auf die religiösen Studien spezialisierten, und Kampfmönchen, die vor allem die Kriegskünste studierten. Die Kampfmönche wurden gleich bei ihrem Eintritt ins Kloster kahlgeschoren und als Mönche gekleidet. Ihre Zeit verbrachten sie in der Folge eher mit dem Training der Kampfkünste als mit dem Studium des Buddhismus. Als religiöse Übung praktiziertes japanisches Shaolin-Kempō gibt es erst seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wurde von Meister Sō Dōshin (1911-1980) begründet.

      Seit der Ming-Zeit war das Shaolinkloster im übrigen weniger für seine Fausttechniken, als vielmehr für seine Stocktechniken, Kompō21 bzw. Bōjutsu, bekannt. Andererseits wurde auch ein Fukien-Kempō überliefert, das sich in den südchinesischen Provinzen Fukien und Kanton herausgebildet hat. Auch das Fukien-Kempō soll aus einem Shaolinkloster stammen. Dabei handelt es sich aber wohl nicht um das ursprüngliche Songshan-Shaolinkloster, sondern um ein später in der Provinz Fukien errichtetes Tochterkloster.

      Das Shaolinkloster von Fukien existiert heute nicht mehr. Es ist auch nicht mehr genau feststellbar, wo es sich befand. Überreste, die auf ein solches Kloster hindeuten könnten, hat man an verschiedenen Stellen gefunden. Da das Songshan-Shaolinkloster nördlich des Yangtse-Flusses lag und sich das Fukien-Shaolinkloster südlich davon befand, spricht man auch von einem Nord-Shaolin und einem Süd-Shaolin bzw. von einem nördlichen und einem südlichen Kempō.

      Wie auch in anderen Ländern gab es Zeiten, in denen die Staatsmacht bestimmte Religionen förderte und Zeiten, in denen sie sie unterdrückte. Das Shaolinkloster war davon nicht ausgenommen. Es erlebte sowohl Förderung und Prosperität, als auch Unterdrückung und Brandschatzung. Sicher gab es auch Mönche, die in beiden Klöstern praktizierten und andere, die in Zeiten der Verfolgung in anderen Klöstern Zuflucht fanden und ihr Wissen über die Kampftechniken weitergaben. Es ist auch anzunehmen, daß sie die Verbreitung und das Niveau von Kampftechniken im einfachen Volk beeinflußten. In China unterscheidet man zwischen dem Kempō der Mönche, dem »zum Haus gehörenden« oder Klosterkempō, und dem »nicht zum Haus gehörenden« oder Volkskempō. Repräsentativ für letzteres ist das Taijiquan.

      So entstand das heutige chinesische Kempō aus verschiedenen Formen und Stilen des waffenlosen Kampfes, die einen langen Entwicklungsprozeß durchliefen und sich gegenseitig beeinflußten. Aber zweifellos waren es die beiden Shaolinklöster, die in ganz China den Heldenmut entfachten. Wie im japanischen Hieizan-Kloster im ausgehenden Mittelalter bewaffneten sich die Mönche und griffen in das weltliche Geschehen ein.

      

      Ähnlich verhielt es sich in Japan mit Minamoto no Yoshitsune und Musashi Bō Benkei zum Ende der Heian-Zeit (794-1185). Yoshitsune, als Kind Ushiwaka-maru genannt, lebte im Kurama-Kloster im Norden der japanischen Hauptstadt. Er praktizierte dort buddhistische Geheimlehren (Mikkyō)22, begann aber vor allem auch, sich mit Kampftechniken zu beschäftigen. Der Überlieferung nach wurde er vom großen langnasigen Berggeist (Dai Tengu)23 von Kurama in den Kriegskünsten unterrichtet. Um sich abzuhärten, ging Yoshitsune jeden Tag den Weg aus den Kurama-Bergen ins


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