Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt. Uwe Klöckner-Draga
Starre. Hoffnungslosigkeit, wenn nicht die Leitung wechselt. Es muß gesagt werden. Nichts falscher, als zu argumentieren: Jessner sei aus politischen Gründen zu halten. Nein, schlimmer kann es nicht werden. Diese Frage hat mit Links und Rechts nichts mehr zu tun. Jessner ist heute weder links noch rechts. Er hat sich als Intendant abgenutzt. Wer diese Tatsache verschleiert, erweist Jessner selbst keinen Dienst. Der Regisseur Jessner wird sich wieder finden. Für ihn gibt es Aufgaben genug. Für den Intendanten Jessner gibt es keine Aufgaben mehr. So taumelt das Staatstheater zwischen Konventionalstrafe und Neuverpflichtungen hilflos hin und her! Kein Ziel, keine Disposition, keine Leitung. Von den sinnlos verschleuderten Geldern kann ein neues Theater leben! - Nein, die Geduld ist zu Ende. In einer Zeit, wo die öffentlichen Theater als kulturelle Institute ihre Existenz dringend zu erweisen haben, versagen die Schauspielhäuser vollends. Heute, wo nur durch Leistungen die Notwendigkeit staatlicher Zuschüsse erklärt werden kann, fällt hier alles auseinander. Wer Jessners gute Zeit mitgemacht hat, weigert sich, diese mitzumachen. Am Staatstheater gehört eine frische, unverbrauchte Kraft, eine geistig repräsentative Persönlichkeit - kein Regisseur und kein Schauspieler.“
Als Konsequenz der allgemeinen Verdrossenheit über seine künstlerische Stagnation und des Einflusses der politischen Rechten, wirft Leopold Jessner das Handtuch und legt die Leitung der Staatlichen Schauspielhäuser nieder. Am 20. Januar teilt er seinen Schauspielern in einem Abschiedsbrief mit: „Sehr verehrte Kolleginnen und liebe Kollegen! Nachdem ich von der Leitung des Staatlichen Schauspielhauses geschieden bin, ist es mir ein wirkliches Herzensbedürfnis, Ihnen noch einmal für die treue, kollegiale, hingebende Mitarbeit zu danken, die Sie mir während meiner beinahe elfjährigen Tätigkeit zuteil werden ließen. Es ist wohl nur selbstverständlich, dass eine Arbeit, die auf letzten Einsatz der Nerven gestellt ist, nicht immer eine völlig reibungslose sein kann: Sie darf es gar nicht sein, denn die Reibung erst erzeugt Funken. Aber ich kann Ihnen offen sagen, dass die Gesamterinnerung an die Zeit meiner Berliner Intendantentätigkeit ungetrübt und eine der schönsten meines Lebens bleibt. Wir haben zusammen manche Schlacht geschlagen, manchen Sieg erfochten und manche Niederlage erlitten. Aber über dem Einzelschicksal der jeweiligen Aufführung, des jeweiligen persönlichen Erfolges oder Mißerfolges fanden wir uns jederzeit in dem Gedanken, der allein der Sache des Theaters galt und in der wir uns wahrlich vom ersten bis zum letzten Tag verstanden haben. Ich danke Ihnen herzlich und wünsche Ihnen und Ihrem neuen Leiter alles Gute in Ihrem Leben und in Ihrer Kunst.“
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Unter Jessners Leitung wurde noch das nächste Stück beschlossen und disponiert: Liebesleid und -Lust von William Shakespeare.
Endlich geht Renates lang gehegter Wunsch, Shakespeare am Staatstheater spielen zu dürfen, in Erfüllung. Als Prinzessin von Frankreich hat sie wieder hervorragende Kollegen an ihrer Seite: Granach als König von Navarra, Aribert Wäscher spielt den Biron, Elfriede Borodin die Rosalinde, Hans Leibelt als Bauer Schädel, Albert Florath gibt den Don Adriano, Veit Harlan als Longaville und in der Rolle des Haushofmeisters sehen wir den renommierten Paul Bildt.
Fehling führt Regie und seine Probenarbeit ist wieder mal äußerst anstrengend. Fehling verlangt überaus exakte Intonation und kann in Renate erneut unbekannte Aspekte des Theaterspielens wecken. Premiere ist am 18. März 1930 im Staatstheater am Gendarmenmarkt.
Programmzettel, März 1930.
Richard Riedel schreibt in Der Tag: „Soll diese Aufführung einen Umschwung im Programm und Einstellung der Staatstheater bedeuten? Dann wollen wir sie, eine Frühlingsschwalbe nach diesem Winter unseres Mißvergnügens, doppelt freudig begrüßen. Es kommt selten vor, dass sich jemand an dieses sehr frühe Shakespeare-Lustspiel heranwagt. Es ist unverkennbar das unausgegoorene Frühwerk des Genies. Eben deshalb soll man es kennen und mit ihm dem großen Menschen Shakespeare näherkommen. Die innere Gegensätzlichkeit hatte der Spielleiter zart und doch wirksam herausgearbeitet.
Das anmutige und lebendige Damengefolge wurde von Renate Müller sympathisch geführt; der Übergang von der Heiterkeit zum Ernst gelang ihr, der Regie angepaßt: sinnvoll abgedämpft und wahr. Die Bühnenmusik wurde stimmungsvoll mit Originalmelodien aus der Elisabethanischen Zeit bestritten. Die Aufführung, vom Publikum sehr herzlich aufgenommen, ließ die kühne Hoffnung aufkommen, in den nächsten Spielzeiten den ganzen Lustspiel-Shakespeare zu sehen - so wie ihn Fehling für uns neu entdeckt hat: als rhytmisches naiv sinnfältiges Welterlebnis.“ 43
Mit Paul Bildt in „Liebesleid und Lust“, Staatstheater Berlin, März 1930.
Alfred Kerr kommentiert im Berliner Tageblatt: „I. Hätte Jürgen Fehling dieses Lustspiel des Anfängers William Shakespeare nicht ausgeurnt - man könnte trotzdem weiterleben. Darin bin ich seltsam. II. Eine Munterkeit, die keine wird. Eine Komik, die jemand mit etwas betretenem ‚hi,hi‘ zugibt. Warum soll man sich anstellen, als ob das lustig wäre. Mitmenschen! - unsere Lustigkeiten sind anders. ‚Heute ist heut.‘ IV. Und standen doch gute Mimen (wie Wäscher, Bildt, Granach, die Müllersche Renate, Fräulein Elfirede Borodin, Harlan) in sehr unkleidsamer Gewandung auf den Brettern. VIII. Shakespeares ärmliches Lustspiel ist Vorwand, um den Übergang zwischen Jessner und Legal auszufüllen. ... Neue Dramen und neue Dramatiker schwitzt auch Legal nicht aus der flachen Hand. Dramen in Auftrag zu geben, o Gott, schafft noch keine Dramatiker.“ 44
Jhering verreißt in seiner Besprechung das Stück, die Schauspieler und natürlich vor allem Jessner. Über Renate schreibt er: „Es ist eine Zumutung, Frl. Renate Müller, die in anspruchslosen Rollen möglich ist, in einer klassischen Partie herauszustellen. Renate Müller kann sich im Kostüm und in der klassischen Diktion nicht bewegen. Sie bleibt ausdruckslos und unbeholfen, matt, witzlos, mühselig.“ 45
Osborn schließt sich der Kritik an: „Renate Müller, Augenschmus wie stets, doch ohne rechten Charakter, und in der Rede besonders ungepflegt.“ 46
Trotzdem ist die Müller in die Reihe der Staatstheaterstars aufgerückt und ihr Vertrag soll auch für die kommende Spielzeit unter dem neuen Intendanten verlängert werden. Doch zur Vertragsunterzeichnung kommt es nicht mehr, denn Renate will sich nicht mehr fest an ein Theater binden und schlägt den neuen Kontrakt aus. Ab jetzt will sie sich auf ihre Filmkarriere konzentrieren. Sie verläßt vorzeitig das Staatstheater und gib ihre Rolle in Liebesleid und Lust an ihre Kollegin Margarete Schön ab.
In der Zukunft wird die Leinwand Renates ganze Arbeitskraft in Anspruch nehmen, denn die Angebote die ihr unterbreitet werden sind mehr als verlockend und Renate Müller stürzt sich voller Begeisterung in das neue Metier Film.
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Die Leitung der Staatlichen Schauspielhäuser hat nun der Schauspieler und Regisseur Ernst Legal übernommen. Jessner bleibt noch bis März 1933 als Regisseur in Deutschland tätig, dann nehmen ihm die Nazis die schöpferische Kraft. Er emigriert 1937 in die USA, wo er als Präsident des „Jewish Club of 1933“ wirken kann. Letzter ehrende Höhepunkt seines Lebens wird sein 65. Geburtstag, auf dem Lion Feuchtwanger eine Festrede hält.
Leopold Jessner starb am 13. Dezember 1945 in Los Angeles an gebrochenem Herzen. Sein Nachruhm blieb im Gegensatz zu dem von Max Reinhardt blaß.
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Portraitstudie aus dem Jahr 1930
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