Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt. Uwe Klöckner-Draga
Johannes Riemann in „Trixie“, 1928
Der Berliner-Lokalanzeiger fragt in seiner Ausgabe vom 17. September 1928 bekannte Schauspielerinnen der Stadt: „Was tun Sie, wenn Sie nicht Theater spielen?“ Auch Renate Müller wird interviewt: „Eine Dame von Welt, elegant und mondän. Sie spielt auf der Bühne schöne Frauen, also sich selbst. Gegenwärtig im Lustspieltheater, bald aber bei Jessner im Schauspielhaus. ‚Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich den Weg zum Theater fand, denn ich stand bereits vor meinem Abitiurium, als mich diese Leidenschaft packte. Zuerst wollte ich Sängerin werden, und nur, um mich mimisch und darstellerisch auszubilden, ging ich in die Schauspielschule Reinhardts, wo ich, wie es gewöhnlich geschieht, eines Tages entdeckt wurde und plötzlich auf der Bühne stand als Fanny Elßler in ‚L’Aiglon‘. Was ich am liebsten tue, wenn ich nicht Theater spiele? Ach, es wäre so schön, den Vormittag zu verschlafen, um abends wieder lustig zu sein. Aber ich habe keine Zeit dazu und tausend Pläne im Kopf. Ich will meine Gesangstudien fortsetzen, ich will Englisch lernen, Tennis spielen, Auto fahren, Bücher lesen. Ich möchte so viel tun ... aber der Tag ist ja so kurz. Was ich liebe? Blumen, ein neues Kleid, meinen Balkon, die Gegenwart und die Zukunft. Was ich erstrebe: Erfolg auf der Bühne. Und was ich mir wünsche? Alles oder nichts!“
Am 2. Oktober folgt eine weitere Premiere: Ladislaus Fodors Arm wie eine Kirchenmaus. Der ungarische Autor schildert die Geschichte eines jungen Mädchens, arm wie eine Kirchenmaus, aber redegewandt, unerschrocken, und fabelhaft tüchtig, die sich eine Sekretärinnenstellung bei einem erfolgreichen Bankpräsidenten erkämpft und schließlich auch sein Herz erobert. Am Schluß wird sie von ihm sogar geheiratet.
Der Inhalt dieses Lustspiels hat große Ähnlichkeit mit dem Drehbuch zu dem Tonfilm Die Privatsekretärin, mit dem Renate Müller später einen Sensationserfolg erzielen wird. In der erfolgreichen Bühnenfassung (von Siegfried Geyer) spielt Erika von Thellmann die Hauptrolle, der Susie Sachs. Renate sehen wir als Sekretärin Olly, die ihren Bankdirektor (gespielt von Johannes Riemann) „erotisch irritiert und glaubhaft verkörpert.“ 25
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Am Staatstheater
Das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt
Im Herbst 1928 schließt Renate Müller einen Vertrag mit dem Preußischen Staatstheater. Es ist die Krönung ihrer Bühnenlaufbahn, denn diese Bühne haben die erlauchtesten Vertreter der deutschen Schauspielkunst betreten, es ist gewissermaßen „geheiligter Boden“. Hier ein Engagement zu bekommen bedeutet den künstlerischen Durchbruch erreicht zu haben. Seit 1919 wird das Theater im Schinkel-Bau am Gendarmenmarkt von Leopold Jessner geleitet, der seit seinem Amtsantritt die Konservativen gegen sich hat, da nun „die letzte christliche Direktion“ im Berliner Theater in jüdischen Händen ist. Jessner versteht das Theater als „Stätte der Erhebung, der edlen Unterhaltung“, trotzdem bleibt der neue Intendant in den kommenden Jahren für die „Völkischen“ der „artfremde Kulturjude“. In Theaterkreisen gilt er als Rivale und Gegenspieler Max Reinhardts. Mit einer Aktualisierung seines Klassikerrepertoires will Jessner seinem Haus einen Bezug zur Gegenwart geben. Er setzt große Regieakzente und erreicht sein erklärtes Ziel, das Staatstheater mit höchsten Ansprüchen zu führen. Bereits sein 1919 aufgeführter Wilhelm Tell wurde zum Freiheitsschrei gegen Staatstyrannei und spiegelte die Nachkriegssituation in Deutschland wider. Berühmt und stilbildend wurde jedoch seine Inszenierung von Shakespeares Richard III. (1920) wo der Übergang vom Bühnenbild zur Bühnenarchitektur wahre Triumphe feierte. Er suchte durch symbolische Mittel (z. B. die Treppe als Spielfläche) die Idee eines Stückes deutlich zu machen. In seinen Inszenierungen ist Jessner besessen von seinen Visionen, die auch seine Schauspieler mitreißen. Diese Wirkung liegt im Unerklärlichen, Aufrüttelnden, das bezwingt und den Eindruck der Einmaligkeit hervorruft. Für eine junge Schauspielerin wie Renate Müller ist das die Erfüllung schlechthin, und Intendant Jessner gibt ihr die Möglichkeit, sich an seinem Haus weiter freizuspielen und ihr Können zu verfeinern.
Renates erster bedeutender Bühnenauftritt unter Jessner ist gleichzeitig auch ein Stück Theatergeschichte. Für den am 11. Februar 1929 verstorbenen Schauspieler und Maler Albert Steinrück gibt das Staatstheater am Gendarmenmarkt eine Gedächtnisvorstellung von Wedekinds Der Marquis von Keith. Steinrück hatte sein Leben lang aus dem Vollen gelebt und so wenig an den Tod gedacht, dass nun das Geld für seine Beerdigung fehlt. Daraufhin setzt die Bühnengenossenschaft eine Benefiz-Veranstaltung an.
Es wird ein Stück von Frank Wedekind ausgewählt, weil Steinrück in seiner großen Münchner Zeit, der Zeit des „Simplicissimus“, der erste wirklich überzeugende Marquis von Keith war und Wedekind den Freund „meinen einzigen Schauspieler“ nannte. Herbert Ihering: „Für ihn hatte Steinrück die sachliche Härte der Diktion, die Knappheit der Gebärde und hinter dem lehrhaften, beinahe moralisierenden Fanatismus die Magie der einsamen Persönlichkeit.“
Schauspielerin am Staatstheater in Berlin, 1929. Foto: Binder, Berlin.
Jessners Inszenierung wird nur ein Mal am 28. März in einer Nachtvorstellung aufgeführt. Es ist das gesellschaftliche Ereignis, an dem die Hautevolee von Berlin teilnimmt. Im Parkett, in den Rängen, bis zur Galerie hinauf, sieht man viele bekannte Gesichter. Darunter Oberbürgermeister Gustav Böß, Max Reinhardt und Albert Einstein. Im Foyer wird eine Schauspielerin von einem Reporter gefragt, ob sie nicht auch auf der Bühne mitwirke. Sie antwortet: „Ich bin nicht prominent genug, um zu statieren.“ Kurz vor halb zwölf tritt Heinrich Mann vor den Vorhang und spricht einige herzliche Worte in Erinnerung an den toten Freund.
Programm der Gedächtnisfeier für Albert Steinrück vom 28. März 1929.
Dann steigt die Komödie. Alles, was in der deutschen Theaterwelt Rang und Namen hat, nimmt an dieser Aufführung teil und das Publikum schwelgt in Berühmtheiten, die sich kaum zählen lassen. Von Werner Krauss, Heinrich George, Otto Wallburg, Conrad Veidt, Fritz Kortner, Paul Wegener bis Rudolf Forster. Von Elisabeth Bergner, Carola Neher, Tilla Durieux bis Mady Christians. Je größer die Prominenz, je kleiner die Rolle: Fritzy Massary und Käthe Dorsch spielen Dienstmädchen. Trude Hesterberg und Tilly Wedekind agieren als Bäckerweiber. Auf dem Programmzettel ganz unten - drei Kellner: Hans Albers, Ernst Deutsch und Kurt Goetz. Je entfernter von der Haupthandlung, um so mehr Freiheit zu improvisatorischer Laune.
Als Gäste des Marquis von Keith stehen auf der Bühne u.a.: Asta Nielsen, Henny Porten, Maria Koppenhöfer, Elsa Wagner, Paul Otto, Mathias Wiemann, Marlene Dietrich und Renate Müller. Jessner hat Mühe seine Schauspieler zu zügeln, sie sind so spielfreudig, dass sie fast an Wedekind vorbeispielen. Der Hilfsinspektor ist Karlheinz Martin, das Bühnenbild stammt von Ernst Pirchan und die Bühnenmusik liefern die Weintraub Synkopators. Dem Ehrenausschuß gehören an: Victor Barnowsky, Georg Bernhard, Albert Einstein, Gustav Hartung, Max Liebermann, Reichstagspräsident Paul Löbe, Max Reinhardt, Werner von Siemens, Franz Ullstein, Bruno Walter und Theodor Wolff. Auch finanziell wird der Abend ein ungewöhnlicher Erfolg. Die Einnahmen kommen der Witwe Steinrücks sowie engagementlosen Schauspielern zugute.
Renate kann sich nun im Kreis der berühmtesten Berliner Bühnen- und Filmstars mühelos behaupten. Sie hat sich zu einer emanzipierten Frau entwickelt, die nach ihren eigenen Regeln lebt und handelt. Sie ist vielbeschäftigt, besucht häufig Nachtclubs und ist gern gesehener Gast auf jeder Party. In ihrer neuen Wohnung in der Landshuter Straße 27 veranstaltet sie Künstlerfeste, wo sich dann etwa dreißig bis vierzig Personen versammeln: Schauspieler, Filmleute, Musiker, Journalisten, Maler. Zu ihrem Freundeskreis gehören u. a. Fritz Lang, Carl Froelich, Otto Wallburg, Robert Siodmak und natürlich Karin Evans.
Renate Müllers Karriere verläuft weiter zielstrebig, sie wird jetzt in mehren Stücken eingesetzt und überzeugt durch ihre Wandlungsfähigkeit. Sogar Kerr richtet sein Augenmerk verstärkt auf die junge Schauspielerin - und das hat seinen Grund.
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