Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt. Uwe Klöckner-Draga

Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt - Uwe Klöckner-Draga


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die Gesangsposse in den Rahmen des zierlichen Raumes einspannte. Auch wie sie die Seitenlogen neben der Bühne mitbenutzte.“ 8

      Inzwischen hat sich Renate wie besessen mit Haut und Haaren der Bühne verschrieben. Das Theater ist für sie wie ein Schlüssel zu ungeahnten seelischen Offenbarungen; hier entwickelt sie eine neue Sicherheit und lernt ihre Stimme und ihren Körper zu beherrschen. Die Zeit auf der Schauspielschule gehört zu den glücklichsten Lebensabschnitten in Renate Müllers Leben.

      Bei einer Feier mit ihren theaterbesessenen Kommilitonen bekommt sie ihren ersten Schwips. Renate: „Ich hatte mir schon lange gewünscht, mal einen Schwips zu haben, so einen richtigen fidelen kleinen Schwips. Erstens, weil ich mir das reizend vorstelle, zweitens, weil ich der Überzeugung war, man müsse auch das mal durchgemacht haben. Als wir Schüler mal einen gemütlichen Bowleabend verabredeten, hielt ich die Gelegenheit für gekommen und verkündete laut, dass ich mir heute meinen garantiert ersten Schwips zulegen wolle. Der Abend wurde vergnügt und lustig und ich gab mich der Bowle mit Inbrunst hin - aber leider ohne Erfolg. Sei es nun, dass die Bowle zu schwach oder ich zu stark war, es gelang mir jedenfalls beim besten Willen nicht, irgendwelche Spuren einer leichten Umnebelung bei mir festzustellen. Jedes meiner Worte, jede Bewegung beobachtete ich aufmerksam, ging langsam durchs Zimmer, - nein, ich ging noch so sicher wie nur je. Resigniert kehrte ich zu meinem Stuhl zurück und - machte auf unsanfteste Art mit dem Boden Bekanntschaft. Schallendes Gelächter. ‚Erst den Stuhl wegziehen und dann noch auslachen, das ist eine Gemeinheit‘, schimpfte ich. ‚Wir den Stuhl? Aber Renate, Du hast einen Schwips.‘ Zur Versöhnung holte ich Werner Fuetterer zu einem Tanz. Und es stand auf - Ottuard. (Mit Namen Otto Eduard Hasse, einer der besten unseres Jahrganges.) ‚Nein, ich wollte doch mit Werner tanzen.‘ ‚Du hast aber mich aufgefordert.‘ ‚Nein Werner.‘ ‚Nein mich, scheinbar siehst Du nicht mehr deutlich.‘ Also das ging mir denn doch zu weit. Einen Blonden konnte ich doch schließlich noch von einem Dunklen unterscheiden! Was soll man aber machen, wenn alle einstimmig brüllen, ich hätte die beiden verwechselt? Ich bot den Wahrheitsbeweis an, dass ich nicht im mindesten beschwipst sei. Angenommen. Ich sollte auf einem Strich balancieren. Eine weiße Schnur quer durch das Zimmer bezeichnete meinen Leidensweg. Nanu, der Strich war doch eine Wellenlinie? Konnte ich wirklich nicht mehr richtig sehen? Ich faßte mich an den Kopf, zwickte mich in den Arm, also gefühllos war ich noch nicht, und das gute Köpfchen war auch noch da. Um mich herum todernste Gesichter. Schnurgerade, ich schien an mir selber zu zweifeln, nahm all meine Energie zusammen, spannte mein Rückgrat und die Beinmuskeln an und begann meinen Drahtseiltanz. Mit haarscharfer Genauigkeit setzte ich ein Bein vors andere und traf immer daneben. Die Linie unter meinen Füßen schien zu schwanken, bei jedem Fußtritt wich sie nach der anderen Seite aus. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Einmal drehte ich mich blitzschnell um, aber unbewegt saß Werner am Boden und hielt die weiße Schnur fest. Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass er sie bei jedem Schritt hin und her zog, aber nie gelang es mir, ihn zu überführen. Ich hatte die Probe nicht bestanden. Und nun begann mein Leidensweg erst wirklich. Kein Widerspruch half. Mit sanfter Gewalt zog man mich aufs Sofa und verpackte mich unter drei Federbetten. ‚Das treibt am besten raus.‘ Jeder wußte noch ein anderes unfehlbares Rezept und im Laufe einer halben Stunde mußte ich folgende Heilmittel zu mir nehmen: 2 rohe Kartoffeln mitsamt der Schale, eine ausgepreßte Zitrone mit Pfeffer, drei Magenbitter mit Tomatenpüree (Prärieauster nannten sie das), einen Eßlöffel voll Salz nebst einer halben Zwiebel. Dazu unaufhörlich eiskalte Umschläge auf meine arme Stirn gepreßt, während mein Körper unter den Federkissen dampfte. All meine Abwehrversuche wurden energisch erstickt. Schließlich lag ich ganz apathisch da und ließ alles über mich ergehen, denn nun fühlte ich mich wirklich kreuzelend. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass alles Theater war. Trotzdem habe ich meinen Schwur gehalten. Denn niemals werde ich meinen ersten Schwips vergessen, der - in Wirklichkeit - gar keiner war.“ 9

      Am 31. Mai 1925 geht das Schuljahr der Schauspielschule zu Ende. Zu der Abschlußaufführung kommen wie immer einige Theaterdirektoren und Agenten, um sich junge Talente auszusuchen. Fast alle Schauspielschüler finden dabei ein Engagement, der eine nach Greiz, der andere nach Schneidemühl, der dritte vielleicht nach Frankfurt am Main oder nach Breslau. Bei dieser Abschlußprüfung ziehen die Schülerinnen Evans und Müller das große Los, sie werden an Berliner Bühnen verpflichtet. Karin geht an das Deutsche- und Renate an das Lessing-Theater, das Arthur Hellmer gepachtet hatte.

      Privatfoto aus dem Jahre 1926.

      Doch bevor die neue Spielzeit in Berlin beginnt nimmt Renate ein Sommerengagement - vom 9. Juli bis 31. August - am Harzer Bergtheater, einer Freilichtbühne in Thale, an. Es ist die älteste Naturbühne Deutschlands. Dr. Ernst Wachler hatte sie 1903 nach dem Vorbild antiker Amphitheater in der Natur errichten lassen und formulierte seine Idee mit dem Werbespruch: „Hinaus ins Freie, in den Reichtum der Landschaft, dass ihr Duft und ihre Stimme hier auf den Zuschauer überfließe.“

      Erich Pabst, der in Thale mit Dr. Wachler die Oberspielleitung übernommen hat, bietet einigen seiner Schüler die Möglichkeit, sich Bühnenerfahrung in der Provinz anzueignen. Mit von der Partie sind außer den ehemaligen Schauspielschülern Müller, Evans und Hasse, auch der Schauspiellehrer Lothar Müthel und die Schauspieler Kurt Arndt und Helmuth Rudolph.

      Das Freilichttheater befindet sich auf dem Hexentanzplatz, am Osthang des Harzes, über Thale. Von dort hat man einen herrlichen Blick über die Ebene bis Magdeburg. Es ist nicht leicht für einen Anfänger auf dieser Bühne, die 1200 Personen faßt, zu bestehen. Sie hat riesige Ausmaße und natürlich keinen Vorhang. Die Gänge sind groß, die Gesten müssen ausdrucksstark sein, der Text muß besonders deutlich gesprochen werden, denn das Felsmassiv duldet keine falschen Töne.

      Vor allem klassische Stücke werden hier gegeben, doch zum 60. Geburtstag des in Weimar lebenden Dichters Friedrich Lienhard, werden im Sommer 1925 auch seine Werke Gottfried von Straßburg, Heinrich von Osterdingen, König Arthur und Wieland der Schmied in Thale aufgeführt. Die achtzehnjährige Renate übernimmt in diesen Stücken, in denen es sehr teutonisch und mythologisch zugeht, die Rollen von schwertumgürteten deutschen Jungfrauen. Ihre interessanteste und größte Leistung in Thale ist aber die Rolle der Helena in Shakespeares Ein Sommernachtstraum. Das Publikum ist begeistert und die Kritiken erwähnen die Anfängerin lobend. Sogar überregionale Zeitungen, die sonst Provinztheaterleistungen keine Beachtung schenken, erwähnen diese besondere Leistung in Artikeln. Renate äußerte sich rückblickend über ihre Zeit in Thale kritisch: „Ich freue mich noch heute, dass ich nicht im Publikum sitzen mußte, um das mitanzusehen!“ 10

      * * *

      Direktor Arthur Hellmer ist gebürtiger Österreicher und ist ebenfalls vom Theater besessen. Bereits im Jahre 1911 hatte er sein erstes eigenes Theater eröffnet, das Neue Theater, in Frankfurt am Main. In seinem Spielplan lag der Schwerpunkt auf der expressionistischen Dramatik. Hellmer hat ein Gespür für schauspielerisches Talent; auch die junge Helene Weigel gehörte zu seinen Entdeckungen, die er förderte.

      Mitte der zwanziger Jahre versucht sich Hellmer auch in der Theatermetropole Berlin zu etablieren und pachtet drei Bühnen gleichzeitig: das Trianon-, das Kleine- und das Lessing-Theater. Das nahe der Kronprinzenbrücke, gegenüber dem Reichstag gelegene - 1889 mit Lessings Nathan der Weise eröffnete Theater - lebt von dem im Deutschen Theater erprobten Repertoire. 1925 sind an diesem renommierten Haus u. a.: Adele Sandrock, Olga Limburg, Lucie Höflich, Leopoldine Konstantin, Anton Pointner, Julius Falkenstein, Camilla Spira, Ida Wüst, Wilhelm Bendow und Albert Bassermann engagiert. Nach ihrem Thale-Gastspiel zählt nun auch Renate Müller zum Ensemble.

      Renates erste Rolle an diesem Theater ist die einer belanglosen Hofdame in Edmond Rostands Der junge Aar (L’Aiglon). Rostands Historienspiel von dem „kleinen Adler“, dem Sohn Napoleons I, der so früh tragisch endete, ist eigentlich für das expressionistische Berlin nicht zeitgemäß. Aber da sich Klabund (Deckname des Schriftstellers Alfred Henschke) entschloß, es zu übersetzen, „kam doch ein Bühnenschmaus von mancherlei Reizen zu Tage.“ 11 Unter der Regie von Berthold Viertel lernt Renate viel. Während der Probenarbeit fällt dem Regisseur nicht nur Renates Talent auf, sondern auch,


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