Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt. Uwe Klöckner-Draga

Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt - Uwe Klöckner-Draga


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Renate ihre große Chance: Kollegin Erika von Thellmann erkrankt und Renate kann ihre Rolle, die der schönen Tänzerin Fanny Elßler übernehmen. An der Seite von Lothar Müthel (Aiglon), Gerda Müller (Comtesse Camerata) und Dagny Servaes (Marie Louise) kann die junge Schauspielerin überzeugen. Renate liebt, lacht, weint und kämpft in ihrer Rolle und kann zeigen, dass sie die Grundlagen der Schauspielerei bei Reinhardt gelernt hat und umsetzen kann. Plötzlich springt der Funke über. Es ist jetzt ihre Rolle und Publikum und Direktion sind voller Anerkennung. Der Lokalanzeiger schreibt: „Berthold Viertel läßt alle Mimen des Theaters springen und erreicht einen stürmischen Erfolg damit. Eine Meisterleistung der Regie.“ 12 Und in der Vossischen Zeitung steht: „Applaus und Ovation ohne Widerspruch.“ 13 Auch das Berliner-Tageblatt spricht von einem „stürmischen Publikumserfolg dieses effektreichen Stückes.“ 14 Nachdem sich Erika von Thellmann am Theater zurückmeldet und ihre Rolle wieder übernimmt, kündigt Renate ihren Vertrag, da Direktor Hellmer ihr weder künstlerisch noch finanziell entgegenkommt, bzw. entgegen kommen kann. Hellmer konnte sich in Berlin nicht durchsetzen und gibt die Leitung des Theaters wieder ab.

      Nichtssagende Rollen und zweite Besetzung sind für die ehrgeizige Renate nicht erstrebenswert. Sie sprüht vor Selbstbewußtsein, ist jung, schön, ehrgeizig und als der umstrittene Regisseur, Kritiker und Zeitschriftenherausgeber Joe Sherman das „Theater Junge Generation“ in der Klosterstraße 43. gründet, ist Renate voller Begeisterung mit von der Partie. Es ist ein Parallelunternehmen zur „Jungen Bühne“, die von Moritz Seeler geleitet wird.

      Das Ensemble vom „Theater Junge Generation“ ist ein avantgardistisches Kollektiv, welches jeden Sonntagvormittag in einer Matinee ein Stück eines noch unbekannten Autors zu Uraufführung bringt. Selten vergeht so eine Aufführung ohne einen kleinen Theaterskandal und manchmal brauchen die Schauspieler viel Mut, um in dem Gelächter und Pfeifen weiterzuspielen. Die „Junge Generation“ will mit realistisch provozierenden Stücken die Fesseln des konventionellen Theaters sprengen. So kommt eine ganze Reihe seltsamer Erstaufführungen heraus, bei denen Renate trotzdem nicht unentdeckt bleibt. Man sieht sie in diesem Schauspielkreis in dem heute vergessenen Stück Brigitte von Albert Hirte, indem es sogar „blutschänderisch“ zugeht. Die Premiere findet am 29. November 1925 statt. Die Reaktion des Publikums ist geteilt, es ist entrüstet und amüsiert zugleich. Begeistertes Klatschen und gellendes Pfeifen. Das Stück kann schließlich nicht zu Ende gespielt werden. Berlin hat einen neuen Theaterskandal. Die Aufführung wird in den Zeitungen verrissen: „Wenn Lächerlichkeit töten könnte - Herr Joe Sherman wäre schon nach der Regie von ‚Klavier‘ nicht mehr am Leben gewesen. Gestern, wieder in einer Matinee, wieder in der Klosterstraße, prustete das Publikum, prusteten zum Schluß sogar die Darsteller. Das ‚Drama‘, das aufgeführt wurde, begab sich in zwei Teilen, hieß ‚Brigitte‘ und war von Albert Hirte. Unbeschreiblich. Unkritisierbar. Aber weiß man, ob der Autor das Stück überhaupt auf die Bühne, weiß man, ob er es in dieser Gestalt auf die Bühne lassen wollte? Was Herrn Sherman in die Hände fällt, ist verloren. Diesmal versteckte er seinen Namen. Diesmal verkroch er sich hinter den Inspizienten. Diesmal schien nur wie zufällig ein Teil der Presse benachrichtigt zu sein. Diesmal machte Herr Sherman Vertuschungsmanöver. Die Sonntag-Mittag-Existenz des Herrn Sherman könnte gleichgültig sein, wenn der Grad der Dreistigkeit, mit der hier die Öffentlichkeit belästigt wird, nicht an die Folgen denken ließe. Herr Sherman ist der neue Rottertyp. Er wollte sich zuerst auffällig im Theater festsetzen. Es mißlang. Jetzt wählte er die anonyme Methode. Er verwischt die Spuren. Er wanzt sich heimlich ein. Er macht sich an Unzufriedene heran, um schließlich nach zäher, bohrender Vorarbeit mit einem Konzessionsgesuch hervorzutreten. Als die Revolution kam, benutzten die Rotters die allgemeine Verwirrung, um, gestützt auf die Gutachten der um ihre Existenz besorgten Schauspieler, ihre Konzessionsfähigkeit durchzusetzen - trotz ihrer Vergangenheit. Auch Herr Sherman wird im Zustand einer allgemeinen Verwirrung, gestützt auf die Gutachten unzufriedener Schriftsteller und Schauspieler, die er zuerst ‚ans Licht zog‘, sich als Direktor aufspielen wollen - trotz seiner Vergangenheit. Fähigkeit löscht jede üble Vergangenheit aus. Unfähigkeit bestätigt sie. Herr Sherman bestätigt durch seine Gegenwart seine Vergangenheit.“ 15, kommentiert Herbert Jhering, der führende Theaterkritiker vom Berliner-Börsen-Courier. Renate Müller erntet trotzdem Anerkennung und Sympathie, und diese kommt von dem gefürchteten Alfred Kerr, der süffisant in seiner Besprechung bemerkt: „Die Brigitte spielt ein Fräulein Renate Müller. Man wird sich den Namen Müller merken müssen!“

      Sherman läßt sich nicht entmutigen und bringt ein weiteres provokantes Stück heraus, das überhaupt keinen Namen trägt, sondern nur mit + + + bezeichnet wird. Mit dieser Aufführung versetzt Sherman sich den Todesstoß, sein Theaterunternehmen bricht mitten in der Saison zusammen. Einige Schauspieler stehen nun, wie in solchen Fällen nicht anders zu erwarten, ohne Engagement da. Renate: „Für mich fielen immerhin einige gute Kritiken dabei ab, die mir meine erste Bombenrolle verschaffte.“ 16

      Renate hat in dieser Zeit viele Männerbekanntschaften, die eine oder andere Affäre, will aber von einer festen Beziehung nichts wissen, denn sie lebt nur für das Theater, das wie ein Lebenselixier auf sie wirkt. In der Welt des Theaters kann sie der Wirklichkeit entfliehen. Die noch nicht Volljährige ist flügge geworden und ist aus der Wohnung ihrer Eltern ausgezogen. In Berlin-Wilmersdorf mietet sie ihre erste eigene Wohnung, in der Nachodstraße 28. Die Eltern stehen ihr dabei nicht im Wege und unterstützen ihre Tochter in all ihren Plänen. Und als Renate voller Stolz die Familie zum erstenmal zu sich zum Tee bittet, versichert sie ihnen: „In zwei Jahren muß ich prominent sein!“ - Ein Vorsatz, den Renate auch glücklich und viel umfassender in die Tat umsetzen wird, als ihr damals überhaupt bewußt sein kann. In der Gegenwart muß Renate aber erst einmal darangehen, die Miete zu verdienen. Möglichkeiten gibt es für dieses attraktive Mädchen mit den hübschen Beinen genug. Ihre Qualitäten werden nicht nur als Schauspielerin erkannt, sondern auch als Photomodell. Renate macht Reklame für Modeartikel. Sie ist ein Energiebündel und überaus beliebt. Mit ihrer Fröhlichkeit und Herzlichkeit steckt sie ihr Umfeld an. Schwester Gabriele erinnert sich: „Einmal saß ich mit ihr - damals war sie noch nicht prominent - in einem Kabarett und der Conférencier erzählte Geschichten, die ich gar nicht so furchtbar witzig fand. Aber Renate lachte so fröhlich und hell, dass es die gemäßigte Heiterkeit des Publikums übertönte. Alles schwieg, der Conférencier machte eine minutenlange Pause und dann lachte plötzlich der ganze Saal wie im Chor, angeführt von Renates hellem Solo, und die etwas müde Premierenstimmung dieses Kabaretts war gerettet.“ 17

      Theaterdirektor Victor Barnowsky, der die Ambition hegt, ein zweiter Reinhardt zu werden, hat Renates künstlerische Entwicklung verfolgt und verpflichtet sie an sein Komödienhaus am Schiffbauerdamm. Sie soll als Nachfolgerin Erika von Thellmanns die Rolle der Liedersängerin Tilly Hasselberger in der Komödie Der Garten Eden von Rudolf Bernauer und Rudolf Oesterreicher übernehmen. In vier Kapiteln werden Szenen aus dem Leben eines „unanständigen Mädchens“ gezeigt. Renate spielt an der Seite so großartiger Schauspieler wie: Georg Alexander, Heinrich Schroth, Olga Engel, Hilde Körber, Ilka Grüning und Hilde Hildebrand. Monatelang steht die neunzehnjährige Renate jeden Abend als Tilly auf der Bühne. Das ist eine neue Herausforderung, die der jungen Künstlerin viel Freude macht. Sie tanzt, weint und reißt das Publikum mit. In den Gazetten ist zu lesen: „Ein Riesenerfolg. So das richtige Stück für Berlin. Gemütvoll, phantastisch, kühn, mondän und witzig. Und trotz aller Unwahrscheinlichkeiten voll viel echten Lebens. In der Hauptrolle eine Schauspielerin, die Begeisterungsstürme erntet und verdient: Renate Müller.“ 18

      Renate Müller in den zwanziger Jahren.

      Renates Ehrgeiz wird nun weiter gewaltig angespornt, da sie nach jedem Aktschluß ein dutzendmal oder mehr vor den Vorhang muß. Barnowsky behält sie nach diesem erfolgreichen Gastspiel in seinem Ensemble. Ab und an wird ihr Talent auch in tragischen Rollen gefordert, wie bei der Uraufführung 1926 von Georg Kaisers Zweimal Oliver im Theater in der Königgrätzer Straße, wo sie neben dem begnadeten Alexander Moissi und Max Gülstorff, ihrem ehemaligen Schauspiellehrer, wirken kann. Doch vorwiegend wird die


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