Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt. Uwe Klöckner-Draga
der sie früher in modernen Rollen sah, angenehm überrascht haben.“ 32 Und Kerr über die „Müllerin“: „Das Maidle (bezaubernd von Renate Müller dahingelebt; mit einer gesetzten Dorfanmut; jung-madamig; derbhold) ... das Maidle will einen, der nicht drei Jahr beim Militär wegbleibt.“" 33
Und im 8-Uhr-Abendblatt hieß es: „Wie aber hätte der arme Essig, der nach Aufführung gierte, im kaiserlichen Deutschland ein anderes Finale machen können oder dürfen? Er läßt jedoch, ob unbewußt oder pfiffig, eine Chance offen: durch kleine Umbiegungen kann das ganze Stück ebenso ins Höhnisch-Antimilitaristische wie ins Triumphal-Militaristische gesteigert werden. Jürgen Fehlings Aufführung, ehrlich dem Dichter dienend, entschied sich, neutral wie dieser, für keine der beiden Tendenzen, wodurch allerdings leider der Militarismus das letzte Wort auf der Bühne wie im Stück losschmettert. Aber diese Aufführung war großartig in einer naturalistischen Unbarmherzigkeit, die mit der des Dichters wetteiferte, das furiose Pastorale symphonisch gliederte und durchkomponierte und wackere Schauspieler sich wacker ausleben ließen in Schreien, Brüllen, Schimpfen, Hauen, Holzen, Stechen. Die Zensur ‚sehr gut‘ gilt für alle.“34
Mit Hans Rehmann in „Des Kaisers Soldaten“, 1929
Premierenzettel von „Des Kaisers Soldaten“, Schiller-Theater, Berlin, November 1929.
Doch die BZ am Mittag meint über Fehlings Inszenierung: „Zweck und Sinn der Aufführung dieses (zwar absichtslos) militaristischen, die Zeit vorkriegsmäßiger Soldatenspielerei unbewußt glorifizierenden Stücks? An einer staatlichen Volksbühne! Wenn nur, um der Witwe des vor zehn Jahren gestorbenen Hermann Essig Aufführungshonorar zukommen zu lassen, dann gut. Aber die staatliche Schaubühne ist keine Wohltätigkeitsanstalt für Hinterbliebene. Oder: hat sich Fehling das Stück gewählt, weil es ihn mit besonderen Inszenierungsreizen lockte? Zu begreifen, aber es gibt zur Befriedigung wohl zu verstehenden Tatendranges zeitnähere Dramen, als dieses nur noch historisch anzusehende, aus Vorkriegsgeist geborene Stück. Als Aushebung, Rekrutentum, Soldatwerden noch im sozialen Leben, in der Volkspsyche eine Rolle spielen, die heute jahrhundertweit weg liegt. Jürgen Fehling legt den Hauptton auf die Komödie im Drama. Sein Thema ist die Militärseligkeit junger Bauernburschen, der Überschwang bebänderter Rekruten, das traditionelle Hingerissensein junger Dorfweiblichkeit. Saufen und Raufen. Klingklanggloribusch. Hier verläßt er alle Realistik und geht zur grotesken Typisierung. Aufmärsche, Übermut, Prügelei. - Sehr lustig, witzig hineinkomponiert in Rochus Glieses lächelndes Bühnenbild.“ 35
Und Renate über ihre Zusammenarbeit mit Fehling: „Selten habe ich so viel gelernt und für meine künstlerische Entwicklung gewonnen, wie damals unter Jürgen Fehlings herrlicher Regie.“ 36
Für Renate Müller überstürzen sich jetzt die Ereignisse: Rollen und Proben, Filmangebote und das Theater. Für Privatleben bleibt wenig Zeit. Beruflich hat sich Renate erfolgreich durchgesetzt, Intendant Jessner ist mit den Leistungen seiner Schauspielerin sehr zufrieden und setzt sie in seiner nächsten Produktion ein: Harte Bandagen, von Ferdinand Reyher. Das Stück behandelt ein zeitgemäßes Thema: den Sport, insbesondere den Boxsport. Mit der Hauptrolle wird Gustav Knuth vom Altonaer-Theater besetzt, der in Berlin damals noch völlig unbekannt ist. Ferner wirken die Kollegen Alexander Granach, Paul Bildt, Hans Leibelt, Lothar Müthel, sowie die Damen Lotte Lenja und Renate Müller (als Seidennutte Sybill) mit. Fritz Kortner inszeniert.
Nach einer langen Probenzeit von mehreren Wochen, muß Kortner - wegen anderer Theaterverpflichtungen - aus der Produktion aussteigen und Professor Jessner beendet die Arbeit.
Zur Premiere am 31. Dezember 1929 findet sich wieder geballte Prominenz im Staatstheater ein: Reichskanzler Hermann Müller, Reichstagspräsident Rudolf Hilferding, Albert Bassermann, Hans Albers u.v.a. sind die Silvestergäste von Jessner. Doch die Aufführung wird von der Kritik verrissen. Das Stück fällt mit Pauken und Trompeten durch, wird aber in dem Film Liebe im Ring wenige Monate später eine erfolgreiche Auferstehung finden.
Jessner hat als „bekennender Sozialdemokrat“ und „bekennender Jude“ die politischen und kirchlichen Konservativen weiterhin gegen sich. Aus diesem Grunde wird seine Repertoirepolitik immer wieder kritisiert: „Die Kritik am Staatstheater hat da einzusetzen, wo es nicht den Ausgleich zwischen dem beharrenden und dem vorwärtsweisenden Repertoire findet, wo es Lücken lässt. Diese Lücken sind heute, besonders am Staatlichen Schauspielhaus, groß. Das muß offen ausgesprochen werden. Das Staatstheater verschlingt ein Riesendefizit, weil nicht genug probiert wird. Hier liegt die einfache und banale Lösung. Die Theaterfrage am Gendarmenmarkt und am Knie ist kinderleicht zu beantworten. Sie hat nichts mit ‚modern oder unmodern‘ zu tun. Sie ist, das Banalste ist das Richtige: eine Fleißfrage. Jessner verbraucht zu viel Zeit mit Diplomatie, um Schwierigkeiten aus der Welt zu schaffen. Er hätte sie nicht nötig, wenn er arbeitete.“ 37 schrieb Jessner-Gegner Ihering bereits im März 1929.
Jetzt wird nach dieser „Blamagen-Inszenierung“ der Ton gegen Jessner noch schärfer und Ludwig Sternaux vom Berliner-Lokalanzeiger veröffentlicht unter der Überschrift: „Jessner k.o“: „Unbegreiflich die Wahl des Stücks. Dass die mit Fachausdrücken gespickte Sprache, ein deutsch, wie es im Sportpalast zu Hause, nur Eingeweihten und Gesalbten verständlich, ist das persönliche Pech dessen, der dort nicht Habitué ist. Jessner scheint es zu sein, es gehört das zweifelsohne zu den Aufgaben und Verpflichtungen des Generalintendanten. Aber nicht entgangen sein dürfte Herrn Jessner, der doch ein geistiger Mensch ist, die vollkommene geistige Öde dieses Opus, der sinnfällige Mangel an jedem seelischen Gehalt, die kindliche, ja kindische Naivität der Konstruktion, die grenzenlose Langeweile, die diese fünf Bilder atmen. In der Rolle des Boxers Phil Marvin ein neuer Mann: Gustav Knuth. Echt vielleicht in der unproportionierten Figur mit dem kleinen Kopf, dem ausdruckslosen Gesicht, aber im übrigen ohne Gestaltungskraft, ohne Wärme. Furchtbar ordinär Paul Bildt, ein Manager aus dem Scheunenviertel, wohlfeiler Kaschemmenhumor Alexander Granach. Billige Sportpalasttypen Hans Leibelt und Wolfgang Heinz. Die Weiblichkeit: Lotte Lenja und Renate Müller. Letztere hyperelegant, schöne Erscheinung, ganz jener Luxuspöbel, der in der Tiefe Sensationen sucht, Frau Lenja wieder eine dieser Gestalten, die alle Bars bevölkert, Halbwelt der Vorstadt.“ 38
Renate Müller (r) mir dem Ensemble von Ferdinand Reyhers „Harte Bandagen“, Staatstheater, Berlin 1930. Links: Lotte Lenja, daneben Gutsav Knuth.
Und der Berliner-Börsen-Courier seufzt: „Ein primitiver Reißer, stofflich pakkend. Boxer und Manager - naive Jungens, gerissene Jungens ... Training und Weiber: die ganze Atmosphäre der Trainingslager und Sportpaläste ist darin. Aber mit den Mitteln des alten Theaters dargestellt. Ein gutes Stück für ein Vorstadttheater oder für eine Reißerbühne...“ 39 Der konservative Arthur Eloesser schreibt in der Vossischen Zeitung: „Warum Renate Müller die Rolle von Lotte Lenja und Lotte Lenja die Rolle von Renate Müller spielte, darüber würde ich nachdenken, wenn ich nicht lieber vergessenen möchte. Das Staatstheater legt immer ziemlich harte Bandagen an, wenn es sich um das ganze Geschlecht handelt.“ 40 Doch Max Osborn schwärmt von der „bildhübsch-verlockenden Renate Müller“ 41
Gustav Knuth in seinen Erinnerungen: „Wir Schauspieler trugen an diesem Debakel noch die geringste Schuld. Dennoch: Wo immer ich mich in den nächsten Tagen zeigte, wurde ich auf dieses Fiasko angesprochen. Es war eine Qual! Eines Abends rettete ich mich ins ‚Kabarett der Komiker‘ am Lehniner Platz und dachte, hier würde ich endlich meine Ruhe finden. Aber nicht doch! Die fixen Kerle hatten bereits eine ätzende Szene über den Durchfall von
‚Harte Bandagen‘ in ihr Programm eingebaut. Den Rest gab mir jedoch ein Kollege, den ich auf einer Gesellschaft traf. Kaum hatte er meinen Namen aufgeschnappt, da sagte er: ‚Was? Wie heißen Sie? Knuth? Dann sind Sie das, der dem Jessner das Genick gebrochen hat!‘ Da merkte ich, wo ich war. Nämlich in Berlin. In dieser Stadt waren