Wir können machen, was wir wollen. Nina Pourlak
Man wäre dann einfach nur noch man selbst.
Manchmal muss ich daran denken, wenn ich zur Arbeit fahre und mir Paare gegenübersitzen. Wieso sie wohl ausgerechnet einander ausgesucht haben? Oder wer es noch hätte sein können? Oder ob es Liebe auf den ersten Blick war und ob es von Anfang an nur den einen gab, so wie bei uns. Dann würde ich am liebsten sofort eine Umfrage starten: Entschuldigung, wo habt ihr euch kennengelernt, und was ist dann passiert? Und wie geht‘s jetzt weiter?
Ich glaube, ich habe so ein Talent zum Glücklichsein. Ich bin doch schon immer so wahnsinnig glücklich, wenn ich aufwache, dass ich am liebsten aufspringen und laut singen würde. Dann sehe ich mir Tobi an, während er schläft, und ich bin sogar noch glücklicher, weil er immer so lustige Geräusche macht beim Schlafen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich aus diesem kleinen Ort komme, dass ich so wahnsinnig romantisch bin, aber das kann es ja eigentlich nicht sein, denn er kommt ja auch daher und ist überhaupt nicht so. Oder liegt es vielleicht daran, dass auch meine Mutter und mein Vater und meine Oma und mein Opa schon ihr ganzes Leben lang zusammen sind und dass das bei uns einfach in der Familie liegt und vererbt wird, so wie blaue Augen und Sommersprossen?
Jedenfalls – ich war schon immer so, und das habe ich auch in meinem Bewerbungsgespräch gesagt: Man könnte meinen, es liegt in meinen Genen. Ich glaube an die große Liebe, ganz fest, und ich habe meine große Liebe auch schon gefunden, obwohl ich ja eigentlich noch ziemlich jung bin. Und ich würde am liebsten allen Leuten da draußen mitteilen, dass es so etwas wirklich gibt und dass sie nicht so ungeduldig sein sollen und sich einfach darauf verlassen. Irgendwann ist es so weit, und sie werden ihr begegnen, und dann sollten sie aber auch nicht immer gucken, ob es noch was Besseres gibt, wenn sie dann jemanden gefunden haben, sondern einfach glücklich sein.
Vielleicht geht es darum nämlich am meisten. Vielleicht zählt letztendlich einfach nur diese Entscheidung füreinander. Vielleicht ist das ja auch kitschig, und Tobi sagt immer, ich sei so naiv, vielleicht haben diese Businesstypen beim Lesen auch zuerst gedacht, dass ich spinne oder nun mal einfach ein Landei bin und vollkommen weltfremd, aber zumindest hat es sich anscheinend von den anderen Bewerbungen abgehoben, denn genau deswegen haben sie mich doch schließlich eingeladen.
Sie fanden mich so very pretty und das alles total iiiiimoschenall und heartwarming, das ist nämlich ein amerikanischer Konzern, und so hat mir also mein vollkommenes Liebesglück auch noch diesen Job verschafft.
Und jetzt kriege ich jeden Tag diese Nachrichten von den ganzen einsamen Herzen auf meinen Server, und wenn die so ihre Geschichten erzählen, bin ich doch etwas schockiert darüber, was eigentlich alles Liebe ist oder sein soll heutzutage. Die kleinsten Dinge, an denen man sich festhält …
Ich habe gar nicht gewusst, wie das läuft, dass sich ständig irgendjemand nicht zurückmeldet, dass die Leute sich teilweise jede Woche mit soundso vielen Kandidaten verabreden, dass manche schon fünf Jahre allein sind und total verzweifelt, dass man sich absolut nie richtig sicher sein kann, ob das jetzt die große Sache ist oder wieder nur ein Flop und der andere einfach so am nächsten Morgen auf Nimmerwiedersehen verschwunden, ganz egal, was er vorher gesagt und getan hat. Und immer wieder, wie wenig einem Menschen genügt, um sich Hoffnungen zu machen. Weil er das so dringend will.
Manchmal ist es nur ein Blick, auf dem da irgendeiner sein gesamtes Hoffnungsgebilde aufbaut. Je mehr ich von diesen Geschichten lese, desto glücklicher bin ich, dass ich Tobi habe. Ich wollte ihm das sogar eigentlich grad heute sagen, aber er kommt in letzter Zeit immer so spät nach Hause. Er ist auch richtig müde von der Uni. Er kleidet sich auf einmal auch ganz anders, er hat solche Sportsklamotten von Adidas an, die er früher nie getragen hätte, nicht mal zum Training, und die wir auch nicht zusammen gekauft haben. Sonst waren wir immer zusammen einkaufen, wir sind dann in die Stadt gefahren, und jeder hat für den anderen etwas ausgesucht, von dem er gemeint hat, das würde zu ihm passen. Das war wie ein Wettbewerb. Und es hat auch immer gepasst! Oder wir haben uns jedenfalls nichts anmerken lassen und sind damit rumgelaufen, auch wenn es uns gar nicht gefallen hat – einfach so, aus Liebe. Das ist wirklich romantisch, oder?
Ist natürlich seine Sache, aber als ich ihn auf das Zeug angesprochen habe, meinte er so ganz barsch, irgendwann muss man sich eben auch mal verändern, und irgendwann muss man auch mal was alleine machen. Wir sind nicht aus unserem Dorf rausgekommen und nach Berlin gezogen, um genau so zu bleiben wie vorher. Sondern, um uns zu verändern.
Das hat mir irgendwie Angst gemacht. Er sah dabei auch auf einmal richtig ernst aus, als würde er gar nicht nur von den Anziehsachen reden. Ich weiß noch nicht, was ich verändern soll. Aber vielleicht verändert man sich ja auch von ganz alleine. Dann merkt man plötzlich, dass man über eine bestimmte Sache nicht mehr so denkt wie früher. Und man weiß gar nicht, wie das so passiert ist, Stück für Stück. Ich hoffe, das wird etwas Gutes sein.
Georg
Wenn ich eine Vorstellung am Theater hatte und die Leute mir applaudiert haben und begeistert gejubelt, wenn ich noch mal auf die Bühne gekommen bin und mich verbeugt habe, dann ist es besonders seltsam, anschließend ganz alleine nach Hause zu fahren. Heute war es sogar der allerletzte Abend, die vorerst letzte Vorstellung. Das ist besonders schlimm.
Man verabschiedet sich von den Kollegen, von dieser Art von Familie, die man einander für einen Moment war, und von der Bühne. Was die Zukunft bringt, ist völlig ungewiss.
Später sitzt man in der U-Bahn, und keiner jubelt, wenn man einsteigt, erst recht nicht bei der Agentur für Arbeit ein paar Tage danach. Niemand weiß, was man grade erlebt hat. Es interessiert ja auch keinen. Vielleicht war man grade ein König, ein Herzog oder zumindest ein Narr. Auf dem Weg heim ist man dann wieder nur noch irgendein müder Mensch in der U-Bahn, einer von vielen, der darauf achtet, sich möglichst weit weg von den anderen zu setzen, am liebsten in die Ecke an die Wand, denn dann ist schon mal eine Seite besetzt. Und schließlich unsichtbar machen, bis man wieder aussteigen kann.
Na ja. Wenn das klappen würde mit dem Unsichtbar machen, wäre ja gar nicht schlecht, vor allem, weil ich heute keinen Fahrschein gezogen habe. Das habe ich natürlich vor Begeisterung vergessen, den Blumenstrauß von der Abschlussfeier noch in der Hand, Alkohol und Adrenalin im Blut, ein paar Bilder im Kopf, die ich mir noch aufrufen kann, wenn ich mich ein bisschen darauf konzentriere beim Fahren: Bravo! Bravo! Bravo! Zugabe. Oder was haben sie noch mal gerufen? Vielleicht sogar meinen Namen …
„Einmal den Fahrschein, bitte, junger Mann!“
„Hallo, hören Sie schlecht? Den Fahrschein!!!“
Ich mach die Augen wieder auf. Nein, daran hab ich nicht gedacht. Und wenn doch, vielleicht habe ich gehofft, mir könnte so etwas heute nicht passieren – einen wie mich fragt man doch jetzt nach der Vorstellung nicht nach einem profanen Fahrschein, oder? Das kann das Schicksal unmöglich für mich vorgesehen haben. Das geht doch nicht. Doch. Hat es aber. Das Leben nimmt einfach keine Rücksicht. Hat es noch nie.
Ich muss aussteigen, mit diesen beiden muckeligen Gestalten mitkommen, die jeder Gelegenheitsschwarzfahrer von weitem erkennen würde, diese dilettantisch ungetarnten Kontrollettis mit Hitbags und Karottenhosen, Kugelschreibern in der Brusttasche, auf deren Stirn eintättowiert steht: Achtung, Kontrolle! Rette sich, wer kann!
Es ist eine Schande für jeden anständigen Schwarzfahrer mit etwas Ehre im Leib, von diesen beiden Anfängern erwischt zu werden, so viel ist sicher. Hoffentlich sieht mich keiner. Ich verzichte auf Protest und Meckerei, um die Sache so schnell wie möglich und so unauffällig wie möglich über die Bühne zu bringen, falls das eine ist. Ich setze mein Autogramm unter das BVG-Formular. All der Glanz des Abends ist schon wieder verblasst.
Ich bin eben einer, der in der Masse untergeht, keiner erkennt mein Gesicht auf der Straße. So war das schon immer. Ich strahle nur auf der Bühne. Nur wenn ich angeleuchtet werde, kann ich das Licht reflektieren.
Die beiden verschwinden in diesem Kabuff und kippen sich wahrscheinlich einen hinter die Binde. Die haben zumindest jeder einen, mit dem sie was trinken können und ihre Sorgen teilen. Und das war auch noch die letzte U-Bahn.
Ich laufe diesen Weg, den ich immer nehme, wenn ich vom Theater nach Hause gehe, bei jedem Wetter. Immer wenn ich hier entlangkomme, beim