Wir können machen, was wir wollen. Nina Pourlak
gewordener Amazone drauf von hinten erfasst. Immer wenn es nicht passiert, bin ich ein bisschen enttäuscht.
Das wäre doch mal was: In Filmen stoßen die beiden Hauptfiguren doch auch ständig an Häuserecken zusammen, wenn sie sich kennenlernen. Und einer von beiden hat immer unheimlich viele Einkaufstüten in der Hand, damit alles Mögliche auf den Boden fallen und der andere es dann für ihn aufsammeln kann. Aber in Wirklichkeit ist das nie so, und wahrscheinlich würde ich sie auch gar nicht mehr erkennen, die Dame, ohne Rad und umgeworfenen Tisch und Sonnenschein.
Es ist jetzt schon kälter geworden, und es sitzen tagsüber nicht mehr so viele Frauen vor dem Eiscafé. Bald ist es auch zu kalt zum Fahrradfahren. Das Café macht dann zu, das Eis liegt draußen vor der Tür, und der Schnee dämpft jede Bewegung. Mein nächstes Engagement steht noch in den Sternen und alles andere auch. Weihnachten fahre ich nach Hause, aber Silvester, da bin ich wieder zurück, und davor graut es mir besonders.
Da sollte man doch den küssen, mit dem man dann das ganze Jahr zusammen ist, um zwölf, oder nicht? Unbedingt sogar. Man sollte jedenfalls in dem Moment, wenn man küsst, denken, dass es so sein könnte, dass es der oder die Richtige ist. Und wenn man erst gar nicht küsst, oder man küsst nur einen Verwandten oder einen, der grade zufällig neben einem betrunken in der Gegend herumsteht, nein. Dann kann man sich für das ganze nächste Jahr auch gleich abmelden. Dann ist das schon wieder der totale Fehlstart.
Ich erinnere mich noch an so ein völlig entsetzliches Silvester, als ich mit einem kleinen Haufen von Trostbekanntschaften vor einem Club auf irgendeiner gottverlassenen Straße stand, und schlag zwölf dachten dann alle, sie müssten einen auf alte Freunde tun und sich um den Hals fallen. Und so eine Frau, der man ihre ganze Unzufriedenheit damit, dort mit mir stehen zu müssen, direkt ansehen konnte, hielt mir die schon angetrunkene Sektpulle hin. Und als ich nicht gleich zugegriffen habe, meckerte sie noch so: „Ey, trink, los, ich hab kein Lippenherpes oder so was, o. k.“
Ich hab dann gar nichts mehr gesagt, sondern habe mich einfach umgedreht und bin heimgegangen. Seitdem bleib ich Silvester am liebsten zu Hause. Das ist zu armselig und viel zu furchtbar, um so ein neues Jahr zu beginnen. Ich will einfach nicht, dass mir gleich am Anfang des Jahres die ganze Hoffnungslosigkeit meiner Situation vor Augen geführt wird. Aber ich fürchte, es geht mal wieder stramm darauf zu. Meine ganzen Pläne und Strategien bezüglich Akquise von Frau und Kind sind auch dieses Jahr wieder total gescheitert!
Früher hatte man als Schauspieler zur Abwechslung wenigstens noch Affären nach den Aufführungen, mit irgendwelchen anderen Schauspielern oder Kreativen. Desaströse Techtelmechtel, die den Arbeitsalltag unmöglich gemacht, die Moral der Truppe zerrüttet und die Stimmung vergiftet haben. Aber immerhin hat man gelebt, immerhin ist irgendwas passiert.
Jetzt fahren alle nach der Vorstellung nach Hause und loggen sich bei Facebook ein oder so. Beim Drehen genauso. Nach der letzten Klappe geht jeder zu sich an den Computer. Vorbei die Zeiten der wilden Gelage. Ich frag mich, was Fassbinder heutzutage gemacht hätte. Keiner hat mehr Bock auf irgendwelchen echten Liebesstress und Dramen im beruflichen Umfeld. Bloß keine Aufregung, bitte. Dann doch eher ein bisschen skypen mit den Lieben daheim … oder ein paar neue Freunde vom Set online adden und mit denen dann chatten. Obwohl die höchstwahrscheinlich im Wohnwagen gegenüber sitzen. Facebook – die Theaterkantine der Jetztzeit.
Deswegen also: Ich klappe auch den Computer auf und wähle diese Seite an, von der mir die Maskenbildnerin vorhin erzählt hat, bevor sie aus der U-Bahn ausgestiegen ist und ich beim Schwarzfahren erwischt wurde. Da hat sie nämlich ihren Verlobten kennengelernt, nach zahllosen gescheiterten Affären mit irgendwelchen planlosen Künstlern und Tagedieben, die sich nie entscheiden konnten. Und der Neue ist also Beamter, und die sind jetzt schon fünf Monate zusammen, alles läuft super, und sie wollen bald heiraten. Nägel mit Köpfen!
Ohne Internet hätten die sich wahrscheinlich nie getroffen, meinte sie. Und jetzt verbringen sie vielleicht den Rest ihres Lebens miteinander, das muss man sich mal vorstellen. Seltsam, oder? Die haben einfach so einen Test gemacht, wo sie rausgefunden haben, dass sie zu 88 % zusammen passen, und das klappt dann wirklich, viel besser als mit dem anderen Kandidaten, der nur 79 % hatte. Weil sie beide gerne kochen und basteln und sich für Astrologie interessieren.
Vielleicht ist es ja wirklich so einfach, vielleicht brauche ich ja genau das – eine hochprozentige Glückswahrscheinlichkeit mit einer ganz normalen Frau. Und deswegen ist es gut, wenn mir ein Computer das mal ausrechnet und mir eine vorschlägt. Alleine kriege ich das ja anscheinend nicht hin.
Weil die sich eben dort anmelden. Die ganz normalen Frauen, wo soll ich die denn sonst finden? Jedenfalls nicht im Eiscafé, das weiß ich ja mittlerweile schon. Ich überliste mein Schicksal. Ich treffe jemanden, den ich sonst nicht treffen würde. Augen zu und durch!
Ist das peinlich. Die ganzen Fotos von den übrigen Anwärtern in meinem Alter geben mir noch den Rest. Und erst recht diese albernen Namen. Teddy79. NurmitDir. Rosenkavalier … Herzlich willkommen im Gruselkabinett. Bin ich jetzt einer von denen?
Immerhin: In einer Stadt voller Blinde, ist der Einäugige König, oder? Ich geh aufs Ganze, ich werde mein bestes Schauspielerfoto hochladen, wenn schon, denn schon, und mir einen richtig coolen Namen geben … Den coolsten, den es gibt auf der Welt: Cowboy.
Ich wollte schon immer am liebsten ein Cowboy sein. Auch jedes Jahr beim Fasching. Cowboys sind lässig. Cowboys sind gerne allein. Sie lassen sich nichts anmerken, verziehen keine Miene, und wenn es ihnen irgendwo nicht gefällt, reiten sie einfach weiter, ohne sich groß zu scheren. Cowboys melden sich ganz sicher nicht online auf einer Dating-Seite an, wie mir grade klar wird. Aber vielleicht gibt es genau deswegen auch keine Cowboys mehr. Die sind nämlich ausgestorben, die Armen.
Hannah
Ich hab’ das Fahrrad dann doch abgeholt und zu mir nach Hause geschoben, ich konnte es doch nicht im Stich lassen, nach all den Jahren. Aber ich habe es nicht mehr repariert. Es steht im Hinterhof und kriegt sein Gnadenbrot. Hatte auch keine Lust, es noch mal bei diesen unfähigen Typen aus dem Fahrradshop abzugeben. Jetzt beim Umzug hat sich die Frage gestellt, ob ich es mitnehmen soll. Aber ich mag lieber richtige Neuanfänge. Ohne kaputte Sachen von früher. Kaputte Dinge oder kaputte Beziehungen. Kaputte Gedanken, kaputte Hoffnungen. Alles soll neu sein und nicht besetzt mit unguten Erinnerungen:
Wenn ich zum Beispiel etwas anhatte, ein rotes Kleid oder so, bei einer Verabredung, die dann ganz furchtbar danebenging, dann kann es sein, dass ich das Kleid nie wieder tragen will. Egal, wie schön es aussieht. Es ist dann aber nun mal einfach das Kleid von diesem Tag, von dieser Verabredung, und das vergesse ich nicht.
Ich hab also das Fahrrad-Schloss abgemacht, bevor ich in den Robben & Wintjes-Wagen zu meinen Arbeitskolleginnen gestiegen bin, und hab das gute Rad freigelassen. Hab ihm einen Klapps auf den Hintern gegeben und gemeint: Mach was draus! Du bist jetzt frei. Es ist aber nicht gleich losgaloppiert wie ein glücklicher Mustang, sondern ratlos dort am Baum stehen geblieben. Irgendeiner wird sich für dich finden, einer, der Sachen reparieren kann und Geduld hat, einer, der dich so liebt, wie du bist, mit allen deinen Fehlern und Macken, meinte ich dann noch so.
Wahrscheinlich habe ich einfach schon zu viele von diesen Ratgebern gelesen, oder? Meine Kolleginnen haben mich jedenfalls ganz komisch angeguckt und dann gerufen: Los jetzt, steig ein, Hannah, und auf die Hupe gedrückt.
Dann sind wir abgefahren, vorbei an dem alten Rad und dem Restaurant an der Ecke, wo mich dieser eine Kellner immer so massiv angemacht hat, dass ich gar nicht mehr wusste, wie ich da vorbeikomme, vorbei an dem Eiscafé und dem Spielplatz, eigentlich nur zweimal um die Ecke und einmal über den Kanal – trotzdem eine andere Welt.
Mein neues Zuhause: Dieser riesige Wohnblock am Kottbusser Tor sieht aus wie ein Ufo, das zufällig dort gelandet ist. Eine verrückte Techno-Arche-Noah, mit Menschen aus allen Ländern, Künstlern und Arbeitslosen oder Schwulen und Lesben, Junkies und Hausmeistern und bestimmt auch ein paar Außerirdischen oder noch nicht weiter analysierten Lebewesen.
Lauter Balkone mit riesigen Satellitenschüsseln, als ob die Leute noch Kontakt zu anderen Planeten halten wollten. Fast ist es ja auch so: Dort, wo diese Satellitenschüsseln am Fenster hängen, wohnen