Babylon. Dave Nocturn
Signalton anders. Das ist der Evakuierungsalarm.«
»Aber es könnte doch trotzdem etwas anderes sein.« Ihr flehender Blick traf auf das mitleidige Lächeln des Arztes.
»Nein.«
Die Schwere dieses Wortes ließ Sandra taumeln. Schnell sprang der Mann zu ihr und stützte sie.
»Alles in Ordnung?«
Sie schüttelte den Kopf. Das Namensschild des Arztes befand sich dicht vor ihrer Nase.
»Doktor Märtens, was ist geschehen?«
Sie hasste sich dafür, dass ihre Stimme sich klein und hilflos anhörte. Bis hierhin war sie gekommen, hatte die Gruppe zusammengehalten und sogar vergrößert. Sie hatte sich Sicherheit erhofft, und nun hatte sie der Wahnsinn der zugrunde gegangenen Welt wieder eingeholt.
»Sandra!« Atemlos kam Martin durch die Tür gestürmt. »Die verdammten Viecher sind durchgebrochen! Sie sind nur noch ein paar hundert Meter entfernt. Wir müssen hier raus, los! Die Soldaten sitzen schon auf. Komm jetzt!«
Er zerrte an ihr, doch Sandra riss sich los. »Warte.«
Sie ging zu der Liege, auf der Gabi lag. Vorsichtig nahm Sandra sie in den Arm.
»Komm, Gabi, wir müssen weg.«
»Warum? Waren wir böse?«
»Nein, aber die … Knirscher kommen.«
Gabis Mund formte ein großes erschrockenes O. Sie begann zu zittern.
»Sch, sch, ganz ruhig. Wir schaffen das schon.«
Sandra hat recht, sandte Martin an Gabi. Die sah ihn an und suchte in seinem Gesicht nach der Zuversichtlichkeit, die sie in seinem Geist nicht gespürt hatte.
Schließlich nickte sie. »Ja, tun wir abhauen.«
Gabi stand von der Liege auf und ließ sich von Sandra und Martin stützen. Sie gingen aus der Krankenstation hinaus zum Hauptkorridor.
Hier herrschte organisiertes Chaos. Ein Hauptfeldwebel mit einem Klemmbrett kam zu ihnen.
»Sie beide«, er deutete auf Sandra und Martin, »gehen zu Fahrzeug fünf und sitzen dort auf.«
»Und was ist mit Gabi?«, wollte Sandra wissen.
»Mit wem?«
»Mit dem Kind hier.«
»Ach so. Das geht mit ein paar anderen Kindern zu Wagen sechs. Dort wird Jörg Weimer sie in Empfang nehmen. Bei dem soll sie sich melden.«
»Martin!« Gabis Stimme klang weinerlich und drängend.
»Kann ich nicht mit ihr gehen?« Martin sah den Unteroffizier fragend an.
»Nein. Und jetzt gehen Sie bitte schnellstmöglich zu den Fahrzeugen.«
Draußen dröhnten erste Schüsse. Gabi begann zu weinen.
***
»Los, los, los, rauf auf den Bock!«
Der Einweiser schubste Martin und Sandra förmlich in den Wagen. Sie suchten sich in dem stickigen Halbdunkel einen Platz zwischen den Soldaten, die dort mit Marschgepäck und G3 bewaffnet saßen.
»Das sieht nicht gut aus, oder?«, sprach Martin den neben ihm sitzenden Mann an.
»Wohl eher nicht.«
»Wissen Sie, wohin wir fahren?«
»Erst einmal weg von hier.«
»Und dann?«, versuchte Martin die Gesprächigkeit des Soldaten in Gang zu halten.
»Vermutlich Bonn.«
»Bonn?«
»Das ist unser Rückzugsraum.«
»Aha. Und was machen wir dort?«
Gerade als der andere antworten wollte, ruckte der Lastwagen an, und der Motorlärm machte ein weiteres Gespräch unmöglich.
Martin sah zu Sandra hinüber, die seinen Blick aus weit aufgerissenen Augen erwiderte. Er legte ihr in einer – wie er hoffte – beruhigenden Geste seine Hand auf die Schulter. Er lächelte mit einer Zuversicht, die eine glatte Lüge war. Sandra erwiderte sein Lächeln nur sehr zaghaft.
Der Wagen nahm Fahrt auf, ebenso wie der ihm nachfolgende Transporter. Auf der gewundenen abschüssigen Straße schlingerten die Fahrzeuge Richtung Ausfahrt, einem weit entfernten Ziel entgegen. Früher war Bonn nur einen Kölschglaswurf weit entfernt, doch jetzt, ahnte Martin, würde es zu einer Odyssee werden, sich der ehemaligen Hauptstadt, dem Bundesdorf, zu nähern.
Martin sah auf die hinter ihnen regelrecht wegfliegende Straße. Gelegentlich brach eine kurze Salve aus dem auf dem Führerhaus ihres Lkw montierten MGs und fand sein Echo bei den nachfolgende Fahrzeugen.
Mit zunehmender Geschwindigkeit wurden die Schüsse seltener, wohl weil es nicht mehr möglich war, richtig zu zielen. Die Fahrer hatten sich darauf verlegt, die ihnen in die Quere kommenden Zombies zu überrollen, was zwar effektiv war, aber ein Übelkeit erregendes Geräusch verursachte.
Martin musste schlucken. Nachdenklich nagte er an seiner Unterlippe.
Plötzlich wurde der Konvoi langsamer.
»Was ist los?«
Sandras Frage blieb unbeantwortet. Martin erhob sich und ging nach hinten.
»Was hast du vor?«
Angst schwang in Sandras Stimme mit, was Martin sehr beunruhigte. Die bis dato so stark wirkende Frau schien unter dem Druck der Ereignisse langsam ihre Kraft zu verlieren. Martin beugte sich um die Kante und spähte nach vorne.
»Ach du Scheiße!«
»Was siehst du?« Sandra war neben ihn getreten.
»Knirscher. Massen von ihnen. Wie sollen wir da bloß durchkommen?«
Sandra hatte sich vor ihn geschoben, um selbst zu sehen, was los war.
»Verdammte Scheiße! Wo kommen die bloß her?«
»Als wenn sie … gesteuert würden. Diese Hordenbildung kann nicht normal sei.«
»Wieso?«
»Überleg doch mal! Diese Dinger sind nicht viel mehr als Fressmaschinen. Sie zeigen keine Intelligenz. Der Einzelne ist nur darauf aus, andere zu jagen. Purer Instinkt.«
»Aber … wenn viele zusammenkommen, entsteht vielleicht so etwas wie Schwarmintelligenz? Vielleicht gibt es dann einen oder zwei unter ihnen, die den Schwarm lenken können?«
Martin hatte sich zu ihr umgedreht und musterte sie. »Du redest, als wüsstest du etwas.«
Sandra zuckte zurück. »Was? Was sagst du da? Ich stelle einfach nur Vermutungen an.«
»Ich weiß nicht …«
»Ach ja? Ich dachte, so langsam könnte etwas wie Vertrauen zwischen uns entstehen.«
»Wie meinst du das denn jetzt?«
»Naja, für einen Junkie scheinst du ein ganz brauchbarer Kerl zu sein. Aber irgend etwas verheimlichst du mir.«
»Hä? Weibliche Intuition, oder was?«
Pass auf, sie ahnt etwas. Gabis Stimme in Martins Kopf war gefärbt von Angst und Besorgnis.
Ich passe schon auf. Laut sagte er: »Weißt du, Sandra, deine Paranoia …«
Massives MG-Feuer war aus dem vorderen Teil des Konvois zu hören. Der Lkw ruckte an und Martin hatte alle Hände voll zu tun, nicht aus dem Fahrzeug geschleudert zu werden.
***
Jörg Weimer starte auf die Szenerie vor sich. Der Konvoi stand vor einer Mauer aus Zombies, die sich entlang der Straße rechts und links dahinzog.
»Das ist übel.«