Im ersten Gang geht’s immer rauf. Jens F. Meyer

Im ersten Gang geht’s immer rauf - Jens F. Meyer


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zählt. Wir lesen auf einem Schild, dass dieses Bauwerk das schönste seiner Art weltweit sei. Behauptet man hier in Chaumont zumindest. Gut so, denn übertriebene Bescheidenheit ist lästig. Wir fahren durch Wald und Flur, die Gegend ist hügelig, mit Feldern durchwirkt. Ruckzuck sind wir in Chaumont angekommen. Wir fahren talwärts, Kurve um Kurve, und als es wieder bergan geht, da erhebt sich in eindrucksvoller Länge von sechshundert Metern das Eisenbahnviadukt mit 96 Bögen und verbindet eine Hügelflanke mit der anderen. Wir fahren zum Aussichtspunkt und stellen den Renault in bedrohlicher Schieflage ab. Lieber mal die Handbremse betätigen. Leider können wir das Viadukt nicht betreten, gerade jetzt ist es eine Baustelle. Weiter geht’s also ins Stadtinnere. Wir parken in der Nähe einer Kirche und unternehmen einen Stadtrundgang. Grundsätzlich bietet es sich ja jedes Mal an, zunächst die Touristen-Info zu besuchen, um zu erfahren, was es in der noch unbekannten Stadt zu entdecken gibt, doch in Chaumont wird die Suche nach dem Infopoint zu einem Intelligenztest. Nachdem wir zum zehnten Mal per Schild um eine nächste Ecke in eine andere Straße geschickt werden, geben wir auf und suchen erst unser Auto und dann das Weite.

      Das Viadukt von Chaumont ist 600 Meter lang und 50 Meter hoch.

      Auch das ist ein Test, ein Nerventest. Die Stadtoberen haben – warum auch immer – beschlossen, dass alle Besucher und Bewohner nach Vorbild Nordkoreas permanent mit Musik zu beschallen sind. Die Lautsprecher sind vielerorts angebracht worden und lassen die gängigsten Radiohits in die Straßen rieseln. Wir warten auf eine schnarrende Stimme, die im Kommando-Ton zur gemeinsamen Feldarbeit auffordert. Andererseits ist Chaumont hübsch, zwischen Hügeln gelegen, mit vielen Prunkbauten aus hellem Sandstein und einer quirligen Innenstadt mit Restaurants und Geschäften. Vom oberen Punkt der Stadt blicken wir über eine Brüstung weit ins Land hinein, und wenn nicht gerade beim Betrachten der Naturschönheiten der Partnersender von Pjöngjang eine spanische Jubelarie auf Wein, Weib und Gesang gespielt hätte, wer weiß? Vielleicht wäre das noch etwas geworden mit Chaumont und uns …

      Gerade in dieser Gegend gibt es viel zu entdecken, hier wird der köstliche Käse von Langres hergestellt, es gibt Weine und Wildspezialitäten, Trüffel, Abteien wie Sept Fontaines oder de La Crête, Korbflechtereien und Schnapsbrenner. Man kann tagelang herumfahren und sich amüsieren. Auf diese Weise schreitet unsere Entdeckung Frankreichs voran; wir nehmen Fahrt auf in Richtung Nancy. Die Landschaft von dicht bewaldeten Gebieten, durch die die Straße wie unter einem Dach entlangführt, ändert sich überraschend, um plötzlich ein Dorf aus grauen Granitsteinen zu enthüllen. Der Weg schlängelt sich durch Täler und schraubt sich direkt an manchen Haustüren in die Höhe, um dann wieder grandios nach unten abzudrehen. Für einen R4 genau das richtige Terrain. Wie eine Bergziege tuckern die 34 PS jede Steigung nach oben, um dann tollkühn nach unten zu brausen. Die Quatrelle kann also durchaus 130 Stundenkilometer erreichen, wer hatte etwas anderes behauptet?

      Langsam steigen die Temperaturen, und ohne dass wir es wirklich bemerken, öffnet sich die Landschaft. Wir sind in den Vogesen angekommen. Plötzlich ist die Straße ein langes, graues Band, das sich endlos vor uns und den schmalen Pneus unseres Gefährts, das längst zu einem Gefährten geworden ist, ausbreitet. Eine kilometerlange und weite Tallandschaft, so scheint es auf den ersten Blick, mit mächtigen Hügeln rechts und links, davor die Felder. Oben auf den Hügeln sind dichte Baumreihen zu sehen. Würden am Horizont noch Tafelberge auftauchen, wären wir nicht verwundert. Es sieht verwunschen und gleichzeitig imposant aus, und während wir uns auf der D674 fortbewegen, finden dort oben in den dunklen Wäldern eventuell Zwergen-Things und Koboldkonferenzen statt. Da wollen wir hin – und tatsächlich: Ein kleines, verbeultes Schild mit Château-Zeichen, unscheinbar, leicht angerostet, weist uns zur nächsten, fernen Erhebung den Weg. Der R4 liebt die leichte Steigung, elegant aus dem vierten in den dritten Gang geschaltet, und schon schnaufen wir dem Château de Lafauche entgegen. Zunächst öffnet sich ein kleiner Ort, eher ein Weiler und dennoch mit obligatorischer Kirche und Gedenkstein. Dahinter wurde aus einem mächtigen Eichenstamm eine Art Häuschen gebaut, und ein kleiner Parkplatz ist auch vorhanden. Gibt man hier zu viel Gas, kann man bei den Anwohnern zwanzig Meter hangabwärts nach dem Rechten sehen.

      Burgruine mit Käse und Astmuseum

      Stolze Schlösser, von floraler Finesse umgeben, sind ein lohnenswertes Ziel. Doch wenn eine Burgruine wie Château Lafauche am Wegesrand auftaucht, zertrümmert von Jahrhunderten und geheimnisvoll umwittert, dann ist dies Futter für die Fantasie. Besonders viel ist von der einstmals großen, mehrere Türme umfassenden Forteresse nicht übrig geblieben, aber der Blick in die Haute-Marne ist gewaltig. Außerdem gibt es im angeschlossenen Musée du Bois eine witzige Ausstellung des Künstlers Émile Chaudron (1927 bis 2003), der in manchem Zweiglein etwas Außergewöhnliches entdeckte und auf diese Weise den „Zoo du Bois“ eröffnete. Während man durch die Wunderwelt geistert, holt Monsieur Adenot, der sich um Château Lafauche kümmert, noch zwei Käse, die er aus der Milch jener Schafe zubereitet, die rund um die Ruine friedlich grasen. Fertig ist das Glück. (Kontakt: [email protected])

      Ein Eckhaus beherbergt ein kleines Museum, auf der anderen Seite hat es eine Terrasse mit atemberaubendem Blick ins Land, und als sei das nicht schon genug der Sehenswürdigkeiten, gibt es noch einen Eisenbrunnen mit der heiligen Maria auf der anderen Seite. Direkt gegenüber jedoch befindet sich das, was uns heraufgelockt hat. Gerade mal fünfzehn Schritte vom Museum entfernt beginnt die Auffahrt zum Château de Lafauche. Eigentlich eine Forteresse, ein echtes Schloss war es wohl nie. Gebaut auf den Hügeln im 11. Jahrhundert, wurde es erst im 14. Jahrhundert fertiggestellt. Die Anlage ist groß und liegt strategisch günstig auf der Hügelkuppe; die Mauern waren seinerzeit eineinhalb Meter dick und verbanden nicht weniger als achtzehn Türme. Das alles wurde auch dringend benötigt, denn eigentlich hatte kein Eigentümer mal so richtig Freizeit. Alle naselang wurde er herausgefordert, belagert, beschossen oder kam selbst auf die Idee, dem benachbarten Königreich Lothringen einen Überraschungsbesuch abzustatten. Dadurch änderten sich auch die Besitzverhältnisse der Anlage ständig: Mal gehörte sie einem Grafen, dann wieder den Herzögen von Amboise, dem Gerichtsvollzieher von Chaumont, auch mal dem König von Lothringen und einigen anderen umtriebigen Großgrundbesitzern. Mittlerweile stehen nur noch einige wenige Türme der Verteidigungslinien, und die sind nach all den Jahren auch ziemlich löchrig, aber es ist dennoch ein beeindruckendes Gelände. Wir schreiten zwischen riesigen Steinhaufen umher, die vormals Teile der Verteidigungsanlage waren. Ganz oben befindet sich ein Brunnenschacht, der genauso aussieht wie jener, der im Film über den Herrn der Ringe durch Hereinwerfen einer alten Rüstung das Herannahen der feindlichen Orks ankündigt. Aber so schauderhaft scheint es hier nicht zu kommen: Es ist niemand da auf diesem einsamen Gelände. Nichts als unverbaute Aussicht, Bäume und Brunnen. Was soll’s, hinein mit dem Stein, es kann uns nichts passieren – der Renault steht nur vierhundert Meter entfernt. Stille. Es dauert lange, bis ein dumpfer Ton vom Schachtboden aufsteigt. Dann wieder Stille. Keine Orks. Mitunter lässt man sich wirklich zu den krudesten Gedanken verleiten.

      Monsieur Claude Adenot am Modell von Château Lafauche

      Nach der ausgiebigen Besichtigung der Burganlage wird es nun Zeit, das Museum zu erkunden, wo eine Überraschung auf uns wartet. Von wegen öde Heimatstube! Hier gibt es eine Ausstellung von Skulpturen aus Ästen und Zweigen, so famos und amüsant herausgearbeitet, dass man am liebsten alles kaufen würde. Das ist leider nicht möglich, nein, nicht ein einziges Stück steht zum Verkauf, und der Monsieur, der diese Kunstwerke schuf, ist schon vor einigen Jahren gestorben. Sein Lebenswerk bleibt, wo es ist. Es wird den paar versprengten Touristen gezeigt, die hierher finden, um Château de Lafauche zu entdecken. Monsieur Claude Adenot, der uns einlässt, erklärt, dass es zwei Organisatoren in diesem Ort gibt, einerseits die, die sich um die Burg und deren Vermarktung mit mittelalterlichen Festen kümmert. Und dann sind da noch die, die sich dem Museum und der Kunst widmen. Zufälligerweise sei er der Vizepräsident der mittelalterlichen Organisation, sein Bruder Roger ist der Präsident. Wieso er denn dann hier im Museum stehe, fragen wir uns und ihn. Monsieur Adenot zuckt mit den Schultern: „Hier muss man alles machen.“ Dazu gehört offensichtlich auch die Produktion von Käse.


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