Im ersten Gang geht’s immer rauf. Jens F. Meyer
öffnete sich die Fahrertür. Kaum dass wir Platz genommen hatten, spürten wir die strammen Polsterfedern im butterweichen Sitz unterm Hinterteil. Egal, noch kurz den seltsamen Schaltknüppel ausprobiert, und schon rollten wir vom Hof. Krachend ging der erste Gang rein, aber immerhin: Er ging rein, und eine Oma flüchtete auf den Gehsteig. Der Lüftungsmotor bot winselnd seine bescheidenen Dienste an, die aber nicht ausreichten, um die beschlagene Scheibe freizublasen. Durch den herausgezogenen Choke laut röhrend, brausten wir die Straße entlang. Nicht schlecht – fast einhundert Kilometer pro Stunde schienen nicht das Problem zu sein. Blöd nur, wenn man in die Eisen gehen muss – so ganz ohne Bremskraftverstärker ist das ein Ereignis, das den ganzen Körpereinsatz fordert. Aber irgendwie funktionierte das alles ganz passabel; wir waren unterwegs und kamen unserem Traum ein Stück näher.
Es wurde dämmrig, wir mussten zurück. Die Straße war schnurgerade, es gab nur die Möglichkeit, im nächsten Feldweg zu drehen. Blinker setzen, mit Verve hineinfahren und zurück – aber wie ging das jetzt noch mal mit dem Rückwärtsgang? Wir zogen, drückten und schoben die Schaltstange, kuppelten kräftig, nichts tat sich. Mittlerweile waren wir von zarten, blauen Wölkchen eingehüllt, der Auspuff wusste, was zu tun war. Uns überfiel die Sorge, dass entweder die Feuerwehr zwecks Buschfeuerlöscheinsatz anrücken musste oder dass wir fünfzehn Kilometer in strömendem Regen zurückzulaufen hatten, und alles nur, weil wir das Rätsel um den Rückwärtsgang nicht lösten. Doch der Geistesblitz zündete noch rechtzeitig: Schaltstange auf Leerlauf schieben, dann das Gestänge kräftig nach rechts legen und rausziehen in Richtung des vierten Gangs. Das Auto bewegte sich nach hinten. Erleichtert knatterten wir zurück zum Händler; der besorgt schauende Verkäufer empfing uns aufgrund der schon weit vorangeschrittenen Zeit sichtlich beunruhigt, aber irgendwie auch erleichtert. Ob denn alles funktioniert habe, fragte er. Nonchalant winkten wir ab, „alles überhaupt kein Problem“, aber der Wagen sei noch nicht der richtige. Er tröstete uns: Es komme bestimmt bald wieder ein besseres Modell rein. „Allerdings“, sprach er im leisen Tremolo und mit mahnendem Tonfall, „seien die Preise auf dem Weg nach oben!“
Der nächste Winter kam und ging, und wir waren nach wie vor noch ohne R4. Sollten wir das Ganze lassen? Dasselbe Autohaus lockte uns erneut aus der Reserve, diesmal mit einer Savane TL für 10.750 Euro. Nach einigem Hin und Her wollten wir uns den Wagen anschauen. Wir kamen um 11 Uhr beim Autohändler an. Um 12:30 Uhr waren wir stolze Besitzer eines Renault 4 TL Savane! Ohne Kopfstützen und in einem dezenten Beige, das verdächtig nach formender Damenunterwäsche aussah und sich als Farbton „Alpaga“ (Nummer 109) entpuppen sollte. Von wegen Andalusisch-Orange und Salat-Grün …
Wir hatten unseren R4! Das gute Stück musste nur noch auf unseren Hof rollen, damit wir die nächste Stufe der Vorfreude zünden konnten. Ein Mitarbeiter des Autohauses nutzte die Möglichkeit, uns den Wagen auf dem Hänger für schlappe fünfzig Euro bis vor die Haustür zu bringen. Am Morgen vor der Ankunft war die Garage aufgeräumt und gefegt, das Cabrio musste vorerst draußen stehen, und wir freuten uns, als unser Oldtimer-Schatz geliefert wurde. Unglaublich, so ein schönes Auto – unser Auto! Die nächsten Tage verbrachten wir nach der Arbeit in der Garage, saßen in den weichen Sitzen, saugten den Duft von nahezu dreißig Jahren Interieur ein und schmiedeten Pläne. Teppichmatten wurden ausgemessen und gekettelt, das schmale Armaturenbrett gewienert, und es machte sich mildes Erstaunen über das nahe Zusammensitzen breit. Apropos breit: Dies war kein Fahrzeug für Menschen mit starken Knochen. Sollten wir die Reise wahrmachen, würden wir in Frankreich mit dem Schlemmen wohl besser etwas aufpassen müssen, ansonsten gingen die Türen nicht mehr zu.
Alles original 1989 – nur die Kopfstützen sind neu.
Wir haben ihm keinen Namen gegeben. Namen für Autos sind albern. Es würde den Renault 4 und uns nicht glücklicher machen, wenn er Waldemar oder Jean-Didier heißen würde. Zumal dieser automobile Charmeur nach französischer Lesart sowieso eine Madame ist. „La Quatrelle“, wie er, pardon: sie, zwischen Dunkerque und Perpignan genannt wird, könnte also ebenso gut auf Undine oder Emanuelle hören. Aber nichts von alledem haben wir getan, wir nennen unser Schätzchen einfach nur R4, Quatrelle oder Savane, weil es eine Savane TL ist, die wir an einem Ort aufgetan haben, der nicht unfranzösischer hätte sein können: bei einem Volvo-Händler im Industriegebiet einer niedersächsischen Kleinstadt. Baujahr 1989, 43.500 Kilometer „auf der Uhr“, 34 Pferdestärken und knapp unter eintausend Kubikzentimeter Leistung. Alles original, kein Rost – aber leider ohne Kopfstützen; der einzige Luxus, den wir im Laufe des Aufpolsterns der Sitze vorn später noch einbauen lassen haben. Wir waren vom ersten Moment an verzaubert. Zwischen anderen in die Jahre gekommenen Fahrzeugen strahlte diese Savane TL, obgleich als beigefarbene Variante nicht gerade ein leuchtendes Beispiel mutiger Farbgebung, aus der Masse hervor. Für uns ist dieser Klassiker keine Sie und kein Er, für uns ist es ein Auto, nicht mehr und nicht weniger als ein Auto – DAS Auto! Eine Stilikone.
Manche Menschen nennen den Renault 4, der als erstes Modell der Régie Nationale des Usines Renault mit Frontantrieb ausgestattet wurde und dessen erstes Exemplar im Sommer 1961 aus dem Werk in Paris Richtung Freiheit rollte, unscheinbar, andere heißen ihn langweilig. Für uns hingegen ist das drollige erste Großserienfahrzeug der Marke mit dem Rhombus, von dem innerhalb von 31 Jahren über acht Millionen Exemplare gebaut wurden, das beste Gefährt, das wir uns vorstellen können, weil es sich, wie sich bald zeigen wird, im Laufe dieser Reise durch Frankreich zu einem Gefährten und Türöffner mausert. Es hat Charakter, und Autos mit Charakter haben eben auch Macken, das sollte nicht außer Acht gelassen werden. Wer einen Renault 4 fährt, muss bereit sein, Kompromisse einzugehen. Wenn’s regnet und kühl ist, beschlagen die Scheiben. Beschlagen die Scheiben, wird der Regulierhebel für den Wasserumlauf im Heizungs-Wärmetauscher auf Rot (also warm) und das Gebläse auf volle Pulle gestellt, um dem Dunst beizukommen. Der Ventilator arbeitet dann ungefähr so geräuscharm wie die Turboprops einer Antonow An-22. Dazu kommen sehr kurze Wischer, deren Blätter rüde über die Windschutzscheibe hüpfen, was den Lärmpegel noch erhöht – abgesehen vom grundsätzlich fehlenden Schallschutz in dieser kühnen Kiste. Alle, die in einem R4 sitzen, wünschen sich also immer schönes Wetter, zumal es passieren kann, dass sich im Fußraum ein Teich bildet, weil das Wasser auf nicht identifizierbaren Wegen auch von unten kommt. Aber weil Petrus darauf keine Garantie geben kann, liegt das Anti-Beschlag-Tuch in der Konsole vor den Schienbeinen des Beifahrers bereit, um seinen Dienst von Zeit zu Zeit anzutreten, wie früher. Gibt’s tatsächlich auch noch ganz normal zu kaufen …
Rost – den hat er nicht, unser „Vierer“. Ein ungeschweißtes Original! Worin bekanntlich die wichtigste Voraussetzung, einen Renault aus den Achtzigerjahren für 9300 Euro zu kaufen, als erfüllt gilt. Wo doch die meisten R4 schon korrodierten, wenn sie drei- bis fünfmal durch den Regen fahren mussten. Insofern ein Superkauf.
Und der Zollstock lügt nicht: fünfzig Zentimeter Ladekantenhöhe und ein ebener Boden! Wo die SUV-Fraktion sich einen Bruch nach dem nächsten hebt, wenn sie den Supermarkteinkauf hinten rein hieven muss, stört hier nichts, kein Wulst, keine Kerbe. Wenn man zu zweit ins Blaue fährt, einfach mal so, in Gesellschaft von Baguette, gesalzener Butter und einer Demi Bouteille Côtes du Rhône, sitzt man sogar sehr passabel dort hinten, nahe am Picknickkorb. Kissen unterm Hinterteil, Arm in Arm und knutschend, fertig ist das Glück. Und ein Ausbund an Zuverlässigkeit ist er, der R4 – genau diesen Plan verfolgte Renault ja auch, als der Prototyp des Schnuckelchens als Antwort auf den überaus beliebten 2CV von Citroën auf schmale Räder gestellt wurde. Mitte der Fünfzigerjahre hatten die Planungen Fahrt aufgenommen, Anfang der Sechziger wurden die ersten Quatrelles dann der Presse bei Ausfahrten in der Camargue über unbefestigte Pisten präsentiert, um die Robustheit zu dokumentieren. Der R4 ist gebaut worden, damit den Bauern kein Hühnerei beim Transport über die Feldwege und zum Wochenmarkt zerbrach. Bei aller Liebe sollten die viel zu weichen Sitze nicht mit gutem Federungskomfort verwechselt werden. Gott weiß, wie viele Bauern ihre Eier wirklich ohne Schaden geschaukelt haben. Aber sie hatten ihren Spaß. Zum Beispiel mit der Revolverschaltung, die wie ein alter Saurierknochen aus dem Armaturenbrett ragt. Und mit dem Platzangebot: Bei komplett umgelegter Rückbank – nur zwei Schrauben müssen gelöst werden – ergibt sich ein ebener Ladeboden, der groß genug ist für drei Ballen Stroh. Lange her, egal, jedenfalls schwor Renault Schotter,