Im ersten Gang geht’s immer rauf. Jens F. Meyer

Im ersten Gang geht’s immer rauf - Jens F. Meyer


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und Händlerauto schon in den Sechzigerjahren einen ungeheuren Chic. Heute leider unbezahlbar. Wir bleiben also bei unseren Taschen. Nach einigem Hin und Her – der Händler ist inzwischen außer Atem – haben wir welche gefunden, die wirklich mehr als passabel mit dem Rest des Fahrzeugs harmonieren und alles aufnehmen werden, was wir für die nächsten Wochen benötigen. Und wir brauchen so einiges, obwohl wir uns ja vorher einen gewissen Minimalismus vorgegeben hatten. Nützt aber nichts, wenn unterwegs keine Wäsche gewaschen werden kann, und wir wollen es tatsächlich nicht so weit treiben wie unser alter Freund Ricki, der stolz verkündete, in den Siebzigern mit seiner Ente und sechs Unterhosen sechs Wochen durch Frankreich gefahren zu sein. Drei Tage normal getragen, vier Tage auf links gedreht, dann der Buxenwechsel! Um diesem Schlüpferengpass entgegenzuwirken, nutzen wir jeden noch so kleinen Stauraum, im Heck, unter der Rücksitzbank, im Fußraum davor, unter den Vordersitzen. Überall ist Platz. Die Reise ist gerettet.

      Der Morgen graut, die letzte Nacht unter dem heimischen Federbett war herrlich. Draußen herrschen erfrischende sechs Grad Celsius, wir schreiben den ersten Mai. Sollen wir noch ein paar wärmere Jacken mitnehmen oder nicht? Passt noch ein Federkissen auf die Rückbank und brauchen wir vielleicht noch einen Heizlüfter? Alles Quatsch, denn in wenigen Tagen wird es wärmer sein. Einen Heizlüfter haben wir trotzdem eingepackt, ein kleines Gerät, das in die Steckdose kommt und einen Raum um zwei bis drei Grad Celsius erwärmen kann (wenn es ein kleiner Raum ist, ein sehr kleiner Raum …). Kommt jedenfalls auch unter die Rückbank. Und dann fahren wir tatsächlich los.

      Nach den ersten fünfzig Kilometern überkommt uns der Reisehunger und wir plündern die Vorräte. Wir brauchen Zucker, vor der Frontscheibe tanzen die Schneeflocken, und wir wollen spätestens morgen die Ardennen erobern. Vielleicht war das mit den Sommerreifen doch keine so gute Idee, aber wer denkt im Mai schon an Winter? Die Wetterkapriolen wechseln sich ab, bald ist es trocken und sonnig, wir kommen voran, jetzt, da wir die Grenze zum Land der Trikolore aus Luxemburg und Belgien kommend überqueren werden und der Motor des Renault 4 so schnurrt wie „Pour un flirt“ von Michel Delpech. Je näher er seinem Mutterland entgegenkommt, desto drehfreudiger klingt sein singendes Aggregat. Bei Longwy, wo Belgien nur drei Trikolore-Fahnen schmal ist, muss die Maschine ziemlich glücklich sein. Ja, gleich, gleich fängt Frankreich an, du guter, alter, schöner Renault. Es gibt attraktivere Übergänge ins Land der blauweißroten Fahne, aber vor allem gibt es viele. Für einen muss man sich entscheiden. Der hier soll’s sein, und wir sind recht stolz, ihn zügig erreicht zu haben. Vor dem Eintritt ins „Gelobte Land“ stand zuvor die Eifel, respektive ihre Hügelketten, und die haben es für einen 34-PS-Boliden in sich. Runter geht’s mit Verve und ungeahnten Geschwindigkeiten, die Talsohle muss mit 108 Kilometer pro Stunde durchfahren werden, aber ab der Mitte der dann folgenden Steigung ist’s aus. Wir schleichen mit 56 Stundenkilometern den Rest nach oben und spüren die Ungeduld der Fahrer hinter uns. Oben angekommen, beginnt das Spiel von Neuem, aber es macht Spaß, die Strecke zu fahren.

      Und jetzt sind wir hier. Und glücklich. Und wären glücklicher, wenn die Kühlmittelkontrollleuchte nicht flackern würde. Warum tut sie das? Warum gibt es überhaupt eine? Es gibt doch sonst nicht viel am Armaturenträger. Die paar Lampen neben dem Tachometer sind ein besseres Mäusekino, ein paar wenige Schalter und Hebel links und rechts vom großen Lenkrad, von denen der für den Choke wohl ohne Zweifel der wichtigste ist, weil der Motor sonst nicht starten würde, jedenfalls nicht an Tagen unter 24 Grad Celsius. Aber es lebt, das Wägelchen, schüttelt sich zwei, drei Minuten aus, zitternd, bebend, und wenn der Choke erst wieder geschlossen wird, zwei, drei Minuten, nachdem der Schlüssel im Lenkradschloss eine Vierteldrehung machen durfte, verändert sich der Charakter des Motors von rüpelhaft auf gutmütig. Als ob er eine Seele hätte.

      Zersägte Dyane bei Vacherauville

      Vielleicht hat er ja eine. An einer Kreuzung bei Vacherauville jedenfalls, wo eine Citroën Dyane, in zwei Hälften geteilt, zur Schau gestellt wird, vermag ihm der Schreck in die Leitungen zu fahren. Nicht hinsehen, alter Junge. Oder besser: altes Mädchen. Es ist ja „La Quatrelle“, nicht „Le“. Die Franzosen sagen auch „Die Auto“ (La voiture), weil alles, was schön ist, weiblich zu sein hat. Egal, dir wird das Schicksal der armen Dyane nicht widerfahren, du darfst fahren und fahren und …

      Es ist, als würde sie fliegen, die kleine, sandfarbene Quatrelle, als würde sie ihre Flügel ausbreiten, um die Welt zu umarmen. Vier Zylinder voll Adrenalin, Gewitter, die durch die Straßen ziehen. Sie führen von einem Dorf zum anderen, die Namen zum Verlieben tragen: Arrancy-sur-Crusne, Bras-sur-Meuse, Cons-la-Grandville. Manchmal werden diese Straßen zu Wegen, verengen sich, verlieren ihre Mittelstreifen, ihre Leitplanken und Banketten, haben Schlaglöcher und Asphalt-Flicken, doch sie gewinnen an Kontur und Leben und zeichnen deutlichere Bilder dieses Landes mit jeder nächsten Kurve. Von fröhlicher Ruhe umrankt, schon einsam, aber nicht verlassen, taucht dann und wann ein kleines Dorf auf, bisweilen sind es nur ein paar lausige Häuschen, wie aus dem Nichts aus lieblicher Landschaft sich erhebend. Viele Wege führen nicht dorthin, manchmal ist es ein einziger nur, und der Grenzstein am Fahrbahngraben trägt ein „D“. Es steht für Route départementale. Die französische Département-Straße ist wie geschaffen für Entdeckungen am Wegesrand. Nationalstraßen und Autobahnen sind gebaut worden, um schnellstmöglich ans Ziel zu gelangen. Die D-Straßen aber sind selbst das Ziel, sie sind die Lebensadern Frankreichs, die Venen und Arterien des flächenmäßig größten Staates in Westeuropa. Allons-y, Quatrelle! Hier ist dein Revier!

      Pause vor Château de Cons-la-Grandville

      Rapsfelder blühen, weiße Kühe grasen auf frischem Grün, manchmal auch schwarzbunte, und wo die Äcker kahl sind, schimmert die Erde rötlich hervor, es ist, als ob noch heute, über hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, das Blut Abertausender Soldaten als Mahnung an die Welt zum Himmel hinaufleuchtet. Es dauert nicht lange, bis die D66 das erste Gräberfeld dieses furchtbaren Wahnsinns preisgibt. Über 7000 deutsche Soldaten liegen hier begraben, nur hier, auf diesem einen schlimmen Gottesacker. Graue Kreuze, Leid für Leid. Hier war die Hölle auf Erden. Wer mag Jakob Mose gewesen sein? Ein Name von vielen auf diesen stummen Kreuzen, hinter denen tragische Schicksale stecken. Verdun und das mächtige Beinhaus von Douaumont, in denen die Überreste von 130.000 Soldaten zur ewigen Ruhe gebettet liegen, sind nicht weit entfernt; das hier ist nur die Spitze des Eisbergs. „La guerre c'est de la merde“, hatte Jean-Marc zu uns schon vor Jahren gesagt. Jean-Marc, der niemals schlecht gelaunte Bretone mit dem großen Herzen, längst ein Freund geworden, den wir mit dem R4 erreichen wollen. Krieg ist Scheiße. Wie recht er hat, wenn man hier steht, mit einem Stein auf der Brust, und eine Träne tropft hinab auf das Grab von Jakob Mose.

      Stumme Zeugen des Krieges

      Die Stadt Verdun wird für immer und ewig mit der grauenhaften Schlacht im Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht. In diesem fast ein Jahr dauernden Gemetzel (1917 bis 1918) ließen hier etwa eine Million Soldaten ihr Leben. Das unvorstellbare Blutbad zwischen Deutschen und Franzosen hat Narben hinterlassen, die heute in der Region durch zahlreiche Kriegsgräberfelder dokumentiert werden. In den Hügeln nördlich von Verdun wurden neun Dörfer komplett dem Erdboden gleichgemacht – nichts ist von ihnen geblieben, nur Granatentrichter und Steinhaufen. Im Beinhaus von Douaumont („Ossuaire de Douaumont“) wurden etwa 130.000 nicht identifizierte französische und deutsche Soldaten zur letzten Ruhe gebettet. Tausende weiße Kreuze stehen auf den ehemaligen Schlachtfeldern vor dem Beinhaus als stumme Zeugen einer furchtbaren Zeit. (Info: verdun-douaumont.com).

      Für die Männer und Frauen aus neun Dörfern, die in der „Roten Zone“ der Schlacht von Verdun lagen, war der Erste Weltkrieg, um im Jargon zu bleiben, besonders große „merde“. Von Douaumont, Bezonvaux und den anderen sind nur Granatentrichter geblieben; sie wurden vollkommen ausradiert und nie wieder aufgebaut. Geisterdörfer, die uns erinnern lassen an das Leid, die Widerwärtigkeit des Hasses. Der Hund des Krieges hört niemals auf zu bellen. Auch das gehört zum Reisen, denn wer den Himmel erfahren will, darf die Augen vor der Hölle nicht verschließen.

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