Die Leiche im Landwehrkanal. Uwe Schimunek
anschauen?«
Ein Gruppe Herren mittleren Alters in Uniformen polterte durch den Gastraum. Die Männer ließen sich am Nebentisch nieder und riefen umgehend den Ober herbei.
Kußmaul beugte sich nach vorn und zischelte: »Vielleicht reden wir bei einem Spaziergang weiter.«
Gontard guckte zum Nebentisch. Die Offiziere schienen ihm zwar etwas grobschlächtig zu sein, aber harmlos. Kußmaul legte jedoch bereits seine Thaler auf den Tisch und nahm den Gehrock und den Stock vom Ständer. Der Mediciner schien es eilig zu haben und lief schon zur Tür – so schnell, als sei er auf der Flucht. Gontard warf seinen Waffenrock über und folgte ihm. In der Gaststube kümmerte sich niemand um den Mediciner. Die Offiziere lachten, vielleicht über einen Witz. Andere Gäste schüttelten den Kopf über die Krawallbande, allerdings sagte keiner etwas.
Vor der Tür röstete die Abendsonne den Staub vom Pflaster. Kußmaul schritt das Trottoir ab, als müsse er eine unsichtbare Grenze überschreiten, bevor er Ruhe für ein Gespräch fand. Er überquerte den Gensdarmen-Markt und trat in den Schatten der Französischen Kirche.
Gontard schloss auf und fragte: »Was ist nur in dich gefahren, verehrter Freund?«
»Ich fürchte, du hast uns da etwas eingebrockt.«
»Uns etwas eingebrockt? Ich?« Gontard hörte die Worte, über ihre Bedeutung gab es keinen Zweifel. Und doch wusste er nicht im Entferntesten, was Kußmaul damit meinte.
»Ach, alter Freund …« Kußmaul blieb endlich stehen und drehte sich zu Gontard herum. »Wolltest du wirklich vor diesen Offizieren deinen Fall ausbreiten?«
»Das waren doch nur ein paar pommersche Waldschrate. Sie waren laut, sind aber sicher nicht unbedingt die … Aufmerksamsten.« Gontard legte die Hand auf die Schulter des Freundes. »Die hätten unsere Worte vermutlich weder gehört noch verstanden.«
Kußmaul seufzte und wies in Richtung der Linden. Sie spazierten los. In der Stadt wimmelte es von Menschen. Die Arbeiter kamen von den Baustellen, aus Manufacturen oder Fabriken. Kolporteure boten Schund und Plunder feil, Waschweiber schleppten Körbe. Feine Herrschaften widmeten sich dem Abendamüsement. Über das Pflaster donnerten Kutschen und Pferdeomnibusse. Gontard fand es absurd, dass sie ausgerechnet in diesem Gewühl von Passanten ungestört blieben. Zwar schlichen auch seltsame graue Gestalten durch das Gewimmel, aber die waren sicher auf dem Weg in die Caféhäuser und Salons der Stadt. Denn hier draußen kümmerte sich jeder um sich selbst und um nichts anderes.
»Was, sagtest du, war der Verblichene vom Berufe?«, fragte Kußmaul laut.
»Privat-Secretär bei einem Adligen, von Traunstein heißt der. Warum fragst du?«
»Ein bürgerlicher Schreiberling also.« Kußmaul hob die Hand und fächelte sich Luft ins Gesicht. »Riechst du da nicht den Ärger, der auf dich zukommt? Auf uns?«
»O Freund, du siehst ja Gespenster!«
Kußmaul schnaufte. »Es ist gerade mal zwei Jahre her, dass wir auf den Barrikaden standen, bis der dicke König seinen Hut vor dem Pöbel gezogen hat. Und schau dich um! Die ganze Stadt ist voller Spitzel. Die Vogtei platzt aus allen Nähten, und dabei sind viele außer Landes gegangen. Ich sehe also Gespenster?«
Der Mediciner hatte wohl recht, dachte Gontard, Preußen war derzeit nicht gerade ein Schlaraffenland für Freigeister. Und ohne Frage führte der Freund seine Reden über Friedrich Wilhelm I V. besser nicht in Hörweite pommerscher Offiziere. Gontard sagte: »Es ist erst einmal nur eine Leiche im Landwehrkanal. Und ich will doch lediglich wissen, woran der Mann gestorben ist.«
Kußmaul seufzte. »Ich weiß, dass ich dich nicht zurückhalten kann, wenn du eine Leiche gefunden hast. Ich sehe mir den Knaben an. Hoffentlich gibt das keine Scherereien!«
Tagebucheintrag No. 1, 22. August 1850
Drei Tage sind nun schon vergangen. Drei Nächte ohne Schlaf. Ich bin müde. Ständig fallen meine Augen zu. Doch dann bin ich sofort wieder hellwach. Und ich sehe immer wieder dieses Bild: Der Mann fällt.
Dabei geht es mir gut. In der Schreibstube hat keiner etwas bemerkt. Da bin ich sicher. Die anderen Herren, etwa in den Amtsstuben, begegnen mir mit der Gemächlichkeit der Augusttage. Da falle ich auch todmüde nicht auf. Ich sitze an meinem Secretär und kümmere mich um die Correspondenz. Leider lenkt mich das kaum ab. Immer wieder gerate ich in Gedanken. Und ich sehe den Mann fallen.
Am Nachmittag verlasse ich das Bureau und weiß nichts mit mir anzufangen. Ich könnte ein Buch lesen, eine Ausfahrt mit dem Pferdeomnibus machen, in ein Caféhaus gehen. Aber nein. Ich schleppe mich zum Thiergarten. Es dämmert schon, und kaum jemand ist hier. Wahrscheinlich sind alle schon zu Hause oder in der Gastwirtschaft. Ich spaziere durch die Auen, aber es hilft nichts. Die Ruhe ist noch schlimmer als das Treiben in der Stadt. Nun ist Abend, und ich sehne den Morgen herbei.
Es ist schon seltsam. Ich habe Hunderte von Menschen sterben sehen. Ach was, Tausende. Damals bei Waterloo. 35 Jahre ist das her. Wir haben den Franzmännern eingeheizt. Die sind umgefallen wie die Fliegen. Ich weiß noch, wie das gestunken hat. Die ganzen Leichen haben angefangen vor sich hin zu modern. Natürlich sind auch ein paar von unseren treuen Kameraden auf dem Feld geblieben. Wir haben getrauert. Und wenn ich jetzt daran denke, fallen mir auch die schrecklichen Bilder ein. Abgeschlagene Gliedmaßen und Köpfe. Aufgeschlitzte und zerrissene Körper. Doch ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, so durcheinander gewesen zu sein wie heute im Thiergarten. Wegen einem Mann.
Vielleicht sind tausend Tote leichter erträglich als ein einzelner. Die Franzmänner waren uns sowieso egal. Da haben wir bei jedem Kadaver gejubelt. Aber auch bei unseren Toten konnten wir uns nicht lange mit der Trauer aufhalten. Kaum gedachten wir eines gefallenen Kameraden, blieb der nächste auf dem Feld. Eine alltägliche Tragödie. Bittere Rituale.
Ein paar zarte Geister haben das natürlich nicht vertragen. Erst sind sie still geworden, haben nicht mehr gesprochen. Dann nicht mehr gekämpft. Sie sind aufs Schlachtfeld geschlichen wie alte Männer. Zumeist mussten wir bald ihrer gedenken.
Auch ich habe schlechte Erinnerungen aus dem Krieg mit nach Hause gebracht. Die jedoch kamen mir selten und unvermittelt in den Sinn. Manchmal in der Nacht. Dann habe ich mir klargemacht, dass ich auf der richtigen Seite stand. Ich habe getan, was getan werden musste. Das Richtige.
Das sage ich mir auch heute: Ich habe vor drei Tagen das Richtige getan! Daran kann es keinen Zweifel geben. Und wenn der Kerl noch hundert Mal vor meinem inneren Auge zu Boden stürzt. Der ist doch selbst schuld.
Ja, ich habe abgedrückt. Ich habe auf sein Herz gezielt, und allem Anschein nach habe ich getroffen. Aber ich wäre doch niemals ohne Grund an diesen gottverlassenen Ort vor den Thoren der Residenzstadt geritten. Und ich schieße auch nicht ohne Sinn und Verstand auf Menschen.
Was hat dieser Puch sich gedacht? Dass er den Herrn über meine Zukunft spielen darf? Dass ich zusehe, wie er meinen Ruf zerstört? Mein Leben verpfuscht? Nein, ich habe das Recht, mich zu verteidigen. Wenn nötig, auch mit der Waffe in der Hand. Da sei der Herrgott mein Richter – ich habe nur getan, was ich tun musste. Wie auf dem Schlachtfeld.
Immerhin habe ich jetzt ein wenig zur Ruhe gefunden. Ich werde zu Bett gehen und schlafen. Das mit dem Tagebuch führe ich fort. Gleich morgen. Bis dahin habe ich eine Nacht vor mir. Den Schlaf eines Gerechten. Denn der bin ich. Soll der Mann doch ins Wasser fallen, wie er will.
Zwei
Freitag, 23. August 1850
Christian Philipp von Gontard schritt durch das Treppenhaus zum Bureau seines Lehrstuhls. Seine Schritte hallten durch das Gemäuer. Er war zeitig in die Vereinigte Artillerie- und Ingenieurschule gegangen, denn noch herrschten draußen Unter den Linden erträgliche Temperaturen. Nicht nur er schien auf diesen Gedanken gekommen zu sein, denn als er am Treppenabsatz kurz stehenblieb, klackten weiterhin Stiefel über die Stufen. Die