Die Leiche im Landwehrkanal. Uwe Schimunek
»Schon wieder? Hat es öfter Ärger gegeben wegen ihm?«
»Nun ja …« Traunstein zögerte. »Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll … Er ist kein einfacher Charakter.«
»Hat er seine Arbeit vernachlässigt?«
»Ach was, Herr Oberst-Lieutenant! Er ist ein sehr fleißiger Mann und sehr zuverlässig. Erst am Montag hat er für mich Anweisungen an den Verwalter eines meiner Güter notiert. Seine Formulierungen sind nicht immer die geradlinigsten, aber stets korrekt. Er hat nur …«, Traunstein suchte anscheinend erneut nach den richtigen Worten, »… diese Flausen in seinem Kopf. Das ist manchmal nicht einfach.«
Martha von Traunstein brachte ein Tablett mit zwei Cognac-Schwenkern und einer Flasche zum Nachschenken. Sie hatte sich ein seidenes Tuch über die Schultern geworfen und verabschiedete sich mit herzlichen Worten zu einem Spaziergang.
»Den haben wir von unserer letzten Reise nach Paris mitgebracht. Ein vorzüglicher Tropfen«, sagte Traunstein und nippte am Glas.
Auch Gontard trank. Der Schnaps schmeckte so weich, dass die Kehle beim Schlucken kaum zu spüren war. Er kehrte zum Thema zurück. »Herr Puch ist kein junger Mann mehr, nicht wahr?«
»Nein.« Traunstein lachte. »Er ist, wie man so schön sagt, im besten Alter. Nur verhält er sich nicht so. Er ist noch immer Junggeselle und wohnt in einem Zimmer zur Untermiete. Eine feste Anstellung hat er auch nicht. Ich glaube, er hält sich für einen Schriftsteller, einen Dichter gar.«
»Ist er denn einer?«
»Da fragen Sie den Falschen. Ich lese zumeist die Abrechnungsbücher unserer Landgüter oder Amtspapiere, wenn ich um einen Rat gefragt werde. Mit der schöngeistigen Literatur bin ich weniger vertraut.«
Gontard wiegte den Cognac-Schwenker und sah Traunstein fest an. »Hatte Herr Puch Feinde?«
»Feinde? Das ist ein starkes Wort. Er macht sich nicht nur Freunde. Auch nicht mit seinen liberalen Reden, die er selbst in aller Öffentlichkeit hält.« Traunstein hielt Gontards Blick stand, während er seinen Kopf wiegte.
»Aber er hat Manieren. Ich jedenfalls habe bislang keinen Grund gesehen, auf seine Dienste zu verzichten. Was ist denn nun mit ihm?«
»Er ist tot. Wir haben seine Leiche im Landwehrkanal gefunden. Vermutlich wurde er erschossen.«
Traunstein saß für einen Augenblick starr wie eine Skulptur. Dann trank er einen großen Schluck Cognac.
Gontard spazierte zwischen den Villen stadteinwärts. Es blieb genug Zeit für ein paar Minuten Erholung, bevor er zum Landwehrkanal ritt – Zeit, noch einmal über das Gespräch mit Traunstein nachzudenken. Der Alte hatte nicht mehr viel gesagt, ihn aber höflich eingeladen, jederzeit weitere Fragen zu stellen. Darauf würde Gontard zurückkommen, da war er sich sicher. Doch zunächst musste er sich darüber klar werden, wonach er suchen sollte. Kam der Mörder aus Puchs Bekanntenkreis? Mit wem hatte der verkannte Dichter zu Lebzeiten Umgang gehabt? Oder war alles ganz anders? Lag Kußmaul richtig, und hinter alldem steckte die Politik?
Er musste mehr über Puch erfahren, so viel stand fest. Noch nicht einmal von Puchs Äußerem hatte Gontard ein eindeutiges Bild, dafür war die Wasserleiche viel zu entstellt gewesen. Ob es ein Bildnis von Puch gab? Und wenn ja, wo?
Puch wohnte zur Untermiete, das hatte Traunstein erwähnt. Also bekam Gontard die Adresse nicht einfach über Adressregister heraus. Lenné kannte das Opfer auch, Gontard konnte ihn in Bälde befragen. Bei dem Gedanken verspürte er kurz den Drang, seine Schritte zu beschleunigen. Aber nein, es blieben nur noch ein paar hundert Meter, dann ließ er die Thiergarten-Siedlung hinter sich und kam in die Stadt, ins Gewimmel. Die letzten Schritte lang wollte er noch die Ruhe der Vorstadt genießen. Kein Mensch war hier auf der Straße.
Zumindest fast keiner, denn Gontard hörte, wie sich Schritte von hinten näherten. Es waren Tippelschrittchen. Er drehte sich herum und sah Martha von Traunstein herbeieilen.
»Gut, dass ich Sie noch antreffe, Herr Offizier!«, rief sie ihm zu.
Gontard blieb stehen und schaute die Dame an. Im Sonnenlicht wirkte sie hell und zart wie ein Engel. Ihm kam es beinahe vor, als könne er durch sie hindurchschauen. Vermutlich kam der Eindruck daher, dass ein heller Hut ihre brünetten Locken verbarg. Erneut war da dieses Gefühl, dass er die Frau schon einmal gesehen hatte.
»Ich habe beim Herausgehen gehört, dass Cornelius der Grund für Ihren Besuch war.«
»Cornelius?«
»Puch, Herrmanns Secretär. Was ist mit ihm?«
Gontard sah, wie Martha von Traunstein sich mit der bloßen Hand Luft zufächelte. War sie nervös, oder setzte ihr nur die Hitze zu? Er sagte: »Er ist tot.«
»O mein Gott! Wie ist das passiert?«
»Vermutlich wurde er erschossen.«
»Nicht möglich!«
»Warum nicht?«
»Nun, Cornelius war …« Die Dame seufzte. Sie zog ihr Tuch vor dem Busen zu, als fröstelte sie, und fragte: »Kann ich Ihnen vertrauen, Herr Offizier?«
Ihre Handbewegung und die Frage kamen Gontard theatralisch vor, so wie eine einstudierte Geste – eine, die schon Tausende von Malen ausgeführt worden war. Er nickte.
Martha von Traunstein schlug die Augen auf. »Er war so ein sensibler Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er in eine Gewalttat verwickelt sein soll. Nicht einmal als Opfer.«
»Sie kannten ihn gut?«
»Ich halte Sie nicht für dumm, Herr Offizier.« Martha von Traunstein lächelte, und da war er wieder, der Engel.
»Wenn Sie herumfragen, wird Ihnen bald jemand davon erzählen. Ich hatte ein Verhältnis mit Cornelius Puch. Aber das ist lange her. Ich habe das beendet. Er hat das akzeptiert. Und wir sind Freunde geworden.«
Gontard runzelte die Stirn. Er glaubte nicht an verlassene Liebhaber, die ihrer Angebeteten täglich begegneten und sich damit zufriedengaben. Martha von Traunstein schaute arglos aus ihren braunen Augen. So guckten Frauen, um von ihren Worten abzulenken, dachte Gontard. Er schwieg.
Martha von Traunstein ließ ihr Tuch los und ergriff Gontards Hand. »Er war bis zuletzt voller Sanftmut. Das können Sie mir glauben.«
Ihre Hand lag so leicht auf der Gontards, dass dieser fürchtete, ein Windstoß könnte die Finger hinfortwehen. Das wäre schade. So einen Moment reiner Poesie erlebte Gontard nicht häufig – mit Henriette schon seit Jahren nicht mehr, und auch sonst nicht, als verheirateter Mann.
Gontard fragte: »Weiß Ihr Gatte davon?«
»Herrmann ist ein älterer Herr. Schon als er mich ehelichte, wusste er, dass ich gewisse Bedürfnisse habe. Ich bin diskret, und er behelligt mich nicht mit Nachstellungen.« Sie zog ihre Hand zurück und begann erneut, an ihrem Tuch herumzuspielen.
Jetzt gab es schon zwei Männer mit Hörnern und Verständnis – und einen von beiden hatte er gestern tot im Landwehrkanal gefunden. Gontard fragte: »Haben Sie in letzter Zeit beobachtet, dass Ihr Mann und Herr Puch Streit hatten?«
Martha von Traunstein schaute so entsetzt, als habe Gontard ihr Prügel angedroht. Sie antwortete: »Herr Oberst-Lieutenant, was denken Sie! Natürlich nicht. Cornelius war stets ein treuer Diener unseres Hauses. Und Herrmann hat seine Arbeit hoch geschätzt. Selbst wenn Herrmann etwas von unserer längst vergangenen Liaison bemerkt hat, würde er sich nie zu einer unbedachten Tat hinreißen lassen.« Martha von Traunstein unterstrich ihre Worte, indem sie mit dem Zeigefinger in der Luft herumwedelte.
Bei dieser theatralischen Geste fiel Gontard ein, woher er die junge Dame kannte. Sie sang an der Oper. Er hatte sie erst letztlich als Agathe im Freischütz gesehen. Wann war das? Im vergangenen Frühjahr? Oder im Winter? Er sollte öfter in die Oper gehen. Am besten mit Henriette.
»Sie werden dieses Gespräch doch vertraulich behandeln, Herr Oberst-Lieutenant?