Der König vom Feuerland. Horst Bosetzky
Leben eines Zimmergesellen unterschied sich von dem eines Zimmerlehrlings nicht wesentlich. August Borsig führte immer noch das gleiche Leben. Ein bisschen mehr Rechte kamen ihm zu, und die Arbeiten, die er auszuführen hatte, waren etwas anspruchsvoller, aber der Polier und der Meister konnten ihm weiterhin Anweisungen geben, wie sie wollten – und ihn tadeln, wenn sie es für richtig hielten. Sein eigener Herr war er nun weiß Gott noch immer nicht. Und das lastete ebenso auf ihm wie das Wissen, dass er das Holz nicht mehr liebte, sondern es mehr und mehr verachtete, weil es ein zu simpler Werkstoff war. Man ging ganz einfach in den Wald und fällte einen Baum, dann hatte man es. Wie anders dagegen das Eisen! Wie viel menschlicher Geist und wie viel handwerkliches Geschick waren vonnöten, aus Erz Eisen zu gewinnen!
Friedrich Hermes fand, dass er richtig schwermütig geworden war.
»Du hast gut reden!«, rief Borsig. »Du bist ja Schmied und hast das Eisen als Material. Holz, das ist das Mittelalter – Eisen, das ist die moderne Zeit!«
Friedrich Hermes versuchte sich als Philosoph: »Ein Pferd kann keine Kuh werden – und eine Kuh kein Pferd.«
August Borsig stöhnte auf. Keiner verstand ihn so richtig. Aber wie denn auch, er selbst schaffte es ja auch nicht. Sein verstorbener Freund Walter Rawitsch hätte gesagt: »Der August Borsig ist jetzt bei den Stadtmusikern. – Wie denn das? – Er bläst. – Trompete oder Tuba? – Nein, Trübsal.«
Das Ende der Tristesse kam schlagartig, als er Marie erblickte, die Tochter seines neuen Meisters. Sie war für ein paar Wochen in Liegnitz gewesen, um ihre kranke Großmutter zu pflegen.
Er war jetzt neunzehn Jahre alt, sie mochte etwas jünger sein, und von daher passten sie zusammen. Vielleicht war sie etwas drall, aber das fand er sehr verführerisch, und sie hatte ein liebes rundes Gesicht. Es musste unwillkürlich an die Kolportageromane denken, die langsam in Mode kamen: Tüchtiger Geselle heiratet liebliche Tochter seines Meister, übernimmt später dessen Geschäft, und alle werden froh und glücklich. Märchen, die wahr wurden. Auch Maria schien Feuer gefangen zu haben, denn hatte sie ihn anfangs unschuldig angelächelt, so zuckte sie jetzt, wenn sich ihre Blicke trafen, und ihre Wangen wurden von einer verräterischen Röte überzogen. Und er hatte seine Schwierigkeiten, sich abrupt zu erheben, wenn er sie heimlich angestarrt hatte, denn die Aufwölbung seines Hosenlatzes wäre zu peinlich gewesen. Ab und an saßen der Lehrling und die Gesellen im Hause des Meisters und mit dessen Familie am Mittagstisch, und das waren dann wahre Festtage für August Borsig. Näher aber kam er Marie Kiesewetter nicht.
»Du musst ihr einen Liebesbrief schreiben«, riet ihm sein Freund Friedrich Hermes, als er dem seine Nöte geschildert hatte. »Am besten mit einem Gedicht. Die Frauen lieben so etwas und sind dann ganz gerührt.«
»Das kann ich nicht.«
»Dann machen wir das gemeinsam. Meine ältere Schwester ist mit der Feder so gewandt wie mit der Nähnadel. Außerdem hat sie ein paar von Goethes Gedichten im Poesie-Album stehen.«
So kam dann mit Hilfe von Katharina Hermes Borsigs erster Liebesbrief zustande, veredelt mit den ersten und den letzten Zeilen des Goethe-Gedichtes Nähe des Geliebten:
Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.
Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne,
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
O wärst du da!
Nun war es zwar schwer, von Breslau aus aufs Meer zu blicken, aber das Brieflein tat dennoch seine Wirkung, denn als August Borsig einen Tag später vom Abtritt kam und Marie, die in die Küche wollte, in die Arme lief, fuhr sie nicht etwa erschrocken zurück, sondern umschlang ihn, so dass es geradezu unmöglich war, sie nicht zu küssen. Die Welt um ihn herum versank, und er sagte später, er könnte schwören, stundenlang in enger Umarmung mit ihr im Flur gestanden zu haben. In Wahrheit aber waren es nur Sekunden, denn da tauchte auch schon Kiesewetter auf und trieb sie mit einem harschen »Was soll denn das?!« schnell wieder auseinander.
Der nächste Tag – es war der 22. September 1823 – sollte August Borsigs letzter an der Königlichen Provinzial-Kunst- und Bauhandwerksschule werden. Mit ungewissen Gefühlen, ebenso erleichtert darüber, dass alles vorbei war, wie enttäuscht darüber, dass nun schon alles vorbei war, hockten sie in ihren Bänken und warteten darauf aufgerufen zu werden. Hier wusste man, was einen erwartete, doch die Zukunft war ungewiss, und ob alle Blütenträume reiften, war fraglich, denn Preußen war noch nicht so weit – so schien es ihnen jedenfalls –, dass man sie mit ihrer hohen Qualifikation draußen im Lande wirklich gebraucht hätte.
»Borsig!«
Wie in Trance erhob er sich und schritt nach vorn. Der Bauinspector Hirt nahm sein Abgangszeugnis aus einem blauen Aktendeckel, drückte es ihm aber noch nicht in die Hand, denn zuerst war August Borsig noch die große silberne Medaille für die Konstruktionszeichnung einer hölzernen Kuppel nach italienischen Vorbildern auszuhändigen.
»Der Kuppelbau war ja Ihre große Leidenschaft, Borsig. Gut so!«
August Borsig musste unwillkürlich an Walter Rawitsch denken, der ihm einmal gesagt hatte, wenn er es so mit den Kuppeln habe, solle er doch am besten Kuppler werden. So sah er etwas geistesabwesend aus, als man ihm sein Abgangszeugnis in die Hand drückte.
»Ein guter Anfang, Borsig«, sagte Hirt mit der gebotenen Feierlichkeit. »Und wir freuen uns darauf, später noch viel Gutes von Ihnen zu hören!«
August Borsig bedankte sich und überflog im Zurückgehen das Blatt, das er vorsichtig in den Händen hielt und das vom Hofrath Bach unterschrieben war:
Sein Fleiß und seine Fortschritte in dem Unterricht der schönen und städtischen Baukunst, im Zeichnen alter Säulen, in den vorzüglichen Übungen der Zimmerkunst wie auch im besonderen Unterricht der Mechanik waren besonders lobenswert. Zudem hat der Eleve Borsig mit Eifer und Fleiß die Freihandzeichnungen in verschiedener Art studiert und dabei sehr gute Fortschritte gemacht.
Man feierte das Bestehen in einer nahe gelegenen Schänke, aber als August Borsig dann mit dem Zeugnis in der Hand nach Hause ging, war er etwas schwermütig gestimmt.
»Was hast du denn erwartet?«, fragte ihn Friedrich Hermes. »Dass Friedrich Wilhelm III. höchstpersönlich in einer Kutsche angefahren kommt, um dich als Königlichen Hofzimmermann nach Berlin zu holen?«
»Ja, so in etwa«, brummte Borsig und wurde bitter. »Aber was habe ich denn von der langen Quälerei bei Hirt und Bach? Dieses Zeugnis hier ist doch zu nichts nütze, damit kann ich mir doch den Hintern abwischen!«
Friedrich Hermes suchte, ihn zu beruhigen. »Gott, August, du hast doch in den drei Jahren unheimlich viel gelernt. Das ist doch ein Kapital, mit dem du später einmal wuchern kannst.«
»Ja, ich habe den Kopf voller Wissen und Ideen, aber es ist niemand da, der das alles haben will!«, rief Borsig.
»Sei doch nicht so ungeduldig, du musst nur warten können.«
Am Abend wurde Borsig von Caspar Kiesewetter zu einem Gespräch unter vier Augen gebeten. Er bekam weiche Knie und zitterte am ganzen Körper, denn er erwartete nichts anderes, als dass der Meister ihn bitten würde, förmlich um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Aber es sollte ganz anders kommen.
»Borsig, ich kann und ich darf Sie nicht mit Gewalt halten, wenn ich es auch äußerst gern täte. Aber Sie wollen in die Welt, und Sie müssen in die Welt!« Damit bekam er ein Blatt Papier in die Hand gedrückt.
Hierdurch bestätige ich, dass Johann Friedrich Borsig bei mir in Arbeit gestanden und auf sein Ansuchen, weil derselbe, um seine Kenntnisse zu vermehren, reisen will, hiermit entlassen wird. Sein Fleiß und seine Aufführung waren stets so, dass ich ihn