Der König vom Feuerland. Horst Bosetzky
und ihr Blick zum Schauspielhaus hinüberging.
»Das alte Haus ist 1817 abgebrannt«, wusste Järschersky zu erzählen, »und Schinkel hat 1819 und 1820 ein neues an seine Stelle gesetzt. Anderthalbtausend Zuschauer gehen rein, und hier am Fries kannst du gleich einmal Latein lernen: Fridericus Guilelmus III. Theatrum et Odeum incendio consumta majore cultu restituit 1821. Das bedeutet?«
»Friedrich Guelemus hat das Theater 1821 dreimal mit Major Cultu zusammen besucht«, riet Borsig.
Järschersky wusste es besser. »Friedrich Wilhelm III. hat das abgebrannte Schauspielhaus und den Concertsaal in größerer Pracht wiederhergestellt 1821.« Er lachte. »Du solltest anfangen, Latein zu lernen!«
»Dann schon lieber Englisch, denn die Engländer geben jetzt überall den Ton an und nicht mehr die alten Römer.« Dabei stieß Borsig einen Seufzer aus. »Jetzt bin ich aber wirklich erschöpft! Wo habt ihr denn hier in Berlin einen schönen Kretscham?«
»Einen was?«
»Ein Gasthaus. Ein Königreich für ein Schweidnitzer Schöps oder ein Gottesberger Pils!«
Destillen und Budiken gab es genügend in Berlin, und bald hatten sie ihren Durst gestillt.
Am nächsten Tag ging es dann durch die weniger repräsentativen Teile der Stadt und durch Straßen, in denen Läden, Werkstätten und Manufacturen zu finden waren. Hinter verrußten Scheiben begann es plötzlich rot aufzuglühen. Das dumpfe Dröhnen eines Vorschlaghammers war zu hören, und heller klang es, wenn ein kleinerer Hammer auf den Amboss schlug. Aus den Schornsteinen quollen dunkle Rauchwolken in den herbstlich verschleierten Himmel. Aus düsteren Thorwegen kamen Männer mit blauen Arbeitshemden heraus, ein Schurzfell um die Hüfte gebunden. Was hier entstand, war nicht so prunkvoll und gigantisch wie das, was Schinkel schuf, aber es war für August Borsig eine ebenso hohe Kunst. Irgendwie fühlte er, dass Eisen und Maschinen die Welt alsbald beherrschen würden und Schinkels Bauten dann nur Beiwerk waren.
In der Mauerstraße las Borsig an einem der Häuser den Namen Julius Conrad Freund und ließ sich von Järschersky erzählen, dass Freund von Uthfelde an der Weser nach Berlin gekommen war, um als Lehrling in die Dampfmaschinenwerkstatt seines Bruders einzutreten. »Brillengläser hat er anfangs geschliffen. Dann ist der Bruder gestorben, und mit achtzehn Jahren hat er die Werkstatt übernommen.«
Borsig staunte, was einem preußischen Untertanen alles möglich war, wenn er diese Karte spielte, die Karte des Maschinenbaus. Ein Zimmermannsgeselle wie er konnte niemals General werden oder Minister des Königs, niemals Landjunker oder Professor, aber Werkstattbesitzer und vielleicht einmal – wenn sich die Dinge in Preußen so entwickelten wie in England – ein Fabrikherr, der reich und mächtig war und vor dem König nicht demütig in die Knie gehen musste.
Während er dies dachte, waren sie in die Lindenstraße eingebogen, und dort fiel sein Blick auf ein Haus, das in großen Buchstaben den Namen F. A. J. Egells trug. Er stand lange davor und sah zu, wie hinter den Scheiben Lichter und Flammen gelb und rötlich aufzuckten. Drinnen quoll das flüssige Eisen aus dem Ofen oder den Gießpfannen in die Formen. Er musste unwillkürlich an die Zeichnung denken, die über seinem Bett in der Münzstraße hing: Schicksal, ick erwarte dir!
»Du, ich glaube, das flüssige Eisen und die Maschinen, die daraus entstehen, die sind mein Schicksal!«
Wilhelm Järschersky lachte nur. »Ich dachte auch, die Philosophie und die Theologie seien mein Schicksal, als ich Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen gelesen hatte – aber denkste! Wie meine Mutter sagen würde: Doof bleibt doof, da helfen keene Pillen. Ich versteh das alles nicht, was die da sabbeln, und ich werde nie Philosophieprofessor oder Pfarrer werden, da habe ich absolut auf die falsche Karte gesetzt und mich völlig überhoben. Das Einzige, wozu ich tauge, ist, Holzhändler zu werden – genau wie mein Vater. Und du solltest daraus deine Lehre ziehen: Nicht hoch hinauswollen, sondern schön auf dem Boden bleiben. Zimmermann, bleib bei deinen Balken!«
August Borsig litt unter Berlin, und er litt unter sich selbst. Die Stadt war ihm zu groß und zu abweisend. Er fand sich unerträglich, weil er Sehnsucht nach Breslau hatte, nach seiner Familie, nach Marie, und Angst vor dem Neuen, das da auf ihn zukam. Zimmermann, bleib bei deinen Balken! Wilhelm Järscherskys Warnung hatte er noch lange im Ohr. Er aber wollte nicht bei seinen Balken bleiben, sondern um alles in der Welt hin zum Eisen, hin zu den Maschinen aus Eisen. War das sein Glück, war das sein Untergang? Zu all den inneren Monologen und Qualen kam die Tatsache, dass er die Hohenzollernresidenz ziemlich langweilig fand. In die Oper und ins Theater zog es ihn nicht, und daneben gab es nichts, was ihn wirklich begeistert hätte – weder das Freischießen auf dem Berliner Schützenplatz noch eines der wenigen Volksfeste. Zur Schlachtfeier von Großbeeren wäre er schon gegangen, aber die hatte bereits am 23. August stattgefunden.
»Dein Gemütszustand lässt ja sehr zu wünschen übrig«, hatte Wilhelm Järschersky schnell erkannt. »Berlin ist dir nicht aufregend genug … Nun gut, mal sehen, was wir dagegen machen können.« Er überlegte einen Augenblick. »Warst du schon einmal bei einem Duell dabei?«
Borsig war erstaunt über diese Frage. »Nein. Ich dachte, die sind jetzt verboten.«
»Das sind Sie auch, und es gibt einige Jahre Festungshaft, wenn einer getötet wird, aber beim Adel und in der Armee drückt man schon mal beide Augen zu, wenn sich zwei Zu und Von duellieren. Die Ehre ist eben das Wichtigste.« Järschersky begann nun zu flüstern. »Ich weiß, dass es morgen früh um fünf im Thiergarten ein Duell geben wird. Waldemar von Schwanow ist von einem Neffen zum Zweikampf gefordert worden, dem Leutnant Ferdinand von Deichmann. Schwanow hat gesagt: ›Ich bin ein Mann, der auf dem Schlachtfeld Pulver gerochen hat – du aber nur im Bett das Puder deiner Mätressen.‹«
Borsig staunte. »Woher kennst du die denn alle?«
»Der von Schwanow hat ausgedehnte Waldungen und sein Holz immer an meinen Vater verkauft. Da sind wir oft bei ihm gewesen.«
Borsig schauerte es ein wenig. »Und die schießen richtig mit Pistolen aufeinander?«
»Ja, meinst du denn, die bewerfen sich mit Pferdeäppeln?«
Am nächsten Morgen, kaum hatte es von den Kirchtürmen vier Uhr geschlagen, liefen sie zum Thiergarten, um sich in der Nähe des Brandenburger Thores im Gebüsch zu verstecken – vor sich die Lichtung, auf der das Duell stattfinden sollte. Järscherskys Informationen waren richtig gewesen: Pünktlich erschienen die beiden Duellanten mit ihren Sekundanten. Wie schwarze Krähen kamen sie vom Hauptweg her. Einer der Begleiter trug einen Mahagoni-Koffer mit den Waffen. Es wurden einige Worte gewechselt, die Järschersky und Borsig in ihrem Versteck aber nicht verstanden. Die Distanz, über die der Schusswechsel gehen sollte, wurde vermessen. Dies geschah dergestalt, dass die beiden Sekundanten Rücken an Rücken standen und sich dann jeweils fünfzehn Schritte voneinander wegbewegten. Als die Standpunkte der beiden Schützen mit zwei armdicken Ästen markiert waren, wurde aber noch gewartet.
»Der Arzt ist noch nicht da«, flüsterte Järschersky.
Der erschien schließlich, und von Schwanow, der Ältere der beiden, und der Leutnant traten, ohne sich eines Blickes zu würdigen, an den aufgeklappten Mahagoni-Koffer, griffen zu den absolut gleichen Pistolen und schritten wie mechanische Puppen zu ihren festgelegten Positionen. Dabei wurden sie immer langsamer, als sei die Feder, mit der man sie aufgezogen hatte, abgelaufen. Borsig kam es so vor, als würden sie gar nicht ankommen wollen. Doch nichts ließ sie mehr aufhalten, und als sie ihre Markierungen erreicht hatten, machten sie wie auf Befehl gleichzeitig kehrt, so dass nun ihre Gesichter einander zugewandt waren. Der Lauf ihrer Waffe zeigte noch nach unten.
In der Mitte zwischen beiden, aber in sicherer Entfernung von der Schusslinie, stand der eine Sekundant mit einem weißen Tuch in der hochgereckten rechten Hand.
Järschersky zitterte vor Erregung. »Du oder ich! Sein oder Nichtsein!«
August Borsig schloss die Augen und dachte nur: Du sollst nicht töten! Am liebsten wäre er auf die Lichtung gestürzt, um die beiden Adligen an ihrem Tun zu hindern. Järschersky musste das gespürt