Der König vom Feuerland. Horst Bosetzky
Da hatte man in den preußischen Universitäten und in Kreisen jüngerer Beamter dem freien Wettbewerb und freien Handel das Wort geredet und dabei übersehen, dass der Rückstand der einheimischen Gewerbetreibenden viel zu groß gewesen war und nun die Engländer mit ihren Waren ungebremst den ganzen Kontinent überschwemmten. Der Schuss war also gründlich nach hinten losgegangen …
Doch Beuth hatte weder resigniert noch die missliche Situation schöngeredet – er hatte gehandelt: Nachdem ihm 1820 die Zuständigkeit für das Gewerbeschulwesen übertragen worden war, hatte er am 1. November 1821 im Gebäude seiner Technischen Deputation in der Klosterstraße 36 eine zweiklassige Gewerbeschule mit zunächst dreizehn Schülern und vier Lehrern eröffnet. Deutlich grenzte er sein Technisches Institut von dem Lehrbetrieb an den Universitäten ab: Wer mehr lernen will, tut es auf der Universität. Dieses Mehr schließe ich von der Technischen Schule aus, weil ich es mehr für eine Zierde als von wesentlichem Einfluß auf das Gedeihen der Gewerbe und ihre Blüte halte. Sein Institut sollte allen Bevölkerungsschichten offenstehen, und zur Aufnahme in die untere Klasse genügten anfangs eine gute Handschrift, die Fähigkeit, dem mündlichen Vortrage zu folgen und das Vorgetragene sprachlich auszuarbeiten, sowie das gewöhnliche Rechnen. Für die obere Klasse wurden vorausgesetzt: Kenntniß der Geometrie (Planimetrie und Stereometrie) ohne Beweise, Kenntniß der gemeinen Arithmetik, des Gebrauchs der Logarithmen, Elementarkenntniß in der Physik und Chemie, Handzeichnen nach aufgestellten Körpern, Maschinenzeichnen nach eigener Aufnahme und geometrische Darstellung.
Das Ganze gedieh prächtig, doch Beuth wollte sich mit dem Erreichten nicht zufriedengeben. Im Gebäude der Technischen Deputation, dem ehemaligen Palais Kreutz, wollte er eine Maschinensammlung, eine Modellsammlung und eine Sammlung fertiger Produkte anlegen, und sogar einen Anbau plante er. Auch ein anderes Projekt, das er gemeinsam mit seinem Freund Karl Friedrich Schinkel angefangen hatte, trieb er kräftig voran.
Schinkel, geboren am 13. März 1781 in Neuruppin, war 1805 von seiner zweiten Italienreise nach Berlin zurückgekommen und hatte 1810 durch Vermittlung Wilhelm von Humboldts eine feste Anstellung gefunden. 1815 war er zum Geheimen Oberbaurath ernannt worden und hatte begonnen, Berlin mit den von ihm erdachten Bauten zu einer europäischen Metropole zu machen, allen voran mit der Königswache, dem Schauspielhaus und dem Königlichen Museum. Er wohnte jetzt mit seiner Familie Unter den Linden 4a und kam gern einmal in die Klosterstraße.
Beuth sprang auf, als Schinkel eingetreten war, und eilte dem Freund entgegen, um ihn herzlich zu umarmen. Beide gaben die Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker heraus, eine aufwendig gestaltete Sammlung von vorwiegend antiken Formen und Mustern, an denen sich die Gewerbeschulen wie die Fabrikanten orientieren sollten. Gebrauchsgegenstände sollten nicht nur nützlich, sondern auch schön sein und den Aufstieg der preußischen Industrie befördern.
»Was gibt es Neues?«, fragte Beuth.
Schinkel überlegte einen Augenblick. »Unser Kronprinz Friedrich Wilhelm wird im November seine bayerische Elisabeth zum Traualtar führen, und er wird zur Hochzeit Schloss Stolzenfels am Rhein geschenkt bekommen.«
»Und was hast du damit zu schaffen?«
»Ich soll die Pläne zum Umbau entwerfen.«
Beuth verzog das Gesicht. »Schade, ich sähe es lieber, wenn du dich ganz um Berlin kümmern würdest.«
Schinkel lachte. »Deine Gewerbeschule hier wird doch in Bälde so viele große Köpfe hervorbringen, dass Leute wie ich schnell entbehrlich werden.«
»Dein Wort in Gottes Ohr!«
Als August Borsig am letzten Sonntag im Februar am Ring stand und auf seinen neuen Freund Friedrich Hermes wartete, lief ihm sein alter Klassenkamerad Walter Rawitsch über den Weg. Sie hatten sich ein wenig aus den Augen verloren, dennoch begrüßten sie sich mit einigem Hallo. Beide standen kurz vor ihrer Gesellenprüfung, Walter als Tischler, August als Zimmermann.
»Wir machen also beide unser Glück mit dem Holz«, sagte Walter Rawitsch.
Borsig winkte ab. »Ich bin über meinen Beruf gar nicht mehr so glücklich …«
Walter Rawitsch lachte. »Bist du also sozusagen auf dem Holzweg?«
»Eher in einer Sackgasse.«
»Besser in einer Sackgasse als auf einem Misthaufen.« Walter Rawitsch war immer noch der Alte. »Aber mit der schönen Henriette ist es trotz deines Opfers nichts geworden?«
»Leider nein. Oder Gott sei Dank – ganz wie man will.«
Walter Rawitsch kam ihm mit einer alten Volksweisheit: »Früh gefreit, hat nie gereut.«
»Wir haben ja noch unsere Walz vor uns. Wer weiß, wen ich da kennenlerne …«
Die Walz galt als Voraussetzung, um von der Zunft in den Meisterstand aufgenommen zu werden. Wenn ein Lehrling aus der Lehrzeit entlassen wurde, ging er als Geselle für ein bis drei Jahre, manchmal sogar noch länger, auf Reisen. Als »er-fahrener« und »be-wanderter« Mann sollte er nach abgeschlossener Wanderschaft in die Heimatstadt zurückkehren.
»Wohin treibt es dich denn?«, fragte Walter Rawitsch.
Borsig zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Irgendwie habe ich zu nichts mehr richtig Lust. Ein Leben lang nur Zimmermann sein … Ich weiß nicht …«
»Das erinnert mich an Goethes Die Leiden des jungen Werther.« Über diesen Roman hatten sie in der Schule eingehend gesprochen, und Mistek hatte den Gedanken an einen Selbstmord als zutiefst unchristlich und unpreußisch verdammt.
August Borsig winkte ab. »Das nicht, aber …« Ein Vergleich kam ihm in den Sinn. »Manchmal sehe ich mich als Kugel, die Gott auf die Kegelbahn gerollt hat. Ich möchte meinen Lauf gerne ändern, kann es aber nicht. Ich rolle und rolle …«
»Und am Ende deines Lebens heißt es dann: Volltreffer, alle Neune!«
»Oder aber die Kugel rollt von der Bahn und alle schreien: Eine Ratte!«
Nach diesem Gespräch verbrachten sie noch einen sehr angenehmen Tag miteinander, und als sie am Abend adieu sagten, verabredeten sie, sich von nun an öfter zu treffen.
Daraus aber sollte nichts mehr werden, denn am Donnerstag bekam August Borsig die Nachricht, dass Walter Rawitsch bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Gemeinsam mit seinem Meister hatte er ein Sägewerk besichtigt, und dabei waren aufeinandergeschichtete Baumstämme ins Rollen gekommen und hatten ihm den Brustkorb zerquetscht. August Borsig trauerte lange um den Freund, und immer wieder musste er an dessen Worte denken: »Wir machen also beide unser Glück mit dem Holz.« Von wegen! Walter Rawitsch hatte das Holz den Tod gebracht, und August fragte sich, ob das ein Wink des Schicksals war, er selbst solle einen anderen Weg nehmen. Aber welchen denn? Die Kugel, die rollte unaufhaltsam … Bei aller Trauer kam ab und an ein Gefühl in ihm auf, dessen er sich furchtbar schämte, das er aber nicht ganz unterdrücken konnte: Gott sei Dank hat es ihn getroffen – und nicht mich! Wer weiß, was der Himmel mit mir noch vorhat? Aber was sollte er schon vorhaben? Zimmermeister zu Breslau würde er werden.
Nun, die erste Etappe auf diesem Weg hatte er am 12. März 1823 zurückgelegt. Da stand er im schwarzen Feiertagsanzug im Festsaal der Innung und bekam den Lehrbrief überreicht. Schnell überflog er die verschnörkelten Buchstaben. Die Alt- und Gildemeister des löblichen Zimmermittels der Haupt- und Residenzstadt Breslau bestätigten ihm, dass er vom Quartal Reminiscere 1820 bis Reminiscere 1823 die Zimmer-Profession bei dem Zimmermeister Georg Ihle gehörig erlernt habe.
Ihle schüttelte ihm zuerst die Hand und war sichtlich gerührt, dann gratulierten ihm auch die Eltern und sein Freund Friedrich Hermes.
Der Zimmermeister Caspar Kiesewetter, einer von den Alt- und Gildemeistern, hatte bei der Freisprechung alle Lehrlinge aufmerksam gemustert, dann hatte er August Borsig freundlich zugenickt und ihn zu sich herangewinkt. »Borsig, Sie gefallen mir von allen am besten, und ich würde mich freuen, wenn ich Sie als meinen Gesellen begrüßen dürfte.«
Was blieb August Borsig da anderes übrig, als sich artig zu bedanken? Aber dass jähe Freude