Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen. Martin Löschmann

Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen - Martin Löschmann


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Blick werfen konnten: Hauptaltar im Stil des Rokoko, barocke Seitenaltäre, Tragaltäre aus dem 18. Jahrhundert. Angeeignetes Kulturwissen, in der Kinderzeit ein fremder Ort, der ‚naturgegeben‘ gemieden wurde, will sagen: Zwischen den beiden Konfessionen gab es Spannungen, gelegentlich abfällige Bemerkungen über Katholiken im Dorf. Sie lassen sich unter Bigotterie mit den Merkmalen Glaubenseiferei und Scheinheiligkeit zusammenfassen. Gefühlt war unser Dorf mehrheitlich evangelisch.

      Die evangelische Kirche auf einer kleinen Anhöhe am südlichen Dorfausgang, die Kirche meiner Eltern, blieb uns verschlossen. Seit die letzten deutschen Bewohner das Dorf verlassen hatten, war sie funktionslos, entsprechend trostlos ihr Anblick. Der Eindruck verstärkt sich durch den völlig verwahrlosten Friedhof. Irla hatte von Bemühungen erzählt, für den Erhalt der Kirche unter ehemaligen Einwohnern zu sammeln. Wenngleich man die Initiative von Heinz von Mrozeck achten muss, mir stellt sich die Frage: Wozu? Gewiss, als Kirche ein Denkmal, aber für wen und wofür? Keiner braucht sie heute und die, die sie einst brauchten, werden immer weniger. Von Mroczek indes ist unermüdlich, scheint geradezu besessen von seiner Rettungsaufgabe, selbst weit über die achtzig bat er noch zum Jahreswechsel 2008/2009 meine Schwester um einen Obolus für anstehende Dachreparaturen.

      Wir stehen an der Kreuzung, und ich bin mir ziemlich sicher, wir müssen nach links, geradeaus geht's nach Stüdnitz (Studnice), dort, wo der Pfaffensee beginnt. Wir werden unseren Bernsdorf-Besuch an diesem See beenden. „Den größten Findling Pod Zielonym Dworem (Zum Grünhof) müsst ihr euch unbedingt ansehen“, 2 km nördlich des Dorfes, sein Umfang beträgt nicht weniger als 15 m.

      Plötzlich taucht der Briefträger auf – ich denke, die Zeit ist stehen geblieben – stoppt sein klappriges Fahrrad und fragt in bestem Deutsch:

      Kann ich Ihnen helfen? Wohin wollen Sie?

      Zum Hof von Löschmanns,

       antworte ich so verhalten wie möglich.

      Löschmann? Davon gab es im Dorf zwei,

       schießt es aus ihm heraus, Stotter-Löschmann und Bürgermeister Löschmann.

      Pause.

      Wie heißt dein Vater?

      Max.

      Dann bist du der Martin.

      Wie kann er meinen Vornamen wissen? Meine Mutter hatte von unserem Namensvetter im Dorf berichtet, eine Verwandtschaft gäbe es jedoch nicht. Er muss meine Vorsicht, durch Unsicherheit geprägt, schnell verarbeitet haben: „Du, Martin, dein Vater war anständig, kein übler Nazi wie der Ortsgruppenleiter Wedel.“ Ein Stein fällt mir vom Herzen, wusste ich tatsächlich nicht genau, wie sich mein Vater besonders den Kaschuben gegenüber verhalten hatte. Obwohl man sich seine Eltern nicht auswählen kann und Sippenhaft nicht erwartet wird, machten mich die Worte des Briefträgers ein wenig sicherer. „Geht die Dorfstraße hinunter, auf der rechten Seite ist euer Haus. Ich schau hernach gleich mal bei Flissakowkis vorbei.“

      Ein paar Schritte nach links gewendet, konnte ich das Haus erkennen, ein Haus, wie man es überall im Norden Deutschlands kennt: Backstein, ein Giebel in der Mitte der zwei symmetrischen Haushälften, die gewissermaßen durch den Eingang mit Treppenaufgang markiert sind. Das ist es, wiewohl ich nicht begreifen wollte, wie klein, fast armselig es auf mich wirkte. Sah so das Haus eines Großbauernsohnes aus?

      Marianne, die nach meinen und meiner Mutters Beschreibungen ein stattlicheres Haus erwartet hatte, hielt sich mit jeglichem Kommentar zurück. Erst als ich meinen Blick nach links schweifen ließ, er auf den Koppelberg traf und ich spontan und vorwurfsvoll ausrief: „Den haben die Polen abgetragen“, war es mit ihrer Zurückhaltung vorbei: „Vielleicht denkst du mal daran, wie klein du damals warst und wie groß dir Haus und Hügel vorgekommen sein müssen.“ Der Koppelberg – maximal 150 m hoch – hatte sich als stattlicher Berg in meinem Kopf festgesetzt, auch deshalb, weil meine Mutter gern erzählte, wie mein älterer Bruder Dietrich, kaum hatte er seine Schier zu Weihnachten bekommen, den Koppelberg erklommen habe und ohne hinzufallen heruntergefahren sei. Kein besonderes Kunststück angesichts der bescheidenen Höhe und des sanft abfallenden Abhangs.

      Dietrich war der Stolz der Familie, sportlich, klug, erfolgreiches Notabitur, Leutnant, der eigentliche Erbe des Hofes, hätte nicht die Gesetzgebung unter Hitler den jüngsten Sohn zum Erbhofbauern bestimmt. Die älteren Brüder wurden für den Krieg gebraucht. Ich war der jüngste Sohn, dessen Geburt meine Mutter mit den im Dorf üblichen Abtreibungsmitteln gern verhindert hätte, wie sie mir erst in Zeitz gestand, und zwar an dem Tage, als ich ihr das mit sehr gut abgelegte Abitur vorlegte. Sie war froh, dass ich damals offensichtlich keinen größeren Schaden genommen hatte.

      Es scheint mir so, als ob Dietrich, der leidenschaftlich gern Forstmeister geworden wäre und sich womöglich gern im Forsthaus Grünhof niederlassen hätte, das zu Bernsdorf gehörte, mich als kleinen Bruder gar nicht richtig wahrnahm. Der Altersunterschied war einfach zu groß. Er war immer unterwegs, ging aufs Bütower Gymnasium, traf sich mit seiner Gruppe der Hitlerjugend, hatte Freundinnen. Dass es ein Glück der späten Geburt gibt, war zu jener Zeit nicht von mir zu wissen. Zu jung selbst für das Jungvolk. Mir wird man keine Mitgliedschaft in einer Nazi-Organisation nachsagen können wie den Schriftstellern Günther Grass, Siegfried Lenz, Erich Loest, Erwin Strittmatter, Martin Walser, Dieter Wellershof, dem Kabarettisten Dieter Hildebrandt. Ihnen hatte man in den neunziger Jahren, als sie schon „mit letzter Tinte“ schrieben, um mich eines Wortes von Grass zu bedienen, ihre Registrierung vorgehalten. Dass sie damals 17-, 18-, 19-jährig waren, wurde ihnen in den meisten Medien nicht nachgesehen. Was für ein Sturm aufgekratzter Entrüstung brach 2006 los, nachdem Grass im Roman Beim Häuten der Zwiebel seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS thematisiert hatte. Enthüllungen, wie die über Strittmatter, er habe im Zweiten Weltkrieg in einer zur SS gehörenden Polizeieinheit gedient und dies verschwiegen, lässt meine Biografie gar nicht zu. Geburtsjahr und Studium zur rechten Zeit machten mich in der DDR zum sog. weißen Jahrgang.

      Mutter konnte stundenlang über ihren ältesten Sohn erzählen. Als die Ratten im Kuhstall, gegenüber dem Wohnhaus, überhandnahmen, hat er sich an mehreren Abenden in den Stall gesetzt, gewartet, bis sie in Rudeln vom Dachboden herunterkamen, um die Reste aus den Trögen zu fressen. Licht an und mit dem Luftgewehr losgeballert. Die nächtliche Beute wurde vor dem Stall aufgereiht und zur Bewunderung freigegeben: Hausratten, 16 bis 24 cm lang. Im Gegensatz zu den Wanderratten – liest man heute – nähme die Zahl der Hausratten ständig ab. Mein Rattenbild jedenfalls ist in der Kindheit geprägt worden: Ungeziefer, das man bekämpfen muss.

      Wenn das Thema interkulturelle Kommunikation ansteht, fällt mir immer das indische Dorf Deshnok ein, in dem der Ratte ein Tempel gewidmet ist. Es wimmelt in allen Gängen, auf allen Stufen von den Nagern. Pilger reisen von weit her und bringen den Tieren Nahrung im Glauben, dass sie Glück brächten, vorausgesetzt, sie huschen einem über die nackten Füße. Und in China war 2008 das Jahr der Ratte. Ich kann dieses andere Kulturverständnis rational begreifen, meine Einstellung ändert sich deshalb nicht.

      An Dietrichs Heimaturlaube erinnere ich mich. Aufregendes Ereignis in der Familie jedes Mal. Einmal berichtete er über den Einsatz an der Ostfront, über die erbitterten Kämpfe, den nicht erwarteten Widerstand der Russen und über den Partisanenkrieg. In einem solchen Krieg kämen selbst sie nicht ohne Grausamkeiten aus: Ein altes Mütterchen habe man in der Nähe von Kiew erschossen, einzig und allein, weil sie am Straßenrand an einem Feuer gesessen und damit angeblich den Partisanen Zeichen, Rauchzeichen gegeben habe. Der vage Verdacht genügte, um sie zu erschießen. Immer wenn ich in der Sowjetunion, später in Russland war – und das war nicht selten – und Babuschkas am Straßenrand hocken sah, wo sie irgendetwas, ein paar Äpfel oder Zwiebeln verkauften, musste ich an das Mütterchen von Kiew denken. Obwohl man genügend über die Gräueltaten der deutschen Soldateska erfahren hat, die von Dietrich geschilderte hat sich tief in mein Kinderherz eingegraben.

      Er hatte unbedingt zu den Fliegern gewollt, doch eine kaum merkliche Kurzsichtigkeit des linken Auges verhinderte seinen Eintritt in die gefragte Waffengattung. Vetter Hans Gutzmer dagegen bestand das Aufnahmeverfahren und lief dem Infanteristen im Dorf den Rang ab – Fliegen und Siegen. Als er im Februar 1944, gut ein Jahr vor Kriegsende, als Staffelkapitän des Kampfgeschwaders 51 mit dem Ritterkreuz


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