Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen. Martin Löschmann
auf herannahende Elfen gerichtet, deren nackte Körper leicht verhüllt.
Ich fragte, ob wir uns auf dem Hof und im Garten umsehen dürften. Wir durften natürlich, ich hatte wohlbedacht gefragt, um klarzumachen, wir kommen nicht mit irgendwelchen Ansprüchen. Wir nahmen den Weg an der Pumpe vorbei, die tatsächlich funktionierte, der Schwengel musste einfach bewegt werden, ließen rechts den kleinen Obstgarten liegen, der zum Altenteil gehörte und aus dem wir der Oma gern mal die gut schmeckenden Gravensteiner gestohlen hatten, und standen vor dem eigentlichen Hof.
Können Sie erklären, warum der Protagonist dieses Buches am Samstag, dem 17. Januar 2009 gegen 14 Uhr bei REWE in der Kulturbrauerei (Prenzelberg) Gravensteiner Apfel-Gelee/Aus reinem Gravensteiner Apfelsaft kaufte?
Auf dem Hof prangte die große Dunggrube nebst Jauchengrube. Die war nun wirklich riesig, sie wirkte überdimensional, ein kleiner zerzauster Haufen Mist darin. Flissakowskis besaßen lediglich einen Teil des Bodens, waren Kleinbauern geworden, wie man sie aus Polen kennt: drei, vier Kühe, ein Pferd, ein paar Schafe. Wo sollte der Mist herkommen? Bei sechs Pferden, fast zwanzig Kühen und mehreren Kälbern, Färsen, einem Bulle war das etwas anderes gewesen.
Der Bulle war im Kuhstall von den Kühen getrennt. Er hatte seinen Platz am Übergang zu dem Teil, wo die Kühe standen. Es konnte passieren, dass er mit den Hinterbeinen auf diesem Gang stand. Eines Sonntags, ich war für den Kirchgang in einen adretten Matrosenanzug gesteckt worden, marschierte ich, als die Aufbruchsstimmung auf ihrem Höhepunkt angelangt war und sich keiner um mich kümmerte, in den Stall und forderte den Bullen mit der mir zur Verfügung stehenden Stimmgewalt auf, den Übergang freizugeben: Bulle rum! Dieser hebt stattdessen das rechte Bein, das in der eigenen Scheiße gestanden hatte, und schüttelte den Brei – das Bein leicht nach hinten gestreckt, wo ich auf die Befolgung meines Kommandos erwartungsfroh wartete – voll in mein Gesicht und auf den neuen Anzug. Ach, wie habe ich geschrien. Ganz offensichtlich hatte ich einen falschen Standort für mein Kommando gewählt. Gott sei Dank, Irla war zur Stelle, beruhigte meine Eltern, nahm mich ans Händchen, tröstete mich, „ein Junge weint doch nicht“, befreite mich von dem Übel und fand eine Ersatzkleidung.
Die älteste Schwester musste sich um uns kümmern, und sie tat es mit allem Nachdruck liebevoll. Dass wir Hochdeutsch sprachen, war gesetzt und wurde mit aller elterlichen Strenge durchgesetzt, unterstützt von unserer stellvertretenden Mutter. Ich war der Junge mit den x-Beinen und musste noch vor der Schulzeit über einen längeren Zeitraum hinweg täglich eine bestimmte Zeit im Schneidersitz verbringen. Ein fachmännisch zu belegender Rat steckte wohl nicht dahinter, aber meinen Beinen ist die vom Schwesterchen beaufsichtigte Übung gut bekommen.
Meine Güte war die Scheune verfallen. Man sah ihr gleich an, dass sie nicht mehr im vollen Umfange gebraucht wurde. Von Quantität und Qualität der eingefahrenen Ernte hing viel ab. Im späten Herbst und im Winter wurde gedroschen: Roggen, kaum Weizen, Hafer, Gerste. Mein Vater legte die Garben oben auf der Dreschmaschine selbst ein. Wir Kinder mussten die Garben, die aus dem jeweiligen Scheunenfach auf die dafür vorgesehene Fläche der Maschine geworfen wurden, zunächst einzeln auf den Garbentisch legen und aufschneiden, bevor der Einleger sie behutsam herunternahm. Oh, diese Tätigkeit war gefürchtet. Exaktheit, Koordination, Augenmaß waren verlangt. Die Ähren immer rechts von einem auf den Tisch, niemals zwei Garben, im richtigen Moment aufschneiden, auf keinen Fall mit der Garbe dem Vater vor dem Gesicht herumfuchteln, geschweige denn ihn treffen. Da konnte er saugrob werden. Einmal habe ich meinem Vater die grantigen Ähren ins Gesicht gewischt. Obschon ich mich für meine Unachtsamkeit sofort entschuldigte, musste ich auf der Stelle die Dreschmaschine verlassen. Gisela hat mich an diesem Tag ersetzt. Ich war geächtet, ein Kind, ein Junge gar, der nicht einmal das richtig konnte.
Die Scheune war von Hause aus ein Abenteuerspielplatz der besonderen Güte. Von den Versteckmöglichkeiten können Stadtkinder bestenfalls träumen. Damit das Versteckspiel nicht missriet, wurde der Raum begrenzt. Solange das Korn nicht gedroschen war, durften wir ohnehin nicht überall in der Scheune herumtoben. Ängstlichkeit war verpönt, die besten Chancen hatten die guten Kletterer. Meine zwei Jahre ältere Schwester war unerreicht. Doch einmal hat es sie voll erwischt, mit vorgebeugtem Kopf war sie gegen eine Wagendeichsel gerannt, die auf der Tenne stand, die Platzwunde musste genäht werden. Ein anderes Mal war Harald, Sohn des Stellmachers und Ortsgruppenleiters, an einem Balken tief ins gedroschene Stroh gerutscht, sodass er sich nicht ohne des Polen Adam Hilfe heraushieven konnte. In der Scheune fanden übrigens die Doktorspiele statt, bei denen die Älteren, Harald und Gisela, die Hauptakteure waren, er der Doktor, sie die Patientin, die sich auf den mit Stroh bedeckten Boden legte, nachdem sie sich ausgezogen hatte. Sie wurde gründlich untersucht. Wir Kleinen waren aufgeregt staunende Zuschauer. Doktorspiele finden, wird behauptet, zwischen 3 und 6 Jahren statt. Wieso war ich da passiver Zuschauer?
An der Stirnseite der Scheune vorbei gelangt man zum Obst- und zum Gemüsegarten, am Ende befand sich ein Teich, in dem sich Enten und Gänse tummelten. Eigentlich schon zu unserer Zeit verschmutzt und unappetitlich, jetzt war er vollends versumpft. Die paar Entchen und Gänschen konnten uns den Blick nicht verstellen.
Heio Popeio, was raschelt im Stroh?/Das Gänschen läuft barfuß und hat keine Schuh/Der Schuster hat Leder, keine Leisten dazu/ drum kann er auch machen dem Gänschen keine Schuh.
Der Obstgarten mit seinen riesigen Apfel- und Birnenbäumen wird zum Gemüsegarten hin von Pflaumenbäumen abgeschlossen: die deutsche Hauspflaume, würzig und knackig. Bis es nicht mehr ging, habe ich die reifen Pflaumen in mich hineingestopft und frischer Pflaumenkuchen war ein unbeschreiblicher Genuss. Nirgendwo auf der Welt habe ich unsere Pflaumen wiedergefunden. Diese großen Pflaumen aus Kalifornien, mit Chemie durchtränkt, sind mir ein Gräuel. Erst als ich 2001 zu einem vom DAAD geförderten Seminar für kasachische Universitätslektorinnen und -lektoren in Astana war, habe ich sie wiedergefunden. Das Klima ist ähnlich, kontinental, mit harten Wintern. Während meines vierzehntägigen Aufenthalts verdrückte ich Tag für Tag ein Pfund, manchmal gleich ein ganzes Kilo. Falls mich meine Geschmacksnerven und mein Erinnerungsvermögen nicht täuschten, schmeckten sie jedenfalls wie die von Zuhause. Hätte meine Mutter zu der Zeit noch gelebt, sie wäre gewiss in der Lage gewesen, die Wiederentdeckung der Pflaume meiner Kindheit zu bekräftigen. Vielleicht war ich nach den vielen Jahren reif für die Relativierung eines Verlustes.
Das ist der Daumen/der schüttelt die Pflaumen/der hebt sie auf/der trägt sie nach Haus/und der Kleine, der isst sie ganz alleine.
Wie lebte unsere Mutter auf, als wir ihr einmal aus Polen Schweinebohnen mitbrachten. Sie wurden in unserem großen Garten angebaut und gehörten zu ihren Lieblingsessen. In der DDR waren sie kaum zu finden. Wir erinnerten uns gemeinsam, wie unsere Großmutter die Bohnen, vor dem Garten sitzend, auspuhlte, wie sie in einen großen Kochtopf mit Salzwasser geschüttet, gekocht, abgegossen, in Butter geschwenkt und mit viel Petersilie auf den Tisch kamen. Mehlsuppe gab es dazu, die nach Ansicht meiner Mutter nicht besonders gut zu dem Schweinebohnen-Gericht passte, sie trank deshalb lieber Buttermilch dazu.
Sauerkirschen dagegen habe ich seit der Neuansiedlung in Mitteldeutschland nie vermisst, sie wurden durch die verschiedenen Süßkirscharten ersetzt, die hatte es in Bernsdorf nicht gegeben. Ich lernte sie zuerst in Zeitz beim Öbster Urban kennen, bei dem wir nach der Umsiedlung einquartiert worden waren und dem ich als Schüler beim Pflücken von roten, schwarzen und gelben Knorpel- und Herzkirschen half.
Am Garten entlang führte ein Weg durch die Felder, in Umrissen zu erkennen, ein kaum merklicher Anstieg und man hat einen Blick bis zum Wald, Eichen und Buchen – Buchen sollst du suchen, Eichen sollst du weichen, blitzt und donnert es. Der Wald, der uns mit seinen vielen Früchten lockte, hat sich mit der Zeit dem Dorf genähert. Sein Rand hob sich sichtbar ab. Der Wald als Ort voller Geheimnisse, beängstigend und undurchdringlich. Ich habe im Studium die romantische Naturauffassung leicht nachvollziehen können, wonach der Wald für eine Natur steht, in der sich Wunderbares und Beängstigendes ereignet.
Die Annäherung an das Dorf war keine Einbildung wie beim Koppelberg, sondern wurde mehrmals im Dorf bestätigt. Reizvoll ist der Blick von hier aus insofern, als er zwei Seen einschließt. Zwar erhascht man nur ein paar blaugraue Flecken, die Wasser vermuten lassen, doch machen sie die Landschaft abwechslungsreich. Schulwissen aktiviert sich: Du hast deine