Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen. Martin Löschmann

Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen - Martin Löschmann


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Prenzlauer Berg zu ziehen?

      Auf dem Rückweg fällt mein Blick zwischen Obst- und Gemüsegarten auf den verfallenen, grün überwucherten Backofen. Wie konnte ich ihn übersehen, am Weg ins freie Feld. Eine Art Hexenhäuschen mit einem kleinen Satteldach, das den riesigen Ofen vor Wind und Wetter schützte. Mehr als 20 Brote auf einmal konnte man darin backen und diverse Kuchen auf großen Blechen.

      Alle 14 Tage war Backtag. Das Heizen mit Holz war Großmutters Aufgabe. Die Aussicht auf frisches Brot, frischen Kuchen machte den Tag zum Festtag. Für die Mutter war es eine Plackerei: Der Teig musste in einem Holztrog fast eine Stunde lang geknetet, der Ofen auf Backhitze gebracht werden. War das Feuer erloschen, wurden Asche und verkohlte Holzreste fein säuberlich entfernt und Brote und Kuchen hineingeschoben. Ein Schieber stand nach wie vor in einer Ecke. Im Herbst nutzte man die Restwärme zum Trocknen von Obst, Äpfeln und Birnen, Pflaumen. Wann immer gebacken wurde, wir Kinder waren dabei. Aus dem fertigen Teig etwas formen zu dürfen, machte uns glücklich, zu Künstlern, die beim Anblick des bereitgestellten Materials kaum ihren Schaffensdrang zu bändigen vermögen. Nach allem das fertige Produkt in den Händen halten und ohne Skrupel hineinbeißen. Kaum waren die Brote und Brötchen im Ofen, quälten wir die Mutter mit der Frage, wann unsere Brötchen denn endlich fertig seien. Der Backprozess musste ständig beobachtet werden. Unsere Mutter zum Backofen eilen sehen, hingen wir schon an ihrem Rockschoß. Backen in einem freistehenden Backhäuschen ließ Mutter den Wechsel der Jahreszeiten intensiv miterleben: Sommerhitze und Eiseskälte, herbstliche Stürme und Frühjahrsschauer. Und welche Freude, kam man im Sommer ins angenehm kühle und im Winter ins wohlig warme Wohnhaus zurück.

      Auf dem Rückweg kommen wir direkt an dem Örtchen vorbei, windschief nun, irgendwie verloren, zwei Türen: die linke für die Magd, den Knecht, die Saisonarbeiter. Bei 30 Grad minus konnte einem in der rechten Hälfte ebenso kalt um den nackten Po werden wie in der linken.

      Wenn der Bauer an den Waldesrand hetzt,

       war das Plumpsklo schon besetzt.

      Ich denke, 30 Meter waren vom wärmenden Haus aus zu überwinden, das im Winter an der Kellerseite zum Hof hin mit einer mannshohen und einen Meter dicken Wärmedämmung aus Mist bepackt wurde, die den Ratten behagte. Die Toilette auf halber Treppe in der Posaer Straße in Zeitz, der ersten eigenen Wohnung nach der Umsiedlung, wurde dagegen bei größter Kälte als eine wohltuende Einrichtung empfunden. Eigenartigerweise habe ich das Klo, in dem Edgar Wibeau, Held des Romans Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf, zufällig ein altes Exemplar von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther findet, immer mit dem Plumpsklo in Berndorf verbunden. Das angedachte Familien-Projekt Toiletten in aller Welt, das leider nicht das Licht der Welt erblickte, sollte mit dem Häuschen in Berndorf beginnen. Weitere Höhepunkte das Café 89 in New York, die Toiletten eine Treppe höher, die Kabinen durchsichtig, sodass man Klarsicht der draußen Stehenden befürchtet, doch kaum schließt man die Tür von innen, wird glücklicherweise die Einsicht vermilchglast. Jörg hatte das Café entdeckt, und wir wiederum führten Enkelin Hanna auf der New York-Reise, unserem Geschenk zu ihrer Jugendweihe, in diesen Toilettenwitz ein. Und der Hinweis auf der Herrentoilette im größten Supermarkt von Quingdao (Tsingtao) in China: Step Forward to Get Closer to Civilization.

      An dem Holzhäuschen vorbei verlief ein schmaler Weg zur Stellmacherei; sie gehörte uns, war jedoch verpachtet. Da entlang mussten wir zwangsläufig auf die Dorfstraße zum Bahnhof stoßen. Und etwa 200 m weiter sehe ich das Deputatshaus. Da wohnten fünf Familien, die die Miete in Form von saisonbedingter Arbeit auf unserem Hof abzahlten: Kartoffeln und Rüben pflanzen, hacken und aus der Erde holen, Getreide ernten. Weder die Stellmacherei noch das recht bescheidene Deputatshaus habe ich je als Eigentum meiner Eltern angegeben. Man hätte mich womöglich gleich zum Sohn eines Rittergutsbesitzers erhoben.

      An unserem ehemaligen Besitz wieder angekommen, bedanken wir uns artig bei Frau Flissakowski für die freundliche Aufnahme und versprechen wiederzukommen. Und wir kamen schneller als gedacht wieder. Ein Jahr darauf machten wir uns gleich mit zwei Autos auf den Weg, mit Schwester Gisela und ihrem Mann Wolfgang, also Familie Fuhrmann mit Tochter Britta, Löschmanns mit Sohn Jörg und Nabil, unserem syrischen Familienmitglied, ehemals Student am Herder-Institut, einer der besten im Jahrgang 1967/68. Sein Volkswagen war das zweite Auto. Der Reiz der Fahrt bestand für mich vor allem darin, dass ich den anderen das zeigen konnten, was sie bisher nur aus Erzählungen kannten, außer mir hatte lediglich Gisela eigene Erinnerungen daran.

      Große Ernüchterung überkam mich als Fremdenführer. Beim ersten Besuch hatte ich spontan erklärt: Der nächste Sommerurlaub wird in Ugoszcz verbracht, ich werde Janucs bei der Ernte helfen. Es muss überzeugend geklungen haben, sonst hätte Marianne nicht dermaßen vehement reagiert: „Ohne mich.“ Im Moment des Aussprechens dieser Ferienaussicht war an deren Ernsthaftigkeit nicht zu zweifeln. Heute weiß ich, der unterdrückte und fast völlig vergessene Bauernsohn in mir hatte sich in vertrauter Umgebung ein Ventil gesucht. Ganz und gar klar war mir schon damals, es führt kein Weg zurück, auch nicht nach erfrischender Abkühlung im Pfaffensee, dem Badesee im Gegensatz zum Dorfteich, auf halber Strecke nach Studnice.

      Am Pfaffensee hatten wir einst im nahe gelegenen Erbsenfeld bei schönstem Sonnenschein Aale überrascht und zwei, drei mit Knüppeln erschlagen, nachdem Harald uns versichert hatte, es seien keine Schlangen. Oder waren es tatsächlich welche? Jedenfalls zeichnet Aale ein extrem zähes Wanderverhalten aus, das sie zu Landgängen befähigt. Du suchst wohl ein Gegenstück zu Günter Grass’ verwestem Pferdekopf. Nein, ich will keine Legenden stiften. Wie bestechend die Szene in der Blechtrommel literarisch sein mag, Aale sind keine Aasfresser, sie verstecken sich bestenfalls in einem Kadaver, was früher durch das Auslegen von Tierschädeln zum Fang genutzt wurde. Ob es nun Aale waren oder nicht, Krebse gab es auf jeden Fall. Im Bach, der sich durch das Dorf schlängelte, fingen wir im Sommer Flusskrebse. Da sie dämmerungs- und nachtaktiv sind, mussten wir sie in ihren Verstecken unter Steinen und Geröll, in das Flüsschen ragenden Baumwurzeln aufstöbern, von hinten packen und in den Eimer werfen. In der Küche wurden sie in kochendes Wasser geworfen, nicht länger als fünf Minuten und die leuchtend rot erstrahlenden Krebse waren zum Essen bereit, durch geschickte Drehbewegungen die Schwänze und Scheren vom Körper gelöst, um an das zarte Fleisch heranzukommen. Bei uns zu Hause war Krebsessen nichts Besonderes, ein Angebot der heilen Natur.

      Ich bin dann doch noch einmal nach Bernsdorf gekommen, und zwar 2006 mit meiner damals 83jährigen Schwester, die sich im Juni in Bad Polzin an der Ostsee zusammen mit ihrem Mann Christian einer Kur unterzog. Wir besuchten sie dort und verwirklichten an einem recht kühlen Tag einen Plan, der mehrmals geschmiedet, bislang aus den verschiedensten Gründen nicht erfüllt worden war – zwei Jahre nach dem EU-Beitritt Polens.

      Als wir uns auf den Weg nach Bernsdorf machten, hatte sie längst erkennbar mit unserem Heimatort abgeschlossen. Sie hatte vieles von mir und anderen gehört bzw. gelesen, war zu Treffen der Pommerschen Landsmannschaft gereist, doch in die Jahre gekommen, fiel es ihr nicht schwer, sich von dem Erinnerungsband Spatzen Pellkartoffeln. Als Kind auf der Flucht aus Hinterpommern von Eckehard Oldenburg, ein Jahr jünger als ich, zu trennen. Der Autor, Sohn ihres Biologie- und Englischlehrers an der Mittelschule in Bütow, war bei seinem Onkel August von Mroczek in Bernsdorf, kurz bevor der Krieg in unser Dorf kam, und ist zusammen mit uns auf die Flucht gegangen. Im Gegensatz zu mir konnte er sich auf Aufzeichnungen seines Großvaters stützen und Flucht, Rückkehr und Vertreibung aus des Großvaters und seiner eigenen Perspektive erzählen.

      Woran Irla sich nicht alles erinnerte, während wir durch die gefällige Endmoränen-Landschaft mit den vielen kleinen und großen Seen fuhren. Welch ein Enttäuschung für sie, als wir vor dem Hof standen, die Ställe, die Scheune, der Speicher und der riesengroße Misthaufen in der Mitte verschwunden, alles plattgemacht, eine saftige Grasnarbe bedeckte den für uns historischen Grund. Das Haus angemessen rekonstruiert. Es wirkte viel einladender als unser ehemaliges Haus, der Vorgarten gleichermaßen. Wertsteigerung allemal. Andererseits hatte das alles nichts mehr mit uns zu tun. Im wahren Sinne des Wortes: Gras war darüber gewachsen. Leider waren die jungen Leute unterwegs, die sich auf unserem ehemaligen Anwesen eingerichtet hatten, wie uns ein Dorfbewohner berichtete. Ich denke, es war gut so, denn keine Frage, im Haus wurde ebenfalls vieles verändert. Von Flissakowskis war niemand mehr da,


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