Im Januar trug Natasha Rot. Manfred Eisner
für Admiral von Schneider entgehen zu dürfen. Wie alljährlich sitzt die ganze Familie der Kellers auf dem Holstenhof vor dem Fernseher, um traditionsgemäß und unter lautem und fröhlichem Gelächter das nicht fehlen dürfende „Dinner for One“ mit Freddie Frinton und May Warden zu genießen. Sogar die weiblichen Familienmitglieder unterbrechen hierfür ihre heiligen Handlungen in der Küche, wo sie mit der Vorbereitung ihres „Dinner for all“ und vor allem jener besonderen Silvestertradition des Hauses beschäftigt sind, die Oma Clarissa Keller und ihre Kinder Oliver und Lissy aus dem bolivianischen Exil mitbrachten: Anstatt der kugelrunden Rosinen-Pförtchen, die kurz nach der Stunde des Jahreswechsels hier in der holsteinischen Elbmarschenregion üblicherweise gereicht werden, serviert man die heißen, knusprigen Salteña-Mürbeteigtaschen mit der saftigen und scharfen Fleischfüllung. Die leckere Spezialität ist inzwischen auch im Freundeskreis durchaus begehrt, sodass eine gehörige Portion der Teigtaschen auch für die zahlreichen Besucher, die sich nach Mitternacht im Holstenhof zum „Grullieren“ einfinden – wie dabei das Wort „Gratulieren“ in etwa in der hiesigen plattdüütschen Mundart klingt –, her- und bereitgestellt werden muss.
Obwohl heute Samstag ist, wird Kriminalhauptkommissarin Nili Masal es gerade noch schaffen, von ihrer Dienststelle beim Landeskriminalamt in Kiel kommend in Oldenmoor einzutreffen, um mit ihrer Familie gemeinsam den Jahreswechsel zu feiern. Zu beschäftigt waren Nili und ihre Kollegen in den letzten Dezemberwochen, galt es doch, unbedingt sämtliche noch ausstehende Berichte und den nötigen Schriftverkehr ordnungsgemäß zu erledigen, bevor man sich ruhigen Gewissens für die Feiertage vom Dienst verabschieden konnte. „So ’n richtiges Arbeitgeberjahr, auch der erste Januar fällt auf einen Sonntag“, raunt sie genervt, als sie es endlich am Nachmittag geschafft hat und in ihren grünen Cross Polo steigt. Ein wenig traurig ist sie auch, sich nicht vom lieben Waldi verabschiedet zu haben, denn „ihrem“ Ersten Kriminalhauptkommissar Walter Mohr ist sie seit der Rückkehr von ihrem Coca-Abenteuer in Lateinamerika endlich nähergekommen. Der Leiter der Kieler Drogenfahndung ist schon seit einer Woche auf Dienstreise beim BKA in Wiesbaden. Sie hatten seitdem nur gelegentlich SMS-Kontakt.
Für Nili wird es zunächst eine angespannte Fahrt. Das Wetter ist ungemütlich, die starken Böen bis zur Stärke 8 peitschen ständig den Regen gegen die Windschutzscheibe und machen sich gelegentlich warnend am Lenkrad bemerkbar. Ein beruhigender Blick auf den Bordcomputer zeigt ihr eine Temperatur von 4,5 Grad Celsius an, also besteht zumindest keine Frostgefahr. Aber immer schön aufpassen, denkt sie, und genügend Abstand halten, denn das Aquaplaning-Risiko und die starken Windböen sind kein allzu bekömmliches Beruhigungsduo, vor allem auf der A 7, die zudem heute in südlicher Richtung stark frequentiert ist. Ein wenig erleichtert ist Nili erst, als sie bei Neumünster-Mitte von der A7 auf die B 430 in Richtung Itzehoe ausfährt. Es regnet und stürmt auch dann noch ziemlich heftig, als sie fast eine Stunde später ihren Wagen vor dem Hauptgebäude des Holstenhofes abstellt. Mit großem Hallo wird sie von ihrer gesamten Familie empfangen, denn sie haben sich schon seit einigen Wochen nicht mehr gesehen. Oma Clarissa, ihre Mutter Lissy, Onkel Oliver mit Frau Madde, deren Kinder mit ihren Ehepartnern sowie die Enkel – alle schließen sie lieb in die Arme. Sogar Olivers Tochter Annette ist diesmal aus Berlin gekommen, ein seltener Gast, denn Nili hat ihre Cousine mindestens seit fünf Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen.
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Ziemlich laut und auf Hochtouren ist die Stimmung bei der Silvesterfeier des NDR 2 in der bis auf das letzte Ticket ausverkauften Halle 400 direkt an der Kieler Förde. In einem der beiden großen Säle tönt in voller Lautstärke die Musik der fünfköpfigen Rock-Party-Tour-Band „The Travellers“, im anderen quiekt und lärmt die Technomusik, die DJ Dickie für seine Raver auflegt, phonstark aus den riesigen High-Power Bass-Subwoofern. Das Bum-bum-bum schallt hinaus bis auf das eingeengte Fahrwasser der Ostsee, das sich an dieser Stelle dicht bis an die Hörn in Zentrumsnähe der Landeshauptstadt hineinschlängelt. Thomas Greve hat bereits für das Eintrittsticket im Wert von vierundvierzig Euro inklusive Galabuffet ausreichend gespeist, obwohl er sich immer noch darüber wundert, wem er dieses Präsent zu verdanken hat und wie es überhaupt in einem Kuvert, auf dem nur sein Name mit dem Vermerk „Persönlich“ aufgedruckt war, auf seinen Schreibtisch in der Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungs-Kanzlei Westphal gelangen konnte. Auch sämtliche Rückfragen bei den Kollegen gaben ihm darüber keinen Aufschluss. Thomas hat auch schon einige Runden getanzt, doch dabei weder irgendein bekanntes Gesicht erspäht, dem er für die Gabe seinen Dank aussprechen konnte, noch einen für ihn interessant anmutenden weiblichen Kontakt knüpfen können. Für den außenstehenden Beobachter ist das Letztere allerdings kein Mysterium, denn der Enddreißiger ist eher eine Durchschnittserscheinung und kein Hingucker, unauffällig gekleidet, schon ein wenig dicklich und mit fortschreitender Glatze sowie einer dick umrandeten Brille auf und einem kleinen Schnauzer unter der kleinen rundlichen Nase. Allerdings trügt sein Äußeres über seine inneren Werte hinweg, denn Thomas ist ein sehr tüchtiger und gewiefter Steuerexperte, der zudem, wenn sich ihm dazu die Gelegenheit bietet, einen sehr spaßigen und gebildeten Unterhalter abgibt. Gebürtig ist der Steinburger aus der Elbmarschenkleinstadt Oldenmoor, wo sein Vater Magnus einst als Tierarzt niedergelassen und gleichzeitig der Chef des Kreisveterinäramtes war. Erwartungsgemäß sollte er eigentlich in dessen Stapfen treten und dessen gut gehende Praxis nach dem Studium übernehmen. Wider seine tiefe Abneigung gegen das Bis-zum-Ellenbogen-tief-in-den-Uterus-einer-Kuh-hineingreifen-Müssen versuchte er redlich, dem Wunsch seines Erzeugers zu entsprechen und immatrikulierte, nachdem er am Glückstädter Gymnasium erfolgreich sein Abitur absolviert hatte, an der Universität in Hannover. Wegen seiner wiederholten Übelkeitsanfälle beim Sezieren von Pferdekadavern in der Anatomie brach er das Studium inmitten des zweiten Semesters ab, vorerst allerdings ohne die Familie davon in Kenntnis zu setzen. Stillschweigend wechselte er zur Kieler Fakultät der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität und belegte die Fachrichtung BWL. Erst nachdem er das erste Semester erfolgreich absolviert hatte, legte Thomas dem maßlos enttäuschten Vater seine Testatkarte vor. Tagelang sprach dieser kein Wort mit dem Filius, nur Mutter Grete und Schwester Swantje hielten ihm die Stange. Erst als Swantje, bereits in den letzten Zügen ihres Abiturs, überraschenderweise den Vater davon überzeugen konnte, dass nun sie anstatt des Bruders gern Tiermedizin studieren wolle, wichen Zorn und Enttäuschung aus Magnus Greves Herzen und Thomas durfte in den Schoß des heiligen Familienfriedens zurückkehren. Erfolgreich beendete er sein Studium und wurde in der Kieler Steuerkanzlei des Heinz Westphal, an der er wiederholt einige Praktika absolviert hatte, mit offenen Armen aufgenommen. Mit der gleichaltrigen Tochter des Inhabers, Melanie, verband Thomas eine kollegiale Freundschaft. Gelegentlich traf er bei ihr auch deren engste Freundin, die LKA-Hauptkommissarin Nili Masal, wieder, die er seit ihrer gemeinsamen Grundschulzeit in Oldenmoor kannte. Der Anfang des Jahres stattgefundene tragische Mord an dem Sohn Ralph Westphal, der durch eine ihm arglistig verabreichten Überdosis Kokain zu Tode gekommen war, hatte die Familie und die Kanzlei der Westphals äußerst erschüttert. Von Melanie erfuhr Thomas, wie sehr Nili an der Aufklärung des Falles beteiligt gewesen war und auch, wie sie der Tochter des Oberstaatsanwalts Hinrich Harmsen, die Doktorandin Kathja, bei deren Recherchen über Ursprünge und Schmuggel des Kokains nach Europa sogar bis nach Kolumbien und Bolivien begleitet und unterstützt hatte1.
Thomas hat im Rahmen seiner Aufgaben in der Kanzlei vor Kurzem einen Teil der routinemäßigen Bearbeitung der Steuerangelegenheiten einer größeren Unternehmungsgruppe, der Jochen Tiedemann Holding, von Heinz Westphal übernommen, dem die Bearbeitung des gesamten Konzerns allmählich zu umfangreich wurde.
Die Tiedemann GmbH und Co. KG ist mit den Jahren zum wichtigsten Mandanten der Kanzlei avanciert. Aus deren Firmenkonglomerat sollte er zunächst die Bereiche Import und Export sowie Spedition übernehmen. Bei der ersten Sichtung der ihm übergebenen und sehr umfangreichen Unterlagen der vergangenen Jahre, die er sorgfältig durchforstete, schien ihm zunächst alles mit rechten Dingen vorgegangen zu sein. Allerdings fielen Thomas einige Ungereimtheiten zwischen den Zeilen auf, eigenartige Geldtransaktionen und Bewegungen ausländischer Firmen, die offensichtlich nicht zum üblichen geschäftlichen Rahmen der Holding passten und bei näherer Betrachtung nicht ohne Weiteres nachvollziehbar waren. Einige ihm sonderbar erscheinende Überweisungen mit Datum, Betrag und Adresse jener Geschäftspartner notierte er sich vorsorglich.
Als er Melanie diesbezüglich