Im Januar trug Natasha Rot. Manfred Eisner
„Stimmt doch, Annette, oder?“
„Ja, Papa, genauso ist es. Ich weiß ja, du magst diese ‚neumodschen‘ englischen Ausdrücke nicht, aber bei uns in der Agentur sind sie gang und gäbe. Also, das ist so: Wenn ein Kunde bei uns eine Anzeige für Zeitungen oder Zeitschriften bestellen will, erstellt unser Concepter, also jener Mensch, der hierfür zunächst eine Idee erfindet, einen Entwurf, das Anzeigen-Konzept. Danach schreibt ein Verfasser dazu den Text, deswegen heißt dieser auch ‚Texter‘, und ich gestalte aus dem Ganzen das Gesamtbild und die Aufmachung. Gefällt es dem Kunden, dann gibt er uns einen Auftrag und unsere Medienabteilung schaltet die Anzeige je nachdem, wann, wie oft und in welchen Zeitschriften der Kunde es in Auftrag gibt.“
„Machst du auch Werbung für das Fernsehen?“
„Werbung für das Fernsehen wird in unserer Agentur auch gemacht, sie ist sogar unser Hauptgeschäft, aber das ist die Aufgabe einer anderen Abteilung.“
„Gott sei Dank!“, bemerkt ihr Neffe Stefan spöttisch, „sonst würde ich deine gesammelten Werke jeden Abend von der Glotze wegzappen! Die Werbung ist doch meistens furchtbar doof!“
„Da kommt Nili vom Joggen zurück!“, meldet Oskar.
Nili schaut kurz in die Küche herein. „Prost Neujahr, ihr Lieben! Ich geh nur kurz unter die Dusche, dann kommen wir runter, okay?“ Und schon ist sie wieder verschwunden.
Bald darauf erscheinen Annette und Kitt, dann auch Waldi und Nili. Während der ausgedehnten Mahlzeit ist es nun an Kitt und Nili, den neugierigen Familienmitgliedern von ihrer abenteuerlichen Reise in die größten europäischen Hafenstädte und nach Lateinamerika etwas ausführlicher zu erzählen, denn es ist hierfür die erste passende Gelegenheit seit ihrer Rückkehr. Alle folgen gebannt den Schilderungen ihrer Gefangenschaft als Geiseln der FARC in Kolumbien, des Besuches der geheimnisumwobenen Inca-Stadt Machu Picchu und der Titicaca-Überfahrt von Perú nach Bolivien. Die aufregenden Ereignisse aus den Yungas und dem Chapare hatten sie allerdings bereits vom bolivianischen Major Gustavo Bustamante persönlich erfahren, der nach seiner Operation und Reha hier noch eine Woche auf dem Holstenhof verbrachte. Oma Clarissa bemerkt abschließend: „Mein Patenonkel – Johann von Steinberg, Gott habe ihn selig – hätte heute dazu nur pausenlos ‚Ach mein lieber Gott!‘ gesagt“, was von Oliver, Madde und Hans-Peter mit einem lauten Lachen quittiert wird. Die Jüngeren haben den besagten Onkel Johann nicht mehr persönlich erlebt, wohl aber von seinem ständig wiederkehrenden Ausruf gehört.
Am frühen Nachmittag verabschiedet sich Kitt von Nili und ihrer Familie und fährt allein nach Kiel zurück. Sie feilt gerade fleißig an der letzten Fassung ihrer Thesis, die sie nun endlich ihrem Doktorvater Doktor Traube vorlegen will.
Es hat aufgehört zu regnen und eine blasse Sonne versucht verschämt, durch die graue Wolkendecke zu scheinen, die der Wind vor sich hertreibt. Waldi und Nili nutzen die Gelegenheit und gehen ein wenig an der würzigen Luft spazieren. „Es war eine wunderbare Überraschung, dass du und Kitt hier aufgetaucht seid.“
„Wir hatten uns per Handy verständigt. Sie holte mich in Kiel am Hauptbahnhof ab. Schön, dass es uns gelungen ist!“
„Ich war schon so traurig, dass ich dich an Silvester nicht sehen würde, Waldi. Wie ist es dir denn in Wiesbaden ergangen?“
Waldi berichtet ausführlich, denn er war vom BKA-Leiter persönlich aufgefordert worden, über Nilis und Kitts wichtigste Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zum Kokainschmuggel zu referieren. „Eigentlich wäre es besser gewesen, du hättest es an meiner Stelle vorgetragen, Nili. Immerhin war es doch Kitts und deine Reise.“
„Ach was, macht doch nichts, Waldi. Als Leiter der Drogenfahndung in Kiel und Koordinator der gesamten Aktion bist letztendlich du deren Spiritus Rector gewesen und bestens in alle Details eingeweiht. Außerdem war ich ganz froh, wieder an meinem Arbeitsplatz zu sein und endlich meine Abrechnung und alle Berichte auf die Reihe zu bekommen.“
„Immerhin haben eure Fotos und Videos beim BKA einen verdammt guten Eindruck gemacht. Die waren ganz verdattert, was den Übeltätern so alles einfällt.“
Nach dem gemeinsam mit der Kellerfamilie eingenommenem Abendbrot fahren Waldi und Nili in ihrem Cross Polo zurück nach Kiel.
*
Die Twens Thorsten Reuter und Fabian Strunck streunen gemächlich mit ihren Freundinnen Sabine Claasen und Doris Lange entlang der Uferpromenade an der Kieler Förde. Jetzt, gegen halb neun Uhr in der Früh, beginnt der erste Tag des Jahres endlich damit, allmählich aufzuklaren. Sie haben in der Halle 400 bis vor etwa einer Stunde ordentlich gefeiert, getanzt und wohl auch etwas zu viel getrunken, was ihr lautes Gekicher und ein gelegentliches leichtes Torkeln verrät.
„Ich krieg furchtbare Kopfschmerzen“, klagt Sabine.
„Komm, trink das!“ Fabian gießt etwas Sodawasser aus einer Plastikflasche in einen Becher, in dem jetzt zwei Alka-Seltzer-Tabletten sprudeln, und hält ihr diesen hin. Er hat sie aus seinem Parka hervorgezaubert. „Der kluge Mann baut vor!“, tönt er stolz.
Plötzlich ertönt Doris’ schriller Schrei. „Igitt, seht mal dort unten, im Wasser!“
Fabian schaut in die Richtung, in die Doris zeigt, und muss sich auf der Stelle übergeben. Auch Thorsten sieht hin, packt sofort die beiden Mädels an ihren Schultern und wendet sie von dem Horrorszenario ab. Dann greift er zum Handy und wählt mit zitternder Hand die 110.
Wenige Minuten später trifft eine Funkstreife am Düsternbrooker Weg ein. Die Beamten erfassen kurz die Lage und fordern einen Krankenwagen an, denn Doris hat offensichtlich einen bösen Schock davongetragen.
„Hier Polizeimeister Jochimsen. Melde: Fundort im Wasser der Förde am Düsternbrooker Weg; eine wahrscheinlich männliche Leiche, allerdings fehlen Kopf und Hände. Bitte Kripo, Rechtsmedizin und Spusi benachrichtigen. Ende.“
Zwischenzeitlich hat sein Streifenkollege Axel Waldmann die vier Jugendlichen eher sanft vom Fundort weggeführt und nun sichern die beiden Beamten die makabre Fundstelle weiträumig mit dem Polizei-Absperrband, das sie rundherum an Laternenpfählen befestigen.
„Das Jahr beginnt ja wirklich lustig!“, stöhnt Uwe Jochimsen und macht sich daran, Personalausweise, Namen und Adressen der tief geschockt dreinschauenden Finder zu notieren.
Ein Ambulanzwagen trifft ein, man setzt Doris eine Infusion, die drei anderen werden mit Decken versorgt, denn es ist ein kalter Wind aufgekommen und es fängt wieder an zu regnen. Der Sanitäter fragt, ob es in Ordnung sei, die vier ins städtische Krankenhaus zu bringen. PM Jochimsen nickt, er hat ja deren Anschriften notiert.
„Was haben wir?“ Kriminalrat Harald Sierck, Leiter der Kieler Bezirkskriminalinspektion in der Blumenstraße, befragt ungeduldig seine Mitarbeiter, Oberkommissar Sascha Breiholz und Oberkommissarin Steffi Hink, die zum Fundort der Leiche gerufen worden waren.
„Nun ja, bisher nicht sehr viel“, berichtet Sascha. „Vier junge Leute, die bis zum Ende der Silvesterveranstaltung in der Halle 400 gefeiert hatten, spazierten danach entlang der Förde und fanden die Leiche – einen Mann, schätzungsweise um die vierzig, dem man Kopf und Hände abgetrennt hat. Weder Papiere noch Geldbörse oder irgendwelche Hinweise auf die Identität. Nur ein kleines Detail fand die Spusi bei der Untersuchung seines Sakkos, das der oder die Täter übersehen haben: den Ticketabriss der Silvesterfeier in der Halle 400, der sich in der Zigarettentasche des Opfers befand. Er muss also auch dort gewesen sein.“
„Hm, nicht berauschend. Was meint unser Leichenfledderer?“
„Professor Klamm war wohl wegen der ihm äußerst ungelegenen Störung ziemlich sauer und wie immer sehr kurzsilbig“, erzählt Steffi. „Der Tod sei schätzungsweise – natürlich vorbehaltlich der rechtsmedizinischen Untersuchung – zwischen dreiundzwanzig Uhr und Mitternacht eingetreten. Dann schätzte er nur noch das Alter des Toten.“
„Alles Weitere nach der Obduktion“, singen darauf alle drei unisono.
„Also, Leute, an die Arbeit! Zeugen befragen entlang der Uferpromenade