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überlassen. Wie so oft, wenn Mutters Migräne ausbrach. Und die Migräne kam ohne Vorwarnung. Lena fühlte sich dann jedes Mal irgendwie schuldig. Als ob sie etwas tun müsste, um ihre Mutter zu befreien. Lena, die Retterin. Früher, wenn ihre Mutter manchmal mit geschlossenen Augen leise wimmernd dalag, ließ Lena ihre Handflächen über das Gesicht der Mutter kreisen. Um die bösen Geister zu beschwichtigen. Bis ihre Mutter es bemerkte und sie wegjagte. Nein, nicht ihre Mutter brüllte sie an, sondern die bösen Geister. Damals.
Und heute? Lena glaubt an keine Geister mehr. Trotzdem. Das, was sie heute vorhat, ist sicher nur gerecht. Es ist das Mindeste, was sie tun kann. Was sie für ihre Mutter tun kann. Lena ist es ihr schuldig. Schuldig. „Schuld–ich.“ Und er? Er kann ihr gestohlen bleiben. Sie hasst ihn! Von ganzem Herzen hasst sie ihn! Eigentlich hatte sie ihn aus ihrer Erinnerung ausgelöscht. Er existierte nicht mehr für sie. Auch seinen Namen entfernte sie. Sie warf ihn weg. Zuerst schrieb sie ihn mit dicken schwarzen Buchstaben auf ein großes Blatt Papier. Dann zerfetzte sie es in kleine Schnipsel und ließ sie in den Papierkorb segeln. Ein Schnipsel nach dem andern. Weg.
Doch nun musste Lena ihn wieder hoch holen. Sie musste ihn aus dem Gedächtnis hervorkramen. Eigentlich war es ganz leicht. Sein Bild war sofort da. Er – wie er redete. Wie er Lena in den Arm nahm, wenn sie traurig war. Wie er nachts nebenan wie ein Walross schnarchte und morgens den Espresso überkochen ließ. Und wie er früher Geschichten von stotternden Luftschaukeln und tanzenden Regenschirmen erfand und an ihrem Krankenbett wachte. Manchmal stundenlang. – Schwachsinn. Lena wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Eine Träne der Wut. Der Verachtung. Was sonst?
„Na, nicht so traurig, kleines Fräulein. Wohin willst du denn?“ Plötzlich stand ein dicker Herr vor ihr. Ein Beamter in glattgebügelter Uniform. Er lächelte sie mit schiefem Mund an. Seine Schnurrbarthälften verdrehten sich dabei wie zwei Windmühlenflügel und eines seiner Augen bekam einen Eskimoblick. Lena musste lachen. – „Jetzt lachst du wenigstens. Na, hoffentlich lachst du mich an und nicht etwa aus. Wo sind eigentlich deine Eltern? Sie haben dich doch wohl nicht allein hierher geschickt?“ – „Mutter muss auf meine kleine Schwester aufpassen und Vater ist auf einer Dienstreise“, log Lena. „Cool bleiben“, dachte sie. „Bloß cool bleiben.“ Doch ihr wurde heiß im Gesicht. – „Aber, wer wird denn gleich…?“ – Zum Glück öffnete jemand abrupt eine Tür und rief den Beamten in sein Zimmer. Lena stand wieder allein auf dem Korridor.
Schließlich marschierte sie los. Sie ging von Tür zu Tür. Immer zick zack. Über den Gang und zur nächsten Tür. Die Schilder mit den Aufschriften las sie zweimal durch. Wer konnte schon wissen? – Am Ende übersah sie doch den entscheidenden Namen. So musste sie ihre Odyssee über den Korridor des Polizeiamtes noch einmal von vorn beginnen. – „Umbrecht“. Lena war mit Hauptkommissarin Umbrecht verabredet. Der Name hämmerte gegen ihre Schädelwand: „Umbrecht“, tak-tak-tak, „Umbrecht“. – Wie Unrecht… Endlich! Sie stand vor der gesuchten Tür und klopfte sofort an.
Ohne das „Herein“ abzuwarten, öffnete Lena die Tür. Dann stand sie vor einer jungen Kommissarin mit dick aufgetragenem Wangenrouge. Das dunkelrote, lange Haar floss bis in die riesigen Augen der Beamtin. Grüne Glotzaugen. Auch das noch! Die Kommissarin konnte wahrscheinlich in Lena hineinsehen. Und ihr würde sicher keine falsche Bewegung entgehen. – Ach, was. Lena hatte sich schließlich im Griff. Sie setzte sich aber doch, als ihr die Kommissarin einen Platz anbot. Der Stuhl fühlte sich kalt an. Ganz im Gegensatz zu Lenas Kopf. Lena rückte bis auf die linke vordere Spitze ihres Sitzes. Nur nicht umkippen! Nur nicht umkippen! „Ich bin Lena“, sagte sie leise. „Meine Mutter hat vor einer Woche angerufen.“
„Ich weiß.“ Die Beamtin schaute Lena mit ihren Froschaugen an. Dann ließ sie den Blick an Lena entlang gleiten. Einmal nach unten und danach wieder aufwärts. „Was glotzt sie mich so an?“, dachte Lena. „Gleich geh‘ ich.“ – „Du möchtest also Anzeige erstatten. So. so. Ich weise dich aber jetzt noch mal drauf hin: Unser Gespräch wird auf Tonträger aufgezeichnet. Das hat der Kommissar deiner Mutter ja schon mitgeteilt. Dann bist du also damit einverstanden?“ Lena quetschte ein „Ja“ zwischen den Zähnen hervor. – „Na gut. Deine Mutter hat uns ja bereits informiert. … Die Person, gegen die du etwas vorzubringen hast, ist eine Verwandte. Nicht wahr?“ – „Ein Verwandter“, korrigierte Lena. – „Nun ja. Jedenfalls hättest du das Recht der Zeugnisverweigerung. Willst du trotzdem aussagen?“
Jetzt war der Moment da. Jetzt könnte sie nach einem „Nein“ aufstehen und den Raum verlassen. Und nie, nie wiederkommen. Jetzt hatte sie die letzte Chance. Sie würde gehen und das Ganze auf sich beruhen lassen. Sollte ihre Mutter doch nerven. Sollte sie Lena Vorwürfe machen: „Du hast versagt. … Wie so oft. Ich kann mich einfach nicht auf dich verlassen.“ „Ver-sagt, verlassen, Un-recht“, dröhnte es in Lenas Kopf. – „Hat‘s dir die Sprache verschlagen? … Hm… Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser oder einen Tee?“ Die Beamtin blickte etwas freundlicher. Sie holte eine Flasche Mineralwasser und ein Glas aus ihrem Schreibtisch hervor. Dann schenkte sie ein und stellte das Glas vor Lena ab. Lena vergaß, sich zu bedanken. Sie nahm einen tiefen Schluck Wasser und hielt eine ganze Weile lang die Luft an. Schließlich spie sie mit einem Atemzug die Worte hervor: „Ich will aussagen.“
2
Er begegnete ihr. Robert begegnete Katharina. In dem Moment, zu dem Zeitpunkt, als er niemanden kennen lernen wollte. Ein Zufall? Später, als er sich erinnerte, glaubte er nicht mehr daran. Diese Begegnung war vorherbestimmt.
So stand er an jenem späten Vormittag auf dem Bahnsteig in L. Hier hatte er vorerst abgeschlossen. Seine Gastprofessur an der hiesigen Hochschule für Musik war beendet. Vorläufig. Denn Robert wollte wiederkommen. Um die Verlängerung seines Vertrags hatte er bereits gebeten. Nur ein paar Details waren noch zu klären. Doch darum würde er sich später kümmern. Nach dieser Reise. Nach seiner Rückkehr. Roberts kurzer Rückkehr in sein altes Leben. Er hatte sie lange hinausgezögert. Auch noch am Tag zuvor. Die Einladung einiger Musikerfreunde nach seinem Konzert kam ihm da gerade gelegen. Sie feierten bis weit nach Mitternacht. Frühmorgens war er dann zu Fuß in seine Pension gelaufen. Das Packen seiner Reisetasche musste Stunden gedauert haben. Jetzt stand die Tasche neben ihm auf dem Bahnsteig. Obenauf lag der Koffer mit seinem Saxophon. Robert trug alle Dinge bei sich, die er in den nächsten beiden Wochen brauchen würde.
Hier hatte er schon mehrmals gestanden. Hier, auf dem Bahnsteig in L. Genau an dieser Stelle. Am Scheitelpunkt zwischen seinen Welten. An diesem Punkt war er gleichzeitig hier und dort. Dort – in seiner Vergangenheit, in die ihn diese Reise noch einmal führte. Hier – in seiner Zukunft. In seinem neuen Leben, in dem er längst noch nicht angekommen war.
Doch würde er jemals ankommen? Würde er dort wirklich abschließen können? – Fragen. Sie drängten sich auf. Sie schoben sich in Roberts Gedankenwelt. Tag für Tag. Und sie durchbrachen die unruhige Stille der Nacht. Dann fühlst du diesen Stich in der Brust. Als ob es dein Herz durchzuckt. Es spaltet. Er, Robert F., lebte mit einem gespaltenen Herzen. Eine Hälfte schlug in seiner Vergangenheit. Eine Hälfte schlug hier, in seiner Zukunft. Obwohl es einem mitunter so vorkommt, als schlüge das Herz überhaupt nicht mehr. Dann ist da dieses taube Gefühl, dann spürst du gar nichts. Doch wenn er spielte, wenn er seinen Atem hemmungslos in das Saxophon blies, fühlte er sich ganz. Er war eins mit der Musik, eins mit sich selbst. Meistens stellte sich dann dieser Groove in ihm ein. Als taumelten die Sinne vor Glück. Und so pendelte Robert im Auf und Ab seiner Seelenzustände.
„Ich war gestern in Ihrem Abschlusskonzert. Es war großartig! Ich…. bin noch ganz erfüllt von der Musik. Ihrer Musik. Danke.“ – Sie stand plötzlich vor ihm. Hochgewachsen. Hell leuchtende Haare. Mit Augen, die du siehst und nicht vergisst. Augen, die in das Leben eintauchen. In denen sich das Leben widerspiegelt. „Ich bin Katharina“, stellte sie sich vor. Ihr Lächeln war ansteckend. – „Robert. Ja, schön, dass es Ihnen gefallen hat…. Hab ich Sie nicht gesehen? – Ne, wahrscheinlich nicht…. Ich schließe auch meistens die Augen, wenn ich spiele.“
„Sie sahen aus … So … Ich weiß nicht. Na, jedenfalls nicht von dieser Welt.“
„Kennen Sie das? Das ist wie ein