Wenn wir die Masken fallen lassen. Ulrike Quast

Wenn wir die Masken fallen lassen - Ulrike Quast


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Restaurant war es still geworden. Die alte Dame hatte gezahlt und war gegangen. Den Presslufthammer hörte Robert schon eine ganze Weile nicht mehr. – Er schaut aus dem Fenster. Draußen strömt der Fluss dahin. Nebelschwaden verdecken die Sicht. Am gegenüberliegenden Ufer ist der Dom in graue Schleier gehüllt. Sie geben ihm etwas Rätselhaftes. Etwas beinahe Ätherisches. Im Griechischen bedeutet Äther „Weite des Himmels“. Robert taucht seinen Blick in den Nebel. Er taucht ihn in das scheinbar Unsichtbare, die verborgene Weite. In das Unbekannte, das doch erkennbar ist. Für den, der durch schaut, der durchschaut.

      Robert lächelte vor sich hin. Er kippte seinen Anisschnaps in den Kaffee. Dann prostete er Kostas von weitem mit der Kaffeetasse zu: „Jia mas.“ – Er würde wiederkommen. Eines Tages. Dann wird er in seinem neuen Leben längst angekommen sein. Ganz bestimmt. Als Robert ging, umarmte er Kostas: „Mach`s gut. Heute ist mein letzter Tag hier. Ich geh‘ weg. Für immer. … Sag María schöne Grüße.“

      5

      Katharina hatte ihr schönstes Kleid angezogen. Dazu trug sie rote Schuhe. Sie waren ein Geschenk. Ein Geschenk eines verflossenen Verehrers. Er hatte Katharina dann nie in den Schuhen gesehen. „Schenke keine Schuhe, sonst läuft der Träger eines Tages in ihnen davon“, sagte Katharinas Großmutter einmal vor Jahren. Mit einem Augenzwinkern. Doch Katharinas Glaube blieb unerschütterlich. Sie glaubte auch an eine Wiederbegegnung mit Robert. Schon damals, als er sie kurz vor der Ankunft in K. nach ihrer Telefonnummer fragte. Seitdem waren ein paar Wochen vergangen. Wochen einer zögerlichen Annäherung. Allzu zögerlich. Katharina war sich nicht sicher, aber etwas Wesentliches in Roberts Leben blieb ungesagt. Eine andere Frau? Sie musste es herausfinden. Heute Abend noch. Heute Abend nach dem Konzert.

      Es war Roberts erstes Konzert nach ihrer Begegnung auf dem Bahnsteig. Die Einladung hatte Katharina erst vorgestern erhalten. „Wirst du kommen? Ich spiele nur für dich“, stand auf einem Zettelchen, das in der gefalteten Eintrittskarte lag. Auf der Karte klebte ein gelblich leuchtender Mondstein. „Mondsteine beeinflussen die weibliche Gefühlswelt und stärken hellsichtige Fähigkeiten“, erfuhr Katharina aus dem Lexikon. Robert hielt also auch am Klischee fest.

      „Er befürchtet, ich könnte ihn durchschauen“, erklärte Katharina einmal ihrer Freundin Annette am Telefon. „Wahrscheinlich fühlt er sich nackt. Nackt und mir völlig ausgesetzt … Ohne Geheimnisse.“ – „Ist er denn wenigstens hübsch?“, fragte Annette. „Die Menschen werden ja ohnehin immer hässlicher… Ja, und außerdem: Musiker haben doch nie Geld.“ – “Na und? … Ich brauch‘ doch keine Villa.” – “Wenn du mich fragst … Ich hätte nichts dagegen.” Und so suchte Annette. Pausenlos. Ihre großen, dunklen Augen blickten ständig in die Ferne. Als winkte ihr von dort das Glück zu. Das Glück in Gestalt eines schönen Prinzen im Cabriolet.

      Aber war Katharina nicht selbst auf der Suche? Und es kam ihr so vor, als wäre sie bisher nur ein kleines Stück ihres Weges vorangekommen. Nicht, dass es sie ruhelos von Ort zu Ort trieb. Nein, es war eher ein inneres Suchen. Wonach? Das ließ sich schwer beschreiben. Etwas trieb sie um: „Ich glaube, es sind Einsichten. Lebenseinsichten, die ich aufspüren will. Nennen wir sie doch einfach Erfahrungen“, stand in Katharinas Schreibbuch. „Archetypen von Erfahrungen. Wie es sie in den Märchen und Mythen gibt.“

      Katharina schrieb hin und wieder selbst Geschichten. Auch für Robert hatte sie vor einigen Tagen ein Märchen geschrieben. Über einen armen Flötenspieler, der eine Prinzessin seine Kunst lehrt. Am Ende befreit er sie von ihrem Hochmut und ihrer Kälte. Robert gefiel das Märchen. Katharina musste es ihm zweimal vorlesen. „Ich höre dir gern zu“, sagte er. „Deine Stimme klingt wie das Rascheln eines Seidentuchs.“ Katharina versuchte danach vergeblich, sich das Geräusch eines Seidentuchs vorzustellen. „Weil du eben nicht Ohren wie eine Fledermaus hast“, erklärte Robert. „Fledermäuse haben nämlich ein ganz sensibles Gehör.“ – Ohren wie eine Fledermaus! Bei dieser Vorstellung konnte sich Katharina nicht mehr halten vor Lachen.

      So, wie in dem Moment, als sie sich daran erinnerte. Sie saß in der Aula der Musikhochschule und fing an loszuprusten. Keiner beachtete sie. Denn es war ohnehin ziemlich laut um sie herum. Alle fieberten Roberts Auftritt entgegen. Und Katharina fieberte mit. Sie saß gleich in der ersten Reihe. Ihr sollte kein Ton entgehen. Kein Ton und keine Nuance seiner Mimik. Und sie wollte Roberts Händen zuschauen. Seinen Fingern, wie sie die Klappen des Saxophons berührten. Katharina zupfte an ihrem Kleid herum. Dann blickte sie auf ihre Schuhe. Rot war Roberts Lieblingsfarbe. Einmal würde er sicher zu ihr herüber blicken. Einmal mindestens.

      Als Robert, begleitet von einer jungen Pianistin, die Bühne betrat, wurde es beinahe lautlos im Zuschauerraum. Nur ganz hinten hüstelte jemand verhalten. Dann begann jemand zu klatschen. Andere schlossen sich an, bis der ganze Saal bebte. Die beiden Musiker verbeugten sich. Erst, nachdem der erste Ton erklungen war, verebbte der Beifallssturm.

      Katharina schließt die Augen und lauscht. Hin und wieder blickt sie auf. Sie schaut zu, wie Klänge erschaffen werden. Wie vier Hände Musik erzeugen. Aus dem Impuls des Augenblicks. Musik – sie erfüllt den Raum. Auch Katharina ist erfüllt von ihr. Und sie nimmt wahr. Sie fühlt sich ein. Sie spürt, wie die Künstler harmonieren. Zwei völlig ungleiche Interpreten, die im perfekten Einklang sind. Katharina hat längst die Musik ausgeblendet. Sie stellt ihre Sinne ganz auf das Betrachten ein. Auf das Sehen und die Einsicht.

      Stunden später, als sie längst zu Hause war, schrieb sie in ihr Schreibbuch: „Musik. Zaghaft beginnt der Ton. Dann stirbt er ab. Er verendet lautlos, wie er gekommen ist. Ein zweiter erklingt – lockend, einschmeichelnd. Behutsam greift die junge Frau in die Tasten. Dann lauscht sie dem Echo, dessen Timbre sie ausgelöst hat. Das Klavier wird ihre Partnerin. Es spricht aus, was sie ihm einflüstert. Sie streichelt die Tasten. Zaghaft und verhalten. Als erahne sie nur die Dynamik, die in den Rhythmen und Tönen ruht. – Schrill setzt er ein, aufreizend. Es folgt eine Salve exzentrischer Töne. Sein Saxophon kreischt und ächzt. Es donnert und grunzt. Dann heult es auf und bricht jäh ab. So, als wäre es erschrocken, zu viel gewagt zu haben.

      Sie lauscht, bäumt sich auf. Und wieder setzt sie an. Sie lässt die Tasten reagieren. Sie lässt sie loshämmern. Abgehackte Töne, die ganz am Ende in schwebende Klänge übergehen. – Wieder hakt sein Saxophon ein. Es zwängt sich dazwischen. Fordernd und einfühlsam, aufstachelnd und zurückhaltend, drängend und beschwichtigend. Wie ein Meister der Verführungskunst.

      Die Instrumente treiben ein duales Spiel. Sie suchen ihren Ausdruck im Jetzt, das gerade war und im nächsten Moment entrückt. Klänge werden zum Gleichnis für Geist und Instinkt. Sie bahnen sich ihren Weg. Spielerisch-ringend: Harmonisch und dissonant, regelhaft und anarchisch, zukunftsweisend und dekadent. Ein musikalisches Liebesspiel. Bis es in ekstatischer Stille verklingt.“

      Katharina hatte das Konzert vorzeitig verlassen. Mitten in der Aufführung. Es lag nicht an der Musik. Denn Roberts Art zu spielen, zu improvisieren, hatte etwas beinahe Magisches. – Und doch. Es war anders. Dieses Mal war es anders. Eine neue Facette kam hinzu. Eine neue Spielart. Etwas Intimes. Zuwendung, von der sie, Katharina, ausgeschlossen war. Blicke, die nicht ihr galten. Nicht ein einziges Mal.

      „Musik ist wie eine Beziehung…. Oder wie ein Liebesakt“, hatte Robert ihr vor kurzem erklärt. „Man umgarnt sie. Man schmeichelt ihr. Bis sie sich öffnet und dir hingibt. Als Rhythmus. … Als Klang. … Oder Harmonie. Es ist, als ob man verschmilzt: Musiker und Musik.“

      Katharina war fast den ganzen Weg zu ihrer Wohnung barfuß gelaufen. Nein, nicht gelaufen, gerannt war sie. Ihre Füße brannten. Sie schmerzten bis zum Kopf. Als sie an einem Papierkorb vorbeikam, warf sie ihre Schuhe hinein. Nun war sie wieder in ihnen davongerannt. Zum letzten Mal. Als Katharina zu Hause ankam, klingelte das Telefon. Hastig lief sie ins Wohnzimmer und ergriff den Hörer. Doch der Anrufer hatte bereits aufgelegt.

      6

      Lena fror. Sie stand in der Küche und rührte. Draußen tobte der erste Sommersturm. Hin und wieder ließ er das angekippte Küchenfenster zuknallen. Dann zuckte Lena zusammen. Sie lauschte. Dorthin, woher er kommen


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