Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte. Jens Reinländer

Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte - Jens Reinländer


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Klapsmühle von meinem Onkel finden jeden Tag solche Gespräche statt. Da unterhalten sich die Verrückten ständig mit irgendwelchen unsichtbaren Typen.“

      Na toll! So weit ist es also mit mir gekommen. Ich bin verrückt. Ich bin reif für die Klapsmühle. Und wie zur Bestätigung krächzt es im nächsten Augenblick erneut in meinem Ohr: „Verflixt, ist das klebrig hier. Autsch! Jetzt bin ich ausgerutscht. Igitt, was für eine Pampe! Eine Schweinesuhle ist nichts dagegen!“

      „Oh nein, da ist die Stimme schon wieder“, stöhne ich panisch. Rudi rutscht neugierig an mich heran. „Echt? Und was sagt sie?“

      „Sie meckert über den Dreck in meinem linken Ohr.“

      „Die Stimme kommt aus deinem linken Ohr? Cool, zeig mal her“, sagt Bernd und leuchtet mit seiner Minitaschenlampe in mein Ohr.

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      Das ist sehr unangenehm, denn Bernd kriecht fast mit hinein. Er ist ein bisschen kurzsichtig und sieht nur richtig gut, wenn er mit der Nase fast drauf stößt. Deshalb sitzt er bei Frau Schrei im Musikunterricht auch immer ganz hinten. Damit er „das Elend“ vorn nicht sehen muss. Es reicht ihm vollkommen, wenn er es hört. Am liebsten wäre er in Musik auch noch taub. Aber Hören tut er ausgezeichnet. Und manchmal ist das ja auch sehr wichtig. Zum Beispiel, wenn man sich in einer Leistungskontrolle mal etwas vorsagen lassen muss. Und Bernd muss sich in Musik sehr oft sehr viel vorsagen lassen. Weil er auf musikalische Bildung keinen Wert legt. Wenn es ihn auf die Opernbühnen diese Welt ziehen würde, wäre das was anderes. Aber er will später mal Pilot oder Müllfahrer werden. Und für so was brauche er kein musikalisches Gemüt, behauptet er.

      Doch im Moment sagt er nichts. Im Moment schnauft er nur und verrenkt sich neben mir nach allen Seiten, um auch wirklich jeden Winkel meiner Ohrmuschel auszuleuchten. Von Weitem muss es aussehen, als würden wir zwei gerade eine ziemlich komplizierte Yoga-Übung aufführen. Ich halte zähneknirschend still und hoffe, dass uns jetzt niemand dabei beobachtet. Ich bin nicht scharf auf noch mehr doofe Bemerkungen.

      Schließlich lässt Bernd die Lampe wieder in seiner Hosentasche verschwinden und ächzt enttäuscht: „Da sitzt ein fetter Klumpen Ohrenschmalz. Aber sonst ist nichts zu sehen.“

      „Was hast du denn gedacht?“, knurre ich zurück. „Dass ich einen Mann im Ohr sitzen habe?“ Bernd nickt. „Wieso nicht? Bei meinem Onkel in der Klapsmühle gibt es einen, der hat sogar eine ganze Blaskapelle im Ohr. Jedes Mal wenn sie losspielt, reißt der Typ den Mund auf und die Musik kommt wie aus einem Lautsprecher hervorgescheppert. Vielleicht ist es ja bei dir ähnlich. Aber in deinem Ohr kann man ja leider nichts erkennen. Der Gehörgang ist dicht wie ‘n verkorkter Flaschenhals. Da hat die Stimme vollkommen Recht, wenn sie über den Dreck in deinem Ohr meckert. Moment mal! Woher weiß die Stimme eigentlich, dass dein Ohr zugemüllt ist? Das kann sie doch nur wissen, wenn sie Augen zum Sehen hat. Und wenn sie Augen hat, bedeutet das folglich, dass sie nicht bloß als Stimme in deinem Kopf existiert, denn eine Stimme hat keine Augen“, kombiniert Bernd.

      „Sie hat nicht nur Augen, sie hat auch Beine. Sie ist nämlich in meinem Ohr ausgerutscht“, grummle ich und schaffe es damit zum zweiten Mal an diesem Tag, dass bei jemandem der Mund herunterklappt. Diesmal ist es Rudi, der sich nicht einkriegt. Er zieht sich bis zum Ende der Bank zurück und stöhnt: „Mann, das wird mir jetzt aber langsam echt unheimlich. Hoffentlich ist das nicht ansteckend. Kann man sich gegen so was impfen lassen?“

      „Kann man nicht. Sonst wäre der Typ mit der Blaskapelle im Ohr ja nicht in der Klapsmühle gelandet“, murmelt Bernd düster und schafft es damit, mir auch noch das letzte Fünkchen Hoffnung zu nehmen, dass es vielleicht doch nicht so schlimm ist.

      Wenig später stehe ich vorm Lehrerzimmer und überlege, ob ich jetzt echt da reingehen soll.

      Unser Lehrerzimmer ist nämlich neben dem Direktorenzimmer der bedrohlichste Ort für uns Schüler. Weil dort die Lehrer meistens in geballter Ladung vorkommen. Schon einzelne Lehrer sind ja für einen Schüler nur schwer zu verkraften. Wo Lehrer aber in Massen auftreten, da wird’s erst richtig ungemütlich.

      Auch hinter dieser Tür ist das so. Da brennt dauernd die Luft. Das Telefon klingelt unablässig, irgendwer hämmert Schriftstücke in eine Computertastatur und von allen Seiten hetzen die Lehrer zum Kopierer hin oder in die entgegengesetzte Richtung davon. Jeder Schüler, der sich in dem Chaos blicken lässt, läuft echt Gefahr, totgetrampelt zu werden. Und falls man es doch irgendwie schafft, wieder lebend da rauszukommen, hat man plötzlich irgendeinen doofen Auftrag am Hals, wie Unterrichtsmaterialien austeilen oder Schülerlotsenvertretung. In unserem Lehrerzimmer herrscht ein Gewusel wie in einem Ameisenhaufen. Bloß, dass die Ameisen hier größer sind und dauernd Aufgaben verteilen.

      Ganz anderes dagegen ist es im Zimmer vom Direktor Kittel. Da ist es so still wie in einer Friedhofsgruft. Leider fühlt man sich dort auch begraben wie in einer Gruft. Deshalb heißt dieser Raum unter uns Schülern auch: die Todeszone. Wer da hinein muss, der ist mindestens ein Schwerverbrecher und eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Dort werden die „ganz schlimmen Fälle“ behandelt und verurteilt. Strafen wie Schulverweise oder Elterneinladungen sind das Mindeste. Manchmal gibt es noch drei Wochen Tafeldienst oder Papier aufsammeln auf dem Schulhof als Zugabe obendrauf. Welche Strafe man kriegt, weiß man vorher nie. Das kommt daher, weil die Strafen von Lehrern gemacht werden und die meisten Dinge die Lehrer tun, für uns Schüler völlig unlogisch sind.

      Genauso unlogisch wie jetzt die Tatsache, dass mich Fräulein Lieblich ins Lehrerzimmer bestellt hat. Obwohl sie doch wissen müsste, dass es dort für mich höchst gefährlich werden kann. Aber vielleicht habe ich ja Glück und es ist gerade niemand drin. Dann kann ich mich schnell wieder verziehen und keiner darf hinterher behaupten, ich wäre ein Feigling und hätte mich bloß vor der Gefahr gedrückt.

      Doch meine Hoffnung hält nur kurz an. Kaum habe ich an die Tür gepocht, ruft jemand von drinnen: „Herein.“ Die Stimme erkenne ich sofort. Sie gehört unserem Direktor. Ich wundere mich ein bisschen, wieso sich unser Direktor im Lehrerzimmer aufhält. Denn eigentlich gehört er ja ins Direktorenzimmer und demzufolge genauso wenig hierher wie ich. Aber wo er schon mal hier ist, will ich ihm einen hochachtungsvollen Gruß entbieten, so, wie es sich für einen braven Schüler gehört. Man weiß ja nie, ob es sich nicht hinterher mal auszahlt, wenn man einer Führungskraft höflich begegnet. Und unser Direktor Kittel ist ja sogar die oberste Führungskraft an unserer Schule.

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      Er ist der „Big Boss“ und steht über uns allen an der Spitze. Danach kommen die Lehrer. Dann Hausmeister Schlüsselbund, unser Küchenbulle Frau Aufessen und unser Putztäufelchen Fräulein Besenrein. Die stehen wiederum in der Hackordnung über den Schildkröten aus dem Schulzoo und den Schnecken und Käfern im Salatbeet vom Schulgarten. Darin sind sich alle einig. Da braucht man hier mit niemandem drüber zu diskutieren. Nur, wo wir Schüler stehen, ist noch nicht ganz klar.

      Einige von uns meckern rum, wir Schüler kommen immer ganz zum Schluss. Wir sind der letzte Arsch im Glied. Andere dagegen finden, dass das so nicht stimmt. Weil wir wichtig sind. Wenn es uns nicht gäbe, könnten sie den Laden hier nämlich dichtmachen. Ich persönlich glaube ja, ein bisschen haben alle Recht und die Wahrheit liegt wohl eher in der Mitte.

      Doch als ich nun ins Lehrerzimmer trete, zerbreche ich mir über so etwas natürlich nicht den Kopf. Ich nicke unserem Direktor freundlich zu und grüße ihn mit den Worten:

      „Wenn zur Weise sich der greise

      Weise dreht auf schräge Weise,

      weiß die weiße weise Waise,

      er hat’s wieder mit dem Steiße.“

      Direktor Kittel starrt mich an, als wäre ich irgendeine übernatürliche Erscheinung und ich merke, wie ich einen knallroten Kopf bekomme. Was war denn das jetzt? Schon wieder so ein peinlicher Aussetzer! Ich wollte doch bloß sagen: „Guten Tag, lieber Herr Direktor! Ich hoffe, ihnen geht es gut. Grüßen Sie Ihre Frau schön von mir!“ Doch stattdessen


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