Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte. Jens Reinländer

Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte - Jens Reinländer


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mich an unseren Schwur, dass wir alles teilen wollen und dass alle Preise, die ich beim Lyrischen Abend abräume, somit durch drei gehen.

      Die Heidelbeere dagegen ist stinksauer, als sie Wind von meinem kometenhaften Aufstieg bekommt. Sie hatte fest damit gerechnet, selber ins Lyrik-Kompetenzteam befördert zu werden. Schließlich ist sie Klassenbeste und Schülersprecherin dazu und eine solch löbliche Doppelbelastung könne ja wohl niemand sonst vorweisen, schimpft sie aufgebracht. Hannibal hält dagegen, dass das noch lange kein Grund sei, sich so aufzublasen. Er mache schließlich auch nicht so ein Theater, obwohl er sogar eine Dreibfachbelastung zu verkraften hätte. Einmal durch den Unterricht, dann hinterher auf dem Bolzplatz und am Abend schließlich auch noch zu Hause, wo er seinen Eltern ständig die miserablen Zensuren beibringen müsse, klärt er uns auf. Aber das lässt die Heidelbeere nicht gelten. Sie sagt, wenn er nicht so faul wäre, hätte er auch keine Unterrichtsbelastung und bessere Zensuren. Und wenn es einer verdient hätte, unsere Klasse beim Lyrischen Abend zu vertreten, dann doch wohl nur jemand mit ihren Qualitäten.

      Daraufhin geht die Heidelbeere zu den Mädchen und meckert dort weiter rum – wieso mir Fräulein Lieblich für mein Gedicht eine Eins mit Sternchen geben konnte, während sie selber nur eine einfache Eins bekommen hat. Und dann motzt sie noch: Ein solch unterirdisch schlechtes Gedicht wie meins, hätte sie das letzte Mal im Kindergarten in der Krabbelgruppe gebrabbelt. Und weiter, dass Fräulein Lieblich wohl nicht richtig hingehört habe, sonst hätte sie mein Gestotter ganz bestimmt nicht so gut benotet. Aber die Mädchen lässt das kalt. Besonders Pfannkuchen-Rosi. Die zuckt nur mit den Schultern. Wenn es nicht um Pfannkuchen geht, hat Rosi auch keine Meinung. Und Meerschweinchen-Klara hat zwar eine Meinung. Aber die behält sie lieber für sich. Weil Frauen kleine Geheimnisse haben müssen. Das macht sie attraktiver, hat sie mir etwas später anvertraut und mich dabei ganz komisch angelächelt.

      Beim Abendessen dann fällt mir das Wort attraktiv wieder ein und ich frage gleich mal nach, was es bedeutet. Mama erklärt mir, dass man es beispielsweise sagt, wenn jemand einen sehr gepflegten Eindruck macht und immer gut gekleidet ist. Dann spricht man von einer attraktiven Person.

      „So wie Frau Stöckelschuh aus dem Nachbarhaus?“, frage ich.

      „Richtig, Frau Stöckelschuh ist so eine attraktive Person“, bestätigt mir Mama und ich kapiere, dass attraktiv dasselbe ist wie aufgedonnert. Denn Papa nennt Frau Stöckelschuh immer: Aufgedonnertes Modepüppchen. Manchmal gibt es eben für ein und dieselbe Sache gleich mehrere Bezeichnungen – auch das habe ich längst kapiert. Beispielsweise nennt Mama mich immer „Edgarchen“, wenn sie mich ruft. Papa dagegen nennt mich „mein Großer“. Stella findet, „Blödmann“ passt am besten zu mir. Und Malte plärrt meistens „Ägar“, wenn er mich meint.

      Oder nehmen wir mal die Heidelbeere. Die heißt ja eigentlich Heidrun-Beatrice. Doch Direktor Kittel nennt sie mitunter auch „Vorbild“, unser Sportlehrer Triller dagegen meistens „steife Gurke“ und wir Schüler sagen „Streberin“ zu ihr oder „blöde Ziege“ oder „liebe Heidrun“, je nachdem, was wir gerade von ihr wollen. Welche Bezeichnung man wählt, hängt immer von der Wertschätzung ab, die man einer Sache oder einer Person gegenüber empfindet. Je größer die Wertschätzung, umso liebenswerter das Wort.

      Bei der Heidelbeere genieße ich derzeit eine unterirdisch geringe Wertschätzung. Seit sie Wind davon bekommen hat, dass ich unsere Klasse beim Lyrischen Abend vertreten soll, nennt sie mich bloß noch Doofplapper. Aber da stehe ich drüber. Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel Pfannkuchen-Rosi beim Felgumschwung. Eigentlich ist es ein lustiger Anblick, wenn Rosi wie ein aufgehängter Sitzsack an der Reckstange baumelt. Solange man nicht selber mit ran muss. Wenn aber unser Sportlehrer Triller ruft: „Jungs, helft doch der Rosi mal beim Schwung holen!“, dann wird’s Schwerstarbeit und wir haben hinterher meistens blaue Flecken und Muskelkater. Da lebt man als Doofplapper doch wesentlich gesünder. Und Gesundheit ist bekanntlich ein kostbares Gut. Das bekomme ich jedenfalls regelmäßig von Mama zu hören. Nämlich immer dann, wenn ich vom Spielen nach Hause komme und gerade mal nicht besonders attraktiv aussehe. Dann macht Mama jedes Mal ein Riesenfass auf und schimpft, dass es ein Wunder sei, dass bei mir noch alles heil geblieben ist, wo ich doch wieder aussehe, wie von einer Gerölllawine überrollt. Und dann sagt sie meistens noch, ich solle ein bisschen mehr auf mich achtgeben und meine Gesundheit nicht immer so leichtfertig aufs Spiel setzen.

      Neulich erst hat sie wieder damit angefangen.

      „Wie kann man nur auf die duselige Idee kommen, bei Tauwetter zu rodeln?“ hat sie gerufen. Und ich habe mich verteidigt und gesagt: „Pah, das bissel Dreck und die paar Schrammen. Wenn der Schnee weg ist, dann ist Rodeln eben etwas problematisch. Da hättest du erst mal Hannibal sehen sollen. Der hat hinterher mit seinen Schlittschuhen sogar noch ein paar Runden im Goldfischteich gedreht. Mama hat entsetzt den Kopf geschüttelt und gesagt, dass wir unbelehrbar wären und wenn wir erst mal richtig krank würden, was sie uns niemals wünscht, dann würden wir sie schon verstehen.

      Nein, über Gesundheit kann man mit meiner Mutter echt nicht diskutieren. Deshalb mache ich jetzt auch gar nicht erst meine Klappe auf, als Mama sich plötzlich zu mir über den Abendbrottisch beugt und ruft: „Findet ihr nicht auch, dass unser Edgarchen krank aussieht? Es hat ja fast keine Farbe mehr im Gesicht. Irgendwas stimmt nicht mit dem Jungen!“

      Was soll denn mit mir nicht stimmen? Der Tag eines Schülers ist hart und entbehrungsreich. Da sieht man eben so aus, wenn man ihn überstanden hat, denke ich, sage aber nichts dazu. Papa blinzelt mich kurz an und brummelt: „Wenn etwas mit unserem Großen nicht stimmt, dann wird er es uns schon erzählen. Schließlich hat er ja einen Mund zum Reden.“ Ich nicke und hoffe, dass das Thema damit jetzt durch ist. Aber wie immer, wenn es um die Gesundheit geht, lässt sich Mama so schnell nicht stoppen.

      „Fühlst du dich nicht gut? Ist etwas mit dir, Edgarchen?“, bohrt sie weiter und lässt nun ihren berühmten Kummerblick auf mich niedergehen. Ich schüttle den Kopf und will nun doch etwas sagen, nämlich: Mach dir keine Sorgen. Mir geht es super. Ich bin heute aufgrund außergewöhnlicher Leistungen in meiner Muttersprache ins Team der Vortragenden zum Lyrischen Abend erwählt worden. Und solche Leistung kann man schließlich nur erbringen, wenn man topfit ist. Doch stattdessen kommt jetzt aus meinem Mund:

      „Auf meiner Luftmatratze

      hockt eine fette Katze,

      sie presst und zieht ‘ne Fratze.

      Jetzt seufzt sie auf und wird ganz dünn

      - oh, Mann, ich glaub, ich platze!“

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      Danach denkt niemand mehr ans Abendessen. Stella wirft sich fast weg vor Lachen. Malte will auf der Stelle die fette Katze sehen. Mama starrt mich entgeistert an und Papa stammelt verblüfft: „Äh, wie war das eben? Könntest du das bitte noch mal wiederholen?“

      Eigentlich will ich jetzt gar nichts mehr sagen. Aber wie von selbst öffnet sich mein Mund erneut und schon höre ich mich die unglaublichen Worte sprechen:

      „Ob Rocker, Zocker, Stubenhocker,

      alle tragen Knickebocker.

      Bloß Lügen haben keine,

      die haben kurze Beine.“

      „Fieber! Er hat Fieber! Unser armes Edgarchen“, ruft Mama erschrocken und stürzt ins Badezimmer zum Medizinschrank, um das Fieberthermometer zu holen.

      Nein, ich habe kein Fieber! Daran ist bloß die doofe Stimme in meinem Ohr schuld, versuche ich die Sache klarzustellen. Doch auch das geht schief. Diesmal sage ich:

      „Dem Hüpfspecht sind Hüpfburgen recht,

      auf Schaukeln wird ihm immer schlecht.

      Das sagt doch schon der Name – echt,

      sonst hieße er ja Schaukelspecht!“

      Der Rest des Abends ist schnell beschrieben. Natürlich zeigt das Thermometer kein Fieber an, trotzdem muss ich sofort ins Bett. Mama will den Notarzt anrufen. Papa meint, das wäre übertrieben und man solle nicht gleich mit Kanonen auf


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