Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte. Jens Reinländer

Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte - Jens Reinländer


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„Yippie!“ Und dafür habe ich jetzt bloß eine Erklärung: Ich bin reif für die Klapsmühle!

      Während ich darüber nachgrüble, wie ich nun aus der peinlichen Nummer wieder herauskomme, schallt plötzlich Beifall durchs Zimmer und Fräulein Lieblichs Stimme zwitschert: „Na, was sagst du jetzt? Habe ich dir zuviel versprochen, Bernhard? Edgar hat ein unglaubliches Talent. Glaubst du mir jetzt, dass er der Richtige ist?“ Direktor Kittel nickt und lächelt verschmitzt. Die Überraschung in seinem Gesicht ist wie weggeblasen. Dafür sitzt bei mir der Schreck jetzt umso tiefer. Was meint Fräulein Lieblich jetzt bloß? Wofür bin ich der Richtige? Und was für ein Talent soll das sein? Bis jetzt bin ich auch ganz gut ohne Talent klargekommen. Und eigentlich hatte ich auch in Zukunft nicht vor, mit irgendeinem Talent in Verbindung gebracht zu werden. Denn hast du erst mal eins, wirst du es nie wieder los. Dann haftet es an dir, wie Hundekacke an deiner Schuhsohle. Überall musst du es mit herumschleppen und vorzeigen. So ein Talent ist eine Last, die ich nicht gebrauchen kann. Deshalb war ich bisher auch froh, keins zu besitzen. Und jetzt das: Ein Talent hat sich klammheimlich an mich rangemacht. Und seine Folgen bekomme ich auch gleich zu spüren. Fräulein Lieblich taucht hinter einem Bücherstapel auf, sieht mich mit leuchtenden Augen an und flötet: „Wir würden uns sehr freuen, wenn du am Lyrischen Abend teilnehmen und dort deine Klasse vertreten würdest. Was hältst du davon, Edgar?“

      Ich weiß nicht, ob der Schock über mein unverhofftes Talent daran Schuld ist oder wieder die Stimme in meinem Ohr. Aber anstatt eines klaren: Nein danke! Ich bin doch nicht bekloppt! Nehmt doch die Heidelbeere!, kommt wieder so ein Mist aus meinem Mund:

      „Alphabet mal anders:

      Vier Hexen wollen Rudern geh’n,

      die Jüngste heißt Sybille.

      Die Älteste liebt Speisequark,

      die Schönste trägt ‘ne Brille.

      Die Letzte, die heißt Muh-Muh-Muh,

      da ist es fast kein Wunder,

      dass sie auch schwer ist wie ‘ne Kuh,

      so geht das Boot rasch unter.“

      Fräulein Lieblich und Direktor Kittel sind begeistert.

      „Willkommen im Team. Wir gratulieren dir zu deiner löblichen Entscheidung. Unser Lyrischer Abend ist zwar nicht die Nobelpreisgala, aber ein guter Anfang. Er kann für dich der Beginn einer großen Karriere werden“, sagt Direktor Kittel hocherfreut und kugelt mir beim Händeschütteln fast den Arm aus.

      „Ja, nur den Besten wird diese Ehre zuteil. Selbstverständlich habe ich dir für dein schönes Gedicht von vorhin ein „sehr gut“ mit Sternchen ins Klassenbuch eingetragen“, trällert Fräulein Lieblich und strahlt mich an. Und ich werde irgendwie das Gefühl nicht los, dass es bis zum Literaturnobelpreis jetzt echt nicht mehr weit sein kann.

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      Der Lyrische Abend findet in jedem Jahr an unserer Schule statt.

      Er ist ein Höhepunkt unseres Schülerlebens, sagen die Lehrer. Was aber falsch ist, weil es in einem Schülerleben gar keine Höhepunkte gibt. Vielmehr gibt es massenhaft Tiefpunkte. Wie Zeugnisausgaben, Leistungskontrollen, das Schulessen, Musikunterricht bei Frau Schrei – die Aufzählung ließe sich endlos fortführen.

      Da unsere Schule schon sehr alt ist, ist auch der Lyrische Abend nicht mehr ganz jung. Was ihm aber nichts ausmacht, weil er eine lang Tradition hat und Traditionen müssen lang sein, weil man sie sonst nicht ernst nimmt. Unser Lyrischer Abend hat eine sehr lange Tradition, hat uns Direktor Kittel erläutert und seiner ehrfürchtigen Miene nach zu urteilen, müssen auch schon Heinrich Heine und Johann Wolfgang von Goethe hier aufgetreten sein.

      Wie immer beginnt auch in diesem Jahr der Lyrische Abend mit den Vorbereitungen. Hausmeister Schlüsselbund holt von überall Stühle zusammen und sperrt sie in einen besonderen Raum. Der Raum ist sehr prunkvoll. An der Decke hängen riesige Kronleuchter und die Fensterscheiben sind aus buntem Glas. Sogar eine Orgel gibt es. Es ist fast wie in einer Kirche. Nur, dass es hier keine Empore gibt, von wo aus unser Direktor auf uns Schüler herabpredigen kann. Wenn Direktor Kittel seine Predigten hält, steht er an einem Rednerpult auf einer kleinen Bühne. Deshalb heißt der Raum auch nicht Kirche sondern Aula. Ich persönlich finde Aula ja etwas unpassend, weil die Bezeichnung eher nach einem Speichelprodukt klingt. Prunkhalle oder Luxuskabuff wäre hier meiner Meinung nach angebrachter. Aber mich fragt ja keiner. Schülermeinungen sind an unserer Schule leider meistens nur in Leistungskontrollen gefragt.

      Nachdem Hausmeister Schlüsselbund genügend Stühle eingesammelt hat, schleppt er haufenweise Kartons vom Dachboden in die Aula. In den Kartons ist so ziemlich alles drin, was man für einen Lyrischen Abend so braucht. Kerzen und Kerzenleuchter, Bankett-Tischdecken, Plasteblumen, ein Buchständer, ein Mikrofon, Korkenzieher, Flaschenöffner Mottenkugeln und Fliegenspray. Einen ganzen Tag braucht Hausmeister Schlüsselbund für den Transport. Weil er nur zwei Hände hat und nicht hexen kann, wie er sagt. Aber beim Konzertflügel holt er sich noch ein paar Hände aus den oberen Klassen dazu. Die stärksten Jungs müssen mit anpacken und den Flügel aus dem Musikzimmer in die Aula rollen. Leider ist noch keiner drauf gekommen, ihn gleich für immer dort stehen zu lassen. Dann müsste er nie wieder hin und her gerollt werden und wir hätten endlich Ruhe im Musikunterricht, weil Frau Schrei uns damit nicht länger quälen könnte.

      Nicht nur Hausmeister Schlüsselbund hat Vorbereitungen zu treffen. Auch unsere Eltern tragen Verantwortung. Sie müssen für die Beköstigung sorgen. Kuchen, Plätzchen, Kartoffel- und Nudelsalate, Würstchen, Schmalzbrote, Pizzen, gebratene Hühnerkeulen – alles wird gebraucht. Weil Lyrik anstrengend ist und hungrig macht. Und weil wir sonst nichts auf den Bankett-Tischen stehen hätten. Denn leere Bankett-Tische sehen nicht besonders stimmungsvoll aus und wir brauchen eine stimmungsvolle Umgebung, damit wir die „aufwühlende Kraft der Lyrik erspüren können“. Sagt jedenfalls Direktor Kittel in seiner Eröffnungsrede. Ich habe ihn zufällig dabei belauscht, als er sie einstudiert hat – wie immer auf dem Jungsklo, vor dem großen Spiegel überm Waschbecken.

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      Es waren sehr viele Worte, die er gesprochen hat und die meisten davon habe ich nicht kapiert. Aber das ist bei unserem Direktor nichts Neues. Seine Reden sind für uns Schüler immer schwer verständlich. Er könnte sie auch auf Indonesisch halten oder uns das Telefonbuch rückwärts aufsagen, es wäre dasselbe. Aber Direktor Kittel stört sowas nicht, Hauptsache er kann reden und die Schüler sperren ihre Ohren weit auf.

      Hannibal meint, dass es keinen Zweck hat, sich darüber weiter aufzuregen, weil es unser Schicksal ist. Ein Direktor ist das Oberhaupt und somit der Chef der Schule und darf reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Und wir Schüler sind seine Untertanen und müssen die Ohren aufsperren. So läuft das nicht nur an Schulen, so funktioniert das ganze Leben: Der Kopf spricht und der Arsch hört zu.

      Am Lyrischen Abend aber ist Direktor Kittel mal nicht die Hauptperson, jedenfalls sagt er das in seiner Rede. Stattdessen stehen wir, die Vortragenden, im Rampenlicht. Nun sind zur Abwechslung wir mal die Leittiere der Schülergemeinde.

      Meerschweinchen-Klara hat sich vor Lachen ausgeschüttet, als ich ihr das erzählt habe. Dann hat sie gesagt, dass ich auf meine Figur aufpassen soll, weil Leittiere schnell dick werden. Sie hätte da so ihre Erfahrungen. Ich wusste sofort, wen sie meint. Rambo nämlich. Rambo ist der Anführer ihrer Meerschweinchenherde. Deshalb steht Rambo in der Hackordnung ganz vorn und frisst immer zuerst. Und erst, wenn er satt ist, dürfen die anderen an den Futternapf. Ein Leittier muss beim Fressen mit niemandem teilen, deshalb hat es Überbreite, hat mir Klara erklärt. Aber ich glaube, hier täuscht sie sich. Leittiere sind nicht automatisch dick. Und wer dick ist, ist nicht automatisch ein Leittier. Wenn es anders wäre, dann müsste ja beim Lyrischen Abend auch Pfannkuchen-Rosi mit auf der Bühne stehen. Die hat schließlich mehr Überbreite als die meisten von uns.

      Seit ich der Bildungselite unserer Schule angehöre sind Rudi und Bernd schwer beeindruckt.


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