Und die Tage lächeln wieder. Susanne Zeitz
zurück. Das Buch schlug zu, glitt mir aus der Hand und rutschte in meinen Schoß. Fast hätte es die Kaffeetasse gestreift.
Mit zitternden Händen nahm ich es wieder in die Hand und schlug die erste Seite auf. Das konnte doch nicht sein!
Für meine liebe Lexa stand dort geschrieben. So hatte mich meine Mutter immer genannt, wenn sie mit mir zufrieden war oder mich, was meistens der Fall war, besonders liebhatte. Lexa, Lexakind, Lexalein.
Mit einem Mal konnte ich ihre Stimme deutlich hören. Sie war einer der wenigen Menschen, der ein singendes Lächeln in seiner Stimme trug.
Mein Herz hüpfte aufgeregt und meine Hände fühlten sich mit einem Mal leicht feucht an. Wie hieß die Autorin? Ich drehte das Buch auf die Vorderseite. Isabella Vargas. Meine Mutter hieß auch Isabella. Zufälle gibt es!
Warum sollte diese peruanische Frau nicht auch eine Lexa kennen? Es gibt Milliarden Menschen, so beruhigte ich mich. Sicher gibt es auch viele Lexas in aller Welt, sogar in Peru.
Es ist dein Buch. Es wurde für dich geschrieben. Unsinn! Quatsch! Mich hatte einfach mein geschriebener Name aus der Fassung gebracht, mehr nicht.
Ich trank einen großen Schluck Kaffee. Heiß, dunkelbraun, mit einem zarten Schokoladengeschmack, nicht zu bitter. Genau wie ich ihn mag. Auch der Kuchen schmeckte hervorragend.
Ich sollte Clemens anrufen, kam mir plötzlich in den Sinn. Ich nahm mein Handy und schaltete es ein. Er hatte schon einige Male versucht, mich anzurufen. Ich wählte seine Nummer.
„Alex, wo steckst du denn? Schon seit Stunden versuche ich, dich zu erreichen“, tönte es mir ärgerlich entgegen. „Ich wollte dir sagen, dass ich heute Nachmittag mit Fred in die Berge fahre. Wir machen morgen eine große Tour. Komme also erst am späten Abend zurück.“
„Wir wollten doch heute Abend zu unserem Italiener gehen. Und der Ausflug morgen?“ Ich konnte es nicht fassen.
„Ich weiß, mein Liebling. Aber morgen soll es ideales Bergwetter geben. Das verstehst du doch und den Ausflug holen wir nach, versprochen.“
„Ja, dann geh halt. Ich wünsch dir einen schönen Tag.“
„Ich wusste, dass du mich verstehst. Also, dann bis Montag in der Kanzlei. Küsschen.“
Bevor ich noch etwas erwidern konnte, war das Telefonat auch schon unterbrochen. Ich blieb enttäuscht zurück. Immer wieder versetzte er mich und erwartete mein Verständnis. Ich hatte es langsam satt.
Ich spürte das Gewicht des Buches auf meinem Schoß. Konrad schien geahnt zu haben, dass ich dieses Wochenende wieder allein verbringen würde. Wie so oft in letzter Zeit.
Die Sonne war inzwischen um eine Häuserecke verschwunden und die Herbstkühle strich an meinen Beinen entlang nach oben. Zeit, sich langsam auf den Heimweg zu machen. Ich trank den Rest Kaffee und steckte mir den letzten Bissen Kuchen in den Mund, zahlte und ging.
Das Buch wog schwer in meinem Rucksack. In der Straßenbahn widerstand ich dem Impuls, mit dem Lesen zu beginnen. Ich wollte keine Zeugen und Beobachter. So schaute ich, ohne große Gedankengänge, aus dem Fenster und ließ Haltestelle um Haltestelle hinter mir zurück.
In meiner Wohnung angekommen, legte ich das Buch ins Wohnzimmer auf den kleinen Beistelltisch neben meinem Ohrensessel. Groß, ausladend, mit bunten Blumen gemustert, füllt der Sessel den größten Teil des Erkers aus. Konrad schenkte mir dieses altmodische Ungetüm, wie es Clemens mit zusammengekniffenen Augen betitelte, zu meinem Einzug. Ich liebe diesen Sessel, das Prunkstück und Herz meiner Wohnung. Rings um ihn herum stapeln sich Bücher von meinem lieben Konrad, die zu lesen sich unbedingt lohnen würde.
Da ich den restlichen Tag allein verbringen würde, ging ich ins Schlafzimmer und zog meine Lieblingshose an. Eine alte, dunkelblaue Trainingshose mit verbeulten Knien. Darüber einen ausgeleierten, roten Baumwollpulli in Größe XL. Dann ließ ich mir eine Tasse Kaffee aus meinem Automaten und kuschelte mich zwischen die Kissen in meinen Lieblingssessel, nahm das Buch zur Hand und schlug es auf.
„Kann auch das Opfer zum Täter werden? Habe auch ich mich schuldig gemacht?“
Mein Herz klopfte. Was für ein merkwürdiger Anfang für einen Roman. Doch genau diese Sätze zogen mich hinein in das Buch, erweckten meine Neugier.
„Doch nun möchte ich mit meiner Lebensgeschichte beginnen oder soll ich es eher als Abrechnung mit meinem Schicksal und Aufarbeitung meiner Schuld bezeichnen? Wie auch immer. Es begann vor fünfundvierzig Jahren. Es war ein heißer Sommertag, der Himmel azurblau, die Sonne strahlte und ich war jung und bis über beide Ohren verliebt.“
Ich las und las.
Kapitel 7
Ein Ruck geht durch meinen Körper. Was ist los?
Ich öffne die Augen und stelle fest, dass ich seitlich in meinem Sitz lehne. Mein Kopf ruht an der Schulter meines Nachbarn. Ein Hauch von Sandelholz und Amber steigt mir in die Nase.
„Ein Luftloch“, erklärt er mir aus unmittelbarer Nähe.
Abrupt setze ich mich gerade hin. Peinlich, ich muss wohl über meiner Erinnerungsreise eingeschlafen sein. Mein Sitznachbar wirft mir einen belustigten Blick zu.
„Entschuldigung. Sie hätten mich wecken müssen.“
„Oh, kein Problem. Einer hübschen Frau leihe ich gerne meine Schulter.“ Er lächelt mir zu und bringt sich ebenfalls in eine andere Sitzposition, weiter weg von mir.
Verstohlen blicke ich auf meine Armbanduhr. Nach Mitternacht. Die meisten Passagiere schlafen, die Helligkeit der Lampen ist reduziert. Das Flüstern einzelner Passagiere, das Greinen eines Babys und leises Schnarchen hinter mir mischen sich mit dem dumpfen Brummen der Motoren.
Ich blicke durch das ovale Fenster. Nichts zu sehen. Keine Lichter, nur die riesige, dunkle Fläche des Ozeans. Ich kuschle mich in meinen breiten Wollschal und stütze mein Gesicht in die Hand.
Nachdenken, nicht schlafen. Ich möchte auf diesem Flug noch einmal alles Revue passieren lassen, was daheim geschehen ist und ich muss mir einen Plan zurechtlegen für die Zeit, wenn ich in Lima bin.
Wie soll ich vorgehen? Ob sie es überhaupt ist? Vielleicht waren meine Reaktion und mein Handeln übereilt? Hysterisch, wie Clemens es ärgerlich nannte.
Ich werde unsicher. Mein Herz holpert und ich merke, wie eine diffuse Angst von mir Besitz ergreifen möchte. Was, wenn ich den Scherbenhaufen daheim umsonst aufgetürmt habe? Ich seufze.
Sofort wendet sich mir mein Sitznachbar wieder zu.
„Sie scheinen es gerade nicht leicht zu haben.“
„Wie kommen Sie darauf?“ Ein bisschen spitz kommt die Frage über meine Lippen. Ach, das wollte ich gar nicht fragen. Jetzt muss ich mich auf ein Gespräch mit ihm einlassen. Aber vielleicht tut mir ein wenig Ablenkung gut.
„Sie haben bereits im Schlaf geseufzt und schwer geatmet.“ Er dreht sich auf seinem Sitz noch mehr in meine Richtung und betrachtet mich mit weichem, mitfühlendem Blick.
„Ich bin ein guter Zuhörer, wenn Sie mögen.“
Möchte ich mich darauf einlassen? Es wäre einfach. Er ist ein Fremder. Nach der Landung werden sich unsere Wege wieder trennen. Keine Nähe, keine Verbindlichkeit. Ich könnte ihm meine Geschichte erzählen, meine Angst und Unsicherheit zu ihm hinüberschieben. Er wirkt wie jemand, dem man vertrauen kann, der für eine kurze oder auch für eine längere Zeit eine Last mittragen kann. Was vergebe ich mir, wenn ich ihm alles erzähle?
Was erzähle? Dass ich aufgrund eines Romans, den ich gelesen habe, mein ganzes Leben in Frage stelle und die Brücken zu meinem Verlobten und meinem Vater vorerst abgebrochen habe? Dass ich keinen Job mehr habe und was noch viel schlimmer ist, dass sich ein Teil meiner Vergangenheit als Lüge zu offenbaren scheint? Meine momentane Situation