Brennpunkt Balkan. Christian Wehrschütz

Brennpunkt Balkan - Christian Wehrschütz


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Nachspiel vor dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Angeklagt waren drei Offiziere der jugoslawischen Volksarmee, von denen zwei, Major Veselin Šljivančanin und Oberst Mile Mrkšić, für die Sicherheit der Gefangenen in Ovčar verantwortlich waren. Der dritte Angeklagte, Hauptmann Miroslav Radić, wurde bereits in erster Instanz freigesprochen. Mile Mrkšić wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Dagegen entwickelten sich die Urteile im Falle von Veselin Šljivančanin zur Justizgroteske. Wegen Verletzung des Kriegsvölkerrechts wurde er in erster Instanz Ende September 2007 zu fünf Jahren Haft verurteilt und danach auf freien Fuß gesetzt, weil er bereits seit Juli 2005 in Untersuchungshaft gesessen war. Dieses Urteil löste in Kroatien einen Sturm der Entrüstung aus, freute aber Serbien. Beim Urteil zweiter Instanz Anfang Mai 2009 war es umgekehrt, weil Šljivančanin nun zu 17 Jahren Haft verurteilt wurde. Doch das war noch nicht alles; das Verfahren wurde wieder aufgenommen, und das schließlich rechtskräftige Urteil lautete Anfang Dezember 2010 zehn Jahre Gefängnis. Ein halbes Jahr später, Anfang Juli 2011, wurde Veselin Šljivančanin freigelassen, weil er insgesamt zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hatte. Er lebt heute in Belgrad und hat ein Buch über seine Zeit in Den Haag und über Vukovar geschrieben.3)

      Der 18. November, der Fall von Vukovar, ist ein bedeutender Gedenktag in Kroatien, der in der Stadt mit einigem politischen Aufwand abgehalten wird. Doch dann herrscht wieder der triste Alltag. Von Gedenkreden und Versprechungen durch Regierungsmitglieder haben die meisten Bewohner genug, Erbitterung und Enttäuschung sind deutlich spürbar. Zum Spielball der Politik wurde Vukovar auch vor den kroatischen Lokalwahlen im Mai des Jahres 2013. Dabei ging es um den Gebrauch kyrillischer Aufschriften. Das bereits vor mehr als zehn Jahren beschlossene Gesetz über nationale Minderheiten sieht das Recht auf derartige Aufschriften vor, wenn in einer Gemeinde ein Drittel der Bevölkerung einer Minderheit angehört. Nach der Volkszählung aus dem Jahre 2011 leben in Vukovar 35 Prozent Serben und 57 Prozent Kroaten. Viele Serben betrachten bereits diese hohe Schwelle als Diskriminierung wie die pensionierte Serbisch-Lehrerin Mara Bekić-Vojnović, die vor dem Krieg am Gymnasium in Vukovar unterrichtet hat und folgender Meinung ist: „Schauen Sie sich doch nur den Prozentsatz an! 33,33 Prozent eines Volkes muss es geben, damit es das Recht auf seine Schrift bekommt – das ist reiner Chauvinismus. Wenn man sich die wilden Reaktionen darauf anschaut, weiß man, was Sache ist. Die Durchführung hängt natürlich vom Staat ab, der fast das ganze Volk gegen sich hat, und das sagt wiederum viel aus.“

      Auf kroatischer Seite organisierten vor allem Veteranenverbände Demonstrationen gegen zweisprachige Aufschriften. Dagegen ist auch Tomo Jošić; er kämpfte im Krieg in Vukovar und nach dem Fall der Stadt verbrachte er neun Monate in einem Lager in Serbien. Im August 1992 wurde er gegen serbische Gefangene ausgetauscht. Anschließend arbeitete er mehrere Jahre als Krankenpfleger in Deutschland. Zum Interview trägt er ein Ruderleiberl mit der Aufschrift: „Für ein kroatisches Vukovar, nein zur kyrillischen Schrift.“ Sein Nein begründet Tomo Jošić so: „Gegen Kyrillisch haben wir eigentlich gar nichts. Das Problem ist vielmehr, wie es dazu kam. 1991 haben die Serben unsere Stadt erobert; sie haben 25.000 Personen vertrieben, 5.000 wurden ermordet; es gibt noch immer 400 Vermisste. Somit wurde mit Gewalt das ganze ethnische Bild verändert. Und jetzt zu behaupten, ein Drittel der Bevölkerung hier wäre serbisch … Wer zählt die Toten und Vermissten mit? Kein Mensch fragt danach, und deshalb sind wir gegen Kyrillisch.“

      Die Mitte-Links-Regierung in Agram weiß, wie sensibel das Thema ist. Sie konnte sich bisher nur zu Lippenbekenntnissen zum Rechtsstaat aufraffen; die konservative Opposition fordert überhaupt einen vorläufigen Verzicht auf kyrillische Aufschriften. Sie beruft sich auf einen Paragrafen im Minderheitengesetz, wonach bei dessen Umsetzung zu berücksichtigen ist, dass die Anwendung auch der „Entwicklung des Verständnisses, der Solidarität, der Toleranz und dem Dialog“ zwischen Minderheit und Mehrheit zu dienen habe. Am 1. September 2013 ließen Bundesbehörden in Agram in Vukovar Aufschriften in lateinischer und kyrillischer Schrift an der Zollverwaltung und anderen Amtsgebäuden anbringen. Tags darauf zerschlugen etwa 100 kroatische Demonstranten zunächst die Amtstafeln mit Hämmern und demontierten sie anschließend. Bei der Gewaltaktion wurden vier kroatische Polizisten verletzt. An der Anbringung derartiger Tafeln will die Regierung trotzdem festhalten.

      

      Ein Mahnmal für sinnlose Zerstörung: der Wasserturm von Vukovar

      Die Schule als Beitrag zur nationalen Spaltung? Kroatische Proteste gegen kyrillische Aufschriften in Vukovar am 5. Februar 2013

      Zweifellos belastet dieser Streit um die Amtstafeln das Verhältnis zwischen Serben und Kroaten. Weit dauerhafter konserviert die Spaltung jedoch das Schulsystem. Es ist ein Ergebnis des Abkommens von Erdut vom 12. November 1995, das die Reintegration Ostslawoniens, der Baranja und Westsyrmiens in das kroatische Staatsgebiet regelt. Diese Gebiete wurden zu Beginn des Kroatienkrieges Teil der international nicht anerkannten „Republik Serbische Krajina“, aus der viele Kroaten vertrieben wurden. Nach dem Sieg Kroatiens in der Militäraktion „Oluja“ (Sturm) war das Verhältnis beider Völker zwangsläufig sehr gespannt. Das wirkte sich auch auf das Schulsystem in Vukovar aus. Die Folgen beschreibt der serbische Abgeordnete im kroatischen Parlament Dragan Crnogorac: „Am Beginn der Reintegration der Stadt im Jänner 1998 haben kroatische Eltern dagegen gestreikt, dass serbische Lehrer auch kroatische Kinder unterrichten. Diese Eltern wollten auch nicht, dass serbische Lehrer in kroatischen Schulen arbeiten. Und diese Situation hat sich nicht geändert. Vukovar hat sechs Grundschulen; in drei davon gibt es Unterricht auf Serbisch und in kyrillischer Schrift. In den anderen drei gibt es keine fünf Serben, die dort beschäftigt wären. Somit ist es klar, dass die kroatische Mehrheit keine Serben im Bildungssystem wünscht.“

      Die Grundschule Nikola Andrić ist ein Beispiel für die Trennung unter einem gemeinsamen Dach. 300 Kinder besuchen diese Schule, jeweils die Hälfte sind Kroaten und Serben. Die erste Besonderheit dieser Schule ist bereits das Gebäude, das auch 18 Jahre nach Kriegsende noch immer Einschusslöcher aufweist, durch die bewusst oder unbewusst Kinder und Lehrer wohl ständig an die Vergangenheit erinnert werden. Der Unterricht wird vollständig in Sprache und Schrift der nationalen Minderheit abgehalten. Den Lehrplan erstellt der kroatische Staat. Natürlich lernt die nationale Minderheit auch die kroatische Schriftsprache, doch es gibt zusätzlich vier Stunden Unterricht in serbischer Sprache pro Woche; im Rahmen der anderen Gegenstände wird auf Geschichte, Geografie, bildende Kunst und Musik der Minderheit eingegangen. Diese strikte Trennung wird vor allem im Falle der serbischen Volksgruppe praktiziert, während bei anderen Minderheiten (Albaner, Tschechen, Ungarn) der Unterricht viel integrierter erfolgt, von der besonderen Pflege von Kultur und Muttersprache abgesehen. Nach Angaben des Schuldirektors, Željko Kovačević, sind zwar die Klassen nach Kroaten und Serben getrennt, Schulveranstaltungen finden aber gemeinsam statt. Probleme bei der Verständigung gibt es nicht, weil Kroatisch und Serbisch im Grunde eine Sprache ist, ein Umstand, der es einem Serben natürlich viel schwerer macht, seine nationale Identität zu bewahren als einem Albaner, der eine völlig andere Sprache spricht. Kovačević betont, dass es noch nie Konflikte auf nationaler Grundlage gegeben habe; allerdings gibt es auch erst seit dem Jahre 2012 ein gemeinsames Konferenzzimmer für kroatische und serbische Lehrer.

      Nach einer Untersuchung der philosophischen Fakultät der Universität in Agram, Abteilung für Psychologie4), befürwortet noch immer eine Mehrheit aller Eltern den getrennten Unterricht. Unterschiedlich ist allerdings die Zustimmung; waren im Jahre 2007 noch 68 Prozent der kroatischen und 66 Prozent der serbischen Eltern für die sprachliche Teilung, so sind es jetzt nur mehr 55 Prozent der kroatischen aber 75 Prozent der serbischen Eltern. Eine Erklärung für diese Entwicklung ist in der Studie nicht zu finden. Klar sind aber ihre Schlussfolgerungen: „Die Schule in Vukovar bildet nur den gesellschaftlichen Kontext ab, in dem sie sich befindet. Vukovar entwickelte sich nach dem Krieg als geteilte Gemeinschaft, wobei die Kontakte zwischen Serben und Kroaten hauptsächlich beiläufig und oberflächlich sind. Das betrifft insbesondere die Kinder, die keine Erfahrung damit haben, in einer gut integrierten, multiethnischen und ungeteilten Stadt zu leben, wie das vor dem Krieg der Fall


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