Brennpunkt Balkan. Christian Wehrschütz
war das Bild, das ein kroatischer und ein slowenischer Zöllner boten, die im „Niemandsland“ zwischen beiden Staaten im Dunkel der Nacht nebeneinander stehend das Feuerwerk verfolgten. Wenige Tage nach der Feier war die Kontrolle auf der kroatischen Seite der Grenze Geschichte. Nunmehr kontrollieren Grenzpolizisten beider Länder gemeinsam und nur mehr auf der slowenischen Seite, um die Wartezeiten vor allem für Touristen zu verringern. Das dieselben Touristen dann oft stundenlang an den kroatischen Mautstationen warten müssen, gehört zum weitverbreiteten kroatischen Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wobei selbst die elektronische Abbuchung die Fahrer zwingt, ihr Auto fast zum Stillstand zu bringen.
Zeitgleich mit der Zeremonie am Grenzübergang feierte am Ban-Jelačić-Platz in Agram die politische Elite des Landes mit den Vertretern aus der EU sowie ihren Mitgliedsstaaten und den übrigen internationalen Gästen. Politisch am hochrangigsten vertreten waren im Grunde genommen die ehemaligen jugoslawischen Brudervölker, von denen entweder Staatspräsident oder Regierungschef oder sogar beide gekommen waren. Im Gegensatz dazu war die Absenz der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel eine diplomatische Ohrfeige für Kroatien, die politische und juristische Gründe hatte, auf die in diesem Kapitel noch eingegangen wird.1) Doch auch viele andere EU-Staaten hatten nur Minister oder sogar nur ihre Botschafter zu den Beitrittsfeierlichkeiten entsandt,2) die von vielen protokollarischen Pannen geprägt waren. Das begann damit, dass das Kabinett von Ministerpräsident Zoran Milanović mit der Vorbereitung der Feierlichkeiten viel zu spät begonnen hatte und das eigene Außenministerium von den Absprachen mit den Botschaftern der eingeladenen Länder ausgeschlossen worden war. Und es endete damit, dass die Namen des Vertreters der USA und Dänemarks falsch geschrieben worden waren.3) In diesem Sinn lautete der Titel eines Zeitungskommentars zum Festakt denn auch: „Kroatien hätte ein würdigeres Finale des EU-Beitritts verdient gehabt.“4) Im Gegensatz zu Slowenien bei seinem Beitritt von 2004 versäumte es Kroatien wieder einmal, ein Großereignis durch eine entsprechende Betreuung ausländischer Journalisten für Eigenwerbung zu nutzen. So hätte man etwa Journalistenreisen im Vorfeld des Beitritts organisieren können. Am Tag danach dominierten Berichte über die Feierlichkeiten, den langen Marsch Kroatiens bis zum Beitritt und über die EU natürlich alle Zeitungen des Landes: „Europa! Die Reise Kroatiens dauerte 3.783 Tage – jetzt sind wir am Ziel“, „Der Traum ist erfüllt“, „Es leuchtete der 28. EU-Stern. Für ein Europa des Friedens, der Gemeinschaft und des Wohlstands“, titelten einige Zeitungen. Besonders aussagekräftig war der Aufmacher der Tageszeitung „24 Sata“5): „Auf Europa warteten wir sogar 100 Jahre.“ Porträtiert wurden vier Kroaten des Jahrgangs 1913, für die das Blatt folgenden gemeinsamen Nenner fand: „Sie wurden in Österreich-Ungarn geboren, überlebten drei Kriege und einige Regime, und jetzt treten sie mit Kroatien der EU bei … “ Dieser Satz schildert schlicht, aber ergreifend ein nicht nur aus der Sicht dieser Zeitzeugen schreckliches Jahrhundert, wobei Kroatien nun hofft, dass derartige blutige Konflikte durch seine Mitgliedschaft in NATO und EU für immer der Vergangenheit angehören. Jenseits der großen historischen Perspektive versorgten die Medien ihre Leser mit praktischen Informationen über die Folgen des EU-Beitritts: In welchen Staaten bestehen weiterhin Beschränkungen auf dem Arbeitsmarkt (z. B. in Österreich)? Was bedeutet die freie Handelszone konkret? Beim Import von Gebrauchtwagen aus der EU ist keine Mehrwertsteuer mehr zu bezahlen, Milch und Zucker werden billiger, weil die Zölle wegfallen und die Konkurrenz steigt. Gerade dieser Hinweis ist für die Kroaten wichtig, weil ein Drittel des Budgets eines Haushalts im Durchschnitt für Lebensmittel ausgegeben wird, während der EU-Durchschnitt bei nur 13 Prozent liegt. Dieses Verhältnis hängt natürlich mit der massiven sozialen Krise zusammen, die in Kroatien seit 2008 herrscht. Ganz in diesem Sinn warben auch die großen Handelsketten mit dem EU-Beitritt um Kunden durch Plakate und Inserate mit Botschaften wie: „Willkommen in der Union niedriger Preise“ (Lidl) oder „Kaufland verbindet: das Stärkste aus Kroatien mit den Vorteilen aus Europa“.
Kroatien versäumte wieder einmal die Gelegenheit zur Eigenwerbung: Feuerwerk am kroatisch-slowenischen Grenzübergang in der Nacht auf den 1. Juli 2013
Der lange Marsch in die EU
Die Botschaften der kroatischen Politiker waren von Freude, Stolz und Erleichterung geprägt, den EU-Beitritt schließlich doch geschafft zu haben. „Wir sind am Ende einer Etappe und am Beginn einer neuen europäischen Ära“, sagte Präsident Ivo Josipović und Außenministerin Vesna Pusić betonte: „Wir haben es geschafft, jetzt sind wir Mitgestalter Europas.“ Diese Gefühle sind durchaus verständlich, weil der Weg Kroatiens in die EU im Grunde 20 Jahre dauerte und der Aufnahme so viele Hindernisse entgegenstanden wie bei keiner anderen Erweiterungsrunde zuvor. 1991 erklärte Kroatien seine Unabhängigkeit, die es erst mit dem Ende des Krieges 1995 wirklich errang. Doch Staatsgründer Franjo Tudjman wahrte nicht nur Unabhängigkeit und territoriale Integrität, sondern führte das Land durch seine nationalistische Politik auch in die außenpolitische Isolation. Erst sein Tod im Dezember 1999 sowie die Wahlniederlage seiner Partei HDZ (Jänner 2000) und die Bildung einer Mitte-Links-Regierung unter dem Sozialdemokraten Ivica Račan schufen die Voraussetzungen für die ersten sichtbaren Schritte auf dem Weg zur Europäischen Integration. Beim EU-Gipfel im November 2000 in Agram begannen die Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen, das Ende Oktober 2001 unterzeichnet werden konnte. Damit hatte Kroatien eine erste vertragliche Beziehung mit der EU erreicht, doch bis zum Beginn der Beitrittsverhandlungen sollten noch mehr als vier Jahre vergehen; dafür gibt es innen- und außenpolitische Gründe. So war die EU gerade mit der großen Erweiterungsrunde voll ausgelastet, die im Jahre 2004 schließlich zur zeitgleichen Aufnahme von zehn Mitgliedern führte, sodass Kroatien natürlich nicht im Fokus stand, dessen EU-Annäherung einfach zu spät begonnen hatte, um bei dieser Erweiterungswelle dabei sein zu können. Zu nennen sind aber auch die EU-Vorbereitungen in Kroatien selbst sowie die Tatsache, dass Ivica Račan die Parlamentswahl verlor, und im Dezember 2003 die HDZ unter Ivo Sanader an die Macht zurückkehrte. Wegen der nationalistischen Prägung der Partei hatte Sanader international zunächst mit einem beträchtlichen Misstrauensvorschuss zu kämpfen. Doch ihm gelang die Umgestaltung der HDZ hin zu einer nationalkonservativen Partei, und diese Mäßigung zählt zu seinen großen Verdiensten, die trotz seines schließlich unrühmlichen politischen Endes in einer Agramer Gefängniszelle unbestritten bleiben. Im Dezember 2004 beschloss der Europäische Rat in Brüssel, mit Kroatien Mitte März 2005 Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, sollte bis dahin eine volle Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal gegeben sein. Diese Kooperation hatte unter Sanader große Fortschritte gemacht, doch General Ante Gotovina6) war noch immer auf der Flucht, daher setzte die EU den Beginn der Verhandlungen aus. Sie begannen schließlich am 3. Oktober 2005, wobei das Einlenken der Chefanklägerin des Haager Tribunals, Carla Del Ponte, ein sicheres Anzeichen dafür war, dass sich die Suche nach Gotovina ihrem Ende näherte. Schließlich konnte der General zwei Monate später auf den Kanarischen Inseln verhaftet werden.
Jadranka Kosor als „Mutter“ des Beitritts
Das Tempo der Verhandlungen war jedoch alles andere als berauschend, obwohl Ivo Sanader nach der Parlamentswahl im November 2007 weiter im Amt blieb. Denn der Kampf gegen die grassierende Korruption bestand vorwiegend aus Lippenbekenntnissen, und auch die Reform der Justiz war weit von den Forderungen entfernt, die Brüssel an das künftige EU-Mitglied stellte. Hinzu kam, dass im Zuge der Verhandlungen über das Kapitel Fischerei, aber auch bei anderen Kapiteln der seit dem Zerfall Jugoslawiens nach wie vor ungelöste Grenzstreit mit Slowenien immer stärker in den Vordergrund trat.7) Bei diesem Konflikt ging es vor allem um die ungeregelte Grenze in der Bucht von Piran, doch auch Teile der Landesgrenze waren umstritten. Ab Oktober 2008 blockierte Slowenien schließlich die Beitrittsverhandlungen; sie liefen zwar auf Expertenebene weiter, doch offiziell wurden sie erst im November 2009 wieder aufgenommen, als sich beide Länder auf ein internationales Schiedsgerichtsverfahren zur Lösung des Streits geeinigt hatten.8) Dieser Kompromiss fiel bereits nicht mehr in die Amtszeit von Ivo Sanader, der am 1. Juli 2009 überraschend und aus bis heute ungeklärten Gründen zurücktrat. Seiner Nachfolgerin als Ministerpräsidentin und als HDZ-Vorsitzende, Jadranka Kosor, hinterließ Ivo Sanader einen