Emma Roth und die fremde Hand. Erika Urban
sich, schob das Höschen hoch und spülte den Mund aus. Ein Blick in den Spiegel ließ sie zurückschrecken: Sie sah so furchtbar aus, wie sie sich fühlte. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen, die markanten Wangenknochen traten aus ihrem bleichen, übernächtigten Antlitz hervor, als ob sie schwer krank wäre.
„Reiß dich zusammen, Emma Roth!“, schalt sie ihr Spiegelbild mit erhobenem Zeigefinger.
Sie wusste, dass es so nicht weiterging. Noch lief alles reibungslos, noch funktionierte ihr Leben ohne größere Patzer und Aussetzer, aber irgendwann würden die nächtlichen Eskapaden Konsequenzen nach sich ziehen. Und gerade jetzt musste sie in der Arbeit einen Gang zulegen. Ihr Vorgesetzter hatte sie auf dem Kieker, ihr Assistent hatte seine eigene kleine Revolte gegen sie losgetreten und so musste sie sich tagtäglich als Abteilungsleiterin beweisen.
Die nächste Tat des noch jungen Tages würde es sein, den namenlosen Mann aus ihrem Bett und aus der Wohnung zu befördern. Höflich, aber bestimmt. Darin war sie geübt! Entschlossen marschierte sie auf die Schlafzimmertür zu, doch bevor sie diese erreicht hatte, pochte der schrille Klingelton ihres Handys gegen ihr alkoholgeschwächtes Gehirn wie ein Presslufthammer. Automatisch riss sie die Hände hoch und bedeckte die Ohren. Dann besann sie sich. Wo hatte sie gestern nur ihre Handtasche hingeworfen? Sie folgte dem Geräusch bis in die gemütliche Wohnküche, wo sie ihre Wildledertasche schließlich inmitten von Essensresten und leeren Weinflaschen auf dem Küchentisch fand.
„Roth“, nuschelte sie mit schwerer Zunge.
„Rotten hier“, vernahm sie die aufgeregte Stimme ihres Assistenten. „Du musst sofort kommen. Der Chef hat eine Sondersitzung einberufen. Schon in einer halben Stunde. Irgendeine Geschichte in Ottakring.“
Emma gähnte und blickte auf die Wanduhr. Es war halb acht. Unter normalen Umständen wäre sie jetzt in ihr warmes Bett zurückgekrochen, sobald sie sich des smarten Bankers entledigt hatte, hätte dann noch gedöst, um gegen neun gut gelaunt und einigermaßen nüchtern ins Büro zu laufen. Damit war es jetzt vorbei. Sie stieß einen Seufzer aus, legte ohne ein Abschiedswort auf, ließ ihre Espressomaschine warmlaufen, schluckte zwei Aspirin und startete viel zu früh in diesen Tag, der schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt schien.
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Vierzig Minuten später stürzte sie außer Atem in ihr Büro im zweiten Stock eines grauen, unfreundlichen Neubaus. Hier hauste sie mit ihrem Team, seit das alte Büro am Schottenring hatte geräumt werden müssen, wegen einer Weltkriegsbombe, die sich angeblich unter dem Gebäude befand. Emma hasste die neue Zentrale, aber die Wiener Bürokratie ging ihren gewöhnlich langsamen Lauf und es würde wohl noch dauern, bis das Team in das alte Gebäude zurückziehen würde können.
Karl Rotten betrachtete Emma aus dem Augenwinkel, als sie die Tür zum Vorzimmer aufstieß und dabei ihre Handtasche fallen ließ, deren Inhalt sich über den braunen Teppichboden ergoss. Er hatte seine Chefin bereits oft in einem desolaten Zustand erlebt, doch so kaputt wie heute hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen. Die langen roten Locken waren mit einem breiten Haarband nur notdürftig gebändigt und die Krater und Schatten in ihrem Gesicht erzählten Geschichten von einer langen, alkoholschweren Nacht. Nicht einmal die Silberkreolen an ihren Ohren und der dunkelrote Lippenstift konnten dieses Bild der Zerstörung korrigieren. Auch die Garderobe ließ zu wünschen übrig und würde ihr mit Sicherheit einen Rüffel von Heiko Tomschak, ihrem Vorgesetzten, einbringen. Die engen Bluejeans waren an den Innenseiten der Oberschenkel aufgerieben und es fehlte nur noch ein winziges Stück Stoff, um den Blick auf ihre nackte Haut freizugeben. Das bunte Batikhemd hätte vielleicht auf eine Strandparty in Thailand gepasst, aber sicherlich nicht in das Büro einer Wiener Polizeimajorin. Da konnte auch das schwarze, eigentlich schicke Jackett nicht helfen, das sie sich übergeworfen hatte. Ihre gesamte Aufmachung wirkte geradezu grotesk in dieser biederen Beamtenwelt.
Roth musste seinen abschätzigen Blick bemerkt haben, denn augenblicklich reckte sie kampfeslustig das Kinn nach vorne, warf den Kopf zurück und konterte seine unausgesprochene Kritik mit den Worten: „Wenigstens habe ich ein Privatleben und vegetiere nicht so langweilig dahin wie du, Rotten!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte sie sich ihr iPad und marschierte zum Konferenzraum. Dort hatte sich bereits ihr kleines Team versammelt. Emma nickte kurz in die Runde und setzte sich auf einen der ungemütlichen Plastikstühle. Links neben ihr nestelte die Sekretärin Malin Meyer nervös in irgendwelchen Unterlagen herum. Eigentlich war sie promovierte Germanistin und daher gnadenlos überqualifiziert, aber da die Arbeitsmarktlage für Geisteswissenschaftler eher schlecht war und Malin alleine ein Kind zu versorgen hatte, war sie dankbar für ihren zuverlässigen Job im Vorzimmer von Emmas Abteilung. Sie kam morgens pünktlich um acht, aß um ein Uhr in der Kantine einen schlappen Salat zu Mittag und verließ exakt um vier Uhr ihren penibel aufgeräumten Schreibtisch. Sie war eine hübsche junge Frau mit blonden, langen Haaren und einem üppigen, kurvenreichen Körper, der, neben ihrem Namen, eine skandinavische Herkunft vermuten ließ.
Von links warf ihr Felix Musch verstohlen bewundernde Blicke zu. Der hagere junge Mann mit der großen Nase und dem fliehenden Kinn war der Inbegriff eines Nerd. Seine blonden, dünnen Haare waren meist fettig zurückgekämmt und legten Geheimratsecken frei, die Albert Einstein zur Ehre gereicht hätten. Emma hatte sich schon oft gefragt, ob sie jemals zuvor einen so unattraktiven Menschen gesehen hatte. Im Haus machte man seine Witze über den armen Kerl, der niemals über Privates sprach. „Rumpelstilzchen“ und Felix „Muschi“ waren nur eine schmeichelhafte Auswahl der vielen verletzenden Namen, die kursierten. Eine Freundin schien er nicht zu haben. Er war immer verfügbar, rückte zu jeder Tages- und Nachtzeit an, wenn es nötig war, und trank Unmengen an schwarzem, starkem Kaffee. Das war das Einzige, was ihn mit seiner Vorgesetzten Roth verband. Doch etwas konnte Felix Musch besser als jeder andere: Er war ein Genie am Computer, konnte sämtliche Netzwerke hacken und jedes beliebige Passwort knacken. Somit war er für ihr Team unverzichtbar. Emma lächelte ihm aufmunternd zu, doch Musch verzog keine Miene. Er war kein Freund von Gefühlen und hielt Empathie und Nächstenliebe für reine Störfaktoren in seiner digitalen Traumwelt.
Mit einem geschäftigen „Guten Morgen, alle miteinander“ setzte sich Karl Rotten rechts neben seine verkaterte Chefin und vervollständigte das Team. Eigentlich war er Abteilungsinspektor mit der Ambition, noch weit aufzusteigen, aber Emma bezeichnete ihn stets als ihren Assistenten. Das trug wenig dazu bei, ihr ohnehin kompliziertes Verhältnis zu verbessern. Karl und Emma kannten sich seit Jugendjahren, hatten gemeinsam die Schulbank gedrückt und schließlich dieselbe Karriere eingeschlagen. Karl war ehrgeizig und arbeitete zielstrebig auf einen hohen Posten hin, während Emma jeden Abend ausging, zu viel trank und regelmäßig die Polizeischule schwänzte. Trotzdem erzielte sie immer hervorragende Leistungen, während Karl sich abmühte und wochenlang auf Prüfungen lernte. Umsonst! Irgendwann hatte Emma ihren Weggefährten an Dienstgraden überholt und war zu seiner Vorgesetzten aufgestiegen. Das hatte Karl Rotten nie verwunden. All sein Hecheln und Schleimen, die schicken Designeranzüge, die er jeden Tag im Büro trug, und seine Disziplin hatten ihm nichts gebracht. Er war überholt worden – von einer Frau! Noch dazu von einer, die die Sozis wählte, filterlose Zigaretten rauchte, unmäßig trank und, wie Rotten vermutete, wechselnde Sexualkontakte hatte. Das Leben war ungerecht. Umso mehr genoss er es, wenn Oberst Tomschak Emma zurechtwies und ermahnte. Und das geschah oft. Sie benahm sich schlecht, kleidete sich unpassend und wandte mitunter unangebrachte Methoden bei Ermittlungen an. Das verschaffte ihr einige Feinde. Es gab genügend Neider auf der Dienststelle, die jeden ihrer Fehltritte unverzüglich meldeten. Karl Rotten gehörte dazu.
Die Tür zum Konferenzraum öffnete sich und Heiko Tomschak wälzte sich in den Raum. Sein massiger Körper konnte locker mit dem eines Bud Spencer konkurrieren, während seine Gesichtsform und die Kopfbeharrung eher an Michail Gorbatschow erinnerten. Seine Nase, stets angeschwollen und rot, war in die Mitte einer feisten Visage platziert und von großporiger, ungepflegter Haut bedeckt. Er hätte besser als Darsteller in eine Geisterbahn im Prater gepasst als an den Kopf des schicken, ovalen Konferenztisches, an den er sich jetzt mit einem schweren Seufzer setzte. Doch Tomschak entstammte einer alteingesessenen Wiener Unternehmerfamilie, die sich vor allem durch zwei Dinge auszeichnete: jede Menge schlechten Geschmack und viel Geld. Nachdem er an einer angesehenen österreichischen Privatschule maturiert