Emma Roth und die fremde Hand. Erika Urban
und Malin hatten sich darauf geeinigt, in ihrer Abteilung erst mal nichts von der persönlichen Verbindung zu erzählen, die Majorin Roth zu diesem Fall hatte. Höchstens Musch mussten sie einweihen, da er es früher oder später bei seinen Onlinerecherchen sowieso herausfinden würde. Da Rotten und Emma sich zu der Zeit, als Viola entführt worden war, bereits gekannt hatten, war es aber ohnehin nicht auszuschließen, dass auch er bald die richtigen Schlüsse ziehen würde. Nachdem sie in ihr Büro zurückgekehrt waren, rief Emma sofort alle Mitarbeiter zusammen und verteilte die Aufgaben, die für den nächsten Tag anstanden.
Rotten bedachte sie mit einem spöttischen Blick, als er in den Konferenzraum geschritten kam. „Weichei“, wollte er ihr damit sagen, „du bist hier völlig fehl am Platz! Erträgst nicht einmal die Arbeitsbelastung, die jeder andere hier locker stemmt! Von wegen Menstruation!“
Aber Emma wies ihn mit erhobenem Finger sogleich in seine Schranken: „Spar dir dein dämliches Grinsen, Rotten! Sogar horizontal und ohnmächtig auf dem Fußboden liegend schaffe ich noch eine bessere Aufklärungsrate als du!“
Worauf Rotten noch dümmlicher grinste und sofort den Ball zurückschmetterte: „Mit dem Horizontalen kennst du dich ja gut aus, Roth!“
Musch zuckte kurz mit den Mundwinkeln, aber Malin rettete die Situation, indem sie die Neuzugänge, die zwei Streifenpolizisten und den Praktikanten, auf ihre Plätze wies und die Besprechung für eröffnet erklärte.
Emma stellte sich an den Kopf des Tisches und fasste die Fakten zusammen. Da bereits die Presse informiert war und die Entführung genau 48 Stunden zurücklag, mussten sie Gas geben. „Rotten, du gehst mit den zwei netten Kollegen von der Streife zum Brunnenmarkt und grast die Gegend dort ab. Befragt jeden Markthändler. Klappert die Häuser rund um den Tatort ab, vielleicht hat ja gerade jemand zum Fenster herausgeschaut, als die Entführung passierte. Versucht Touristen zu finden, die am letzten Samstag den Markt besichtigt haben. Der Brunnenmarkt ist schließlich eine Attraktion und am Wochenende gut besucht. Von denen bekommen wir am ehesten frische Tatortfotos. Ruft also in den Hotels und Hostels an und lasst die Gäste befragen. Irgendjemand muss etwas gesehen haben.“
Karl Rotten konnte seine Wut nicht verbergen. Seine Augen verengten sich, als sie Emma taxierten. Ärgerlich zischte er ihr zu: „Für solche Laufarbeiten haben wir die Nieten von der Streife hier. Warum soll ich da meine Zeit verschwenden?“
Doch Emma warf ihm nur ein fröhliches „Viel Erfolg“ an den Kopf und wandte sich dann Computer-Ass Musch zu: „Du hockst dich an deine Tastatur und klimperst mir eine Sinfonie aus Fakten zusammen: Such online nach analogen Fällen in der letzten Zeit in Österreich, aber auch europaweit. Geh in die Vergangenheit zurück. In den Achtzigerjahren gab es eine ähnliche Entführungswelle in Südfrankreich. Stell mir dazu alles Relevante zusammen. Außerdem brauche ich Profile der Familienmitglieder des entführten Mädchens. Der Praktikant kann dir dabei helfen.“ Dabei nickte sie dem schüchternen jungen Mann zu, der neben Musch saß und nervös auf seinem Bleistift herumkaute. „Ich befrage solange die Eltern des Kindes. Malin ist unser Knotenpunkt, wo alle Informationen zusammenlaufen. Alles klar?“ Emma blickte in die Runde. „Morgen treffen wir uns um 17 Uhr wieder hier. Viel Erfolg!“ Sie drehte sich zur Tür.
Rotten stand auf und stützte beide Hände auf den Tisch: „Und was ist mit dem Handkiller? Tomschak will auch hier Ergebnisse. Keine Anweisungen zu diesem Fall, Frau Chefin?“
Roth war schon fast zur Tür hinaus, drehte aber nochmals um und sagte scharf: „Tomschak kann nicht Unmögliches von uns erwarten. Wir haben nur begrenzte Kapazitäten. Wir halten die Augen offen und bleiben dran. Aber ein verschwundenes Kind hat erst mal Priorität.“
Damit schlug sie die Tür hinter sich zu und ließ einen kochenden Rotten zurück.
SEIT 60 STUNDEN VERMISST
Als Emma an diesem Abend die Wohnungstür aufsperrte, fühlte sie sich, als ob eine schwere Last auf ihr ruhe. Es war spät geworden und sie hatte als Letzte das Büro verlassen. Ihr Zuhause war leer. Der Banker war natürlich gegangen, nicht ohne vorher die Küche aufzuräumen und eine Botschaft mit seiner Handynummer und der Bitte um einen Anruf zu hinterlassen. Unterschrieben hatte er mit Stephan. Stephan, dachte Emma, der hat sich nicht nach einem Stephan angefühlt. Das war ein Gerald, höchstens ein Herbert, aber nie im Leben ein Stephan! Entschlossen zerknüllte sie den kleinen Zettel und kickte ihn zielsicher in den Mistkübel. Dann ließ sie heißes Wasser in die Badewanne laufen, schüttete etwas Lavendelessenz hinein und entkorkte eine Flasche Amarone. Sie fühlte sich völlig leer. Ausgebrannt. Nach dem Bad würde sie direkt ins Bett fallen, hoffentlich vom schweren Rotwein ausreichend schläfrig. Sie schlüpfte aus ihrer Jeans und dem Batikhemd. Das Badezimmer war eingerahmt von großen Spiegeln, die ihr nacktes Bild dutzendfach durch den Raum warfen. Sie ließ die Augen an ihrem Körper entlanggleiten. Die Jahre hatten eindeutig an ihr genagt. Obwohl sie immer noch eine gute Figur und eine schlanke Taille hatte, gruben sich an den Schenkel kleine Löcher ins Fleisch. Ihr Bauch war zwar fest und flach, doch die Brustwarzen senkten sich bereits in Richtung Bauchnabel. Sie öffnete ihren Pferdeschwanz, sodass die roten Locken über die schmalen Schultern fielen und sich über den kleinen Brüsten kräuselten.
Wie Viola jetzt wohl aussehen würde?
Die beiden Schwestern waren immer grundverschieden gewesen. Die eine blond mit lachenden blauen Augen, einem Stupsnäschen und Grübchen, die andere rothaarig, mit stechenden grünen Augen, einer markanten Nase und hohen Wangenknochen. Viola hatte einem Engel geglichen, sie mehr einer attraktiven Hexe.
Emma seufzte und tauchte vorsichtig einen Zeh in das Badewasser. Dann strich sie sich eine Locke aus dem Gesicht und stieg in die Wanne. Doch die gewünschte Entspannung stellte sich nicht ein. Kaum lag sie im heißen Wasser, stieg ihr der Lavendelduft in die Nase und eine unaufhaltsame Gedankenkette spann sich fort. Lavendel – die farbenprächtigen Felder, an denen sie im Lubéron vorbeigefahren waren. Viola hatte damals kleine Sträußchen gebunden, die sie ihren Freundinnen im Kindergarten mitbringen wollte. Sie waren so glücklich gewesen. So glücklich. Und dann kam der schreckliche Tag in Marseille. Es war heiß auf dem Fischmarkt. Genauso wie es gestern am Brunnenmarkt heiß gewesen war. Sie hatte ihr neues kurzes Blumenkleid an. Das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich richtig erwachsen. Jeden Abend saß sie mit den Eltern an irgendeinem Strand oder in einem tollen Restaurant und genoss ihr Leben einfach nur. Auch die Blicke der südländischen Männer, die das junge Mädchen mit den feuerroten Locken und dem kantigen Gesicht auf sich zog! Damals lebte sie nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“. Und plötzlich schwappte die Sintflut über ihrer Familie und sie waren hilflos darin verloren.
Emma tauchte unter. Das Badewasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Sie bewegte die Finger und spürte das Kind an ihrer Hand, das dort nicht hingehörte. Hörte ihre eigenen Schreie, als sie erkannte, dass die Schwester nicht mehr da war, und sah die erschrockenen Gesichter ihrer Eltern vor sich, als diese den Ernst der Lage erkannt hatten – diese Fratzen der reinen Angst.
In den Jahren danach hatten sie sich an eine vage Hoffnung geklammert: Vielleicht lebt sie noch, vielleicht wird sie sich eines Tages melden, vielleicht, vielleicht, vielleicht. Und dann, mit den Jahren ohne eine Nachricht, das Sterben der Hoffnung, die Resignation im leeren Blick ihrer Mutter. Und mit dem Eingestehen der Niederlage, dem Bewusstsein, dass der Kampf verloren war und ihr kleines Mädchen nie mehr wiederkommen würde, hatte das Sterben eingesetzt. Erst das körperliche der Mutter und dann das geistige des Vaters. Und sie selbst? Sie hatte ihr ganzes Leben umgeworfen und infrage gestellt, bis sie zur Polizei gegangen war. Sie war totunglücklich gewesen. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie wegen Violas Schicksal niemals eigene Kinder bekommen hatte. Und jetzt war es zu spät dafür.
Entfernt hörte sie das Telefon leise verschwommen klingeln – nicht jetzt! Jetzt gab es nichts außer dem Rauschen um sie herum. Viola – Viola! Die letzten Jahre hatte sie immer weniger an ihre Schwester gedacht. Es gab Tage, an denen der Name ihre Gedanken nicht einmal mehr strich. Und jetzt war er wieder da – mit voller Wucht. Viola – Marie!
Mit einem lauten Prusten stob Emma aus dem Wasser empor und rieb sich die brennenden Augen. Sie wusste, was sie