Emma Roth und die fremde Hand. Erika Urban
bemerkte zunächst niemand, dass Emma mit einem Mal jeder Tropfen Blut aus dem Kopf wich. Ihr Herz schien für einen kleinen Moment auszusetzen. Dann fiel sie in Ohnmacht.
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Das Erste, was Emma wahrnahm, war ein Summen über ihrem Kopf, das ihr in den Ohren dröhnte. Langsam setzte sie weitere Sinne ein, öffnete mühsam die Augen und sah verschwommen verschiedene Köpfe, die sich in hektischer Bewegung befanden und aus deren Mündern anscheinend dieses Summen drang. Erneut schloss sie die Augen für einen kurzen Moment. Was war geschehen?
Plötzlich schwappte die Erinnerung über sie wie eine hohe Welle. Das Mädchen – die Entführung. Tomschak hatte ihr den Fall zugeteilt, die Erinnerung war mit einem Schlag schmerzlich wieder da gewesen, hatte sie wie eine Ohrfeige getroffen – und dann war sie einfach in Ohnmacht gefallen, hatte ihr ganzes System heruntergefahren, um diesen unerträglichen Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen, den sie in jahrelanger mühsamer Arbeit vergraben hatte, irgendwo in den Tiefen ihres Bewusstseins.
„Wahrscheinlich hat sie gestern zu lange gefeiert und hat noch Restalkohol im Blut“, hörte sie Rotten gehässig sagen. „Sicherlich die Hitze“, fuhr Malin ihn daraufhin an.
„Oder sie ist schwanger. Gunilla, damals bist du doch auch immer in Ohnmacht gefallen, oder? Das können wir jetzt gar nicht gebrauchen! Frau Roth, können Sie mich hören?“ Das war Tomschaks Stimme, der jetzt mit seinen Wurstfingern an ihren Schultern rüttelte. Sie schüttelte den Kopf, hob die Lider an und blickte in das fleischige Antlitz ihres Vorgesetzten. Sah er am Ende ernsthaft besorgt aus? Besorgt um sie als Person oder nur um den Ausfall einer Arbeitskraft? Emma tippte auf Letzteres und versuchte sich aufzusetzen. Ihr war immer noch schwindlig und ihr Hinterkopf schmerzte von dem Aufprall, aber es ging schon etwas besser.
„Weder besoffen, noch schwanger“, brachte sie hervor. „Die Hitze!“ Und setzte, um alle weiteren männlichen Fragen im Vorhinein abzuwehren, hinzu: „Und starke Menstruation!“ Mit diesen Worten erhob sie sich und ergriff dankbar Malins hingestreckten Arm. Sie musste hier raus, bevor einer merkte, was wirklich mit ihr los war. Sie stand unter Schock, das war die korrekte Bezeichnung. Und gegen diesen Zustand brauchte sie als Allererstes einen starken Espresso und einen Ortswechsel. Mit einem Flehen im Blick sah sie Malin an, die sie sicher aus dem Polizeigebäude lotste.
Die Hitze draußen auf der Straße traf sie wie ein Prügel am Kopf. Es war noch nicht einmal Mittag und schon brannte die Sonne wie ein heißes Eisen auf der Haut.
„Zu einem Kaffeehaus“, murmelte sie Malin zu und ließ sich einfach führen. Das Café Reibach war in einem wunderschönen Jugendstilbau untergebracht, das Interieur brach jedoch völlig mit der eleganten Außenfassade. In verrauchten, dunklen Nischen saßen jene, die um zehn Uhr morgens ihr erstes Bier tranken, oder die, die noch schnell den letzten Schnaps vor dem Zubettgehen hinunterschütteten. Genau der richtige Ort für ihren momentanen Zustand, schoss es Emma durch den Kopf. Sie setzten sich an einen abgelegenen Nischenplatz und blickten eine Weile stumm aus dem Fenster. Die Hitze waberte in den Gassen und am Himmel braute sich ein Unwetter zusammen, das sich wohl am frühen Nachmittag über der Stadt entladen würde. Das Kaffeehaus war schlecht klimatisiert und die erhitzten und übel gelaunten Touristen, die Zuflucht vor der Sonne suchten, schimpften vor sich hin. Die Ober hatten ihre arroganten Gesichter aufgesetzt, weil Fremde das von ihnen erwarteten. Kitschige Klaviermusik drang aus den kleinen Lautsprechern, die in den Ecken des viereckigen Raumes hingen. Die drögen Melodien passten so gar nicht zu der gereizten Kaffeehausstimmung.
Emma seufzte. Sie wollte untertauchen in einer Masse von ichbezogenen Unbekannten, denen es völlig egal war, warum sie gerade nicht nur das Bewusstsein, sondern auch ihr Gesicht verloren hatte. Vor Rotten, dem arroganten Arschloch. Vor Tomschak und seiner spitznasigen Frau. Bei der Polizei musste man hart sein. Schwächen wurden nicht gerne gesehen. Und Emma hatte – wenn auch nur für einen winzigen Augenblick – die Kontrolle verloren. Das nagte an ihr.
Malin hatte unaufgefordert eine Runde Mokka und Grappa bestellt, die der alte, graue Ober nun vor ihnen abstellte. Emma griff sofort zum Hochprozentigen und spürte, wie mit dem Schnaps eine beruhigende Wärme ihre Kehle hinunterrann und sich im Bauch ausbreitete.
Sie schloss die Augen und dachte nach: Konnte sie Malin vertrauen? Die Antwort lautete eindeutig: Ja. Ihre Sekretärin hatte ihr schon mehr als einmal die Stange gehalten und sie aus prekären Situationen gerettet. Sie war ihr persönlicher Fels in der Brandung.
Emma verschlang nervös ihre Finger ineinander und blickte Malin ernst in die Augen. „Was ich dir jetzt erzähle, habe ich außerhalb meiner Familie noch niemandem erzählt, und ich bitte dich um Diskretion, bis ich weiß, wie ich damit in der Arbeit umgehen möchte.“
„Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst. Musch ist zu keinem zwischenmenschlichen Gespräch in der Lage und Rotten und Tomschak sind Riesenarschlöcher. Die erfahren sicher nichts von mir!“
Emma atmete tief durch und winkte den Ober für eine weitere Runde heran. Nachdem wieder volle Tassen und Gläser vor ihnen standen, begann sie zu erzählen: „Ich hatte gerade die Matura hinter mir und angefangen, Medizin zu studieren. Meine Eltern waren furchtbar stolz auf mich. Deshalb luden sie mich und meine kleine Schwester Viola auf eine Frankreichreise ein. Viola war erst sieben Jahre alt, ein Nachzügler und das verwöhnte Nesthäkchen der Familie.“
Emmas Augen begannen bei der Erinnerung zu glänzen. Viola war ein lustiges, hübsches Mädchen gewesen. Bei dem Bild ihrer Schwester zog sich ihr Magen zusammen. Sie stieß saure Flüssigkeit auf und fürchtete, erneut umzukippen. Aber sie riss sich zusammen und fuhr fort: „Zwei Tage vor der Heimreise besuchten wir den berühmten Fischmarkt in Marseille. Es war ein Samstag im Hochsommer und es war die Hölle los. Ich quetschte mich mit Viola an der Hand durch die Menschenmenge, während meine Eltern ein Stück hinter uns spazierten. In diesem Gedrängel spürte ich plötzlich einen Ruck an meiner Hand, stark genug, dass ich mich zu Viola drehte. Sie war weg! An meiner Hand hielt ich ein kleines dunkelhäutiges Mädchen, das mich frech angrinste und dann weglief.“
Emma blickte versteinert ihre Hand an. Es war ihr, als könnte sie immer noch den Händedruck ihrer Schwester spüren. Ein Schluchzen stieg die Kehle hoch und trug all die verdrängten Gefühle mit sich. Sie nahm eine Bewegung wahr, sah, dass Malin sich näherte, und wich ihrem Arm aus, der sich tröstend um sie legen wollte.
„Ist sie jemals wieder aufgetaucht?“, fragte Malin vorsichtig, während sie wieder zurückwich, weil sie wusste, dass ihre Chefin selbst in emotionalen Momenten stets die hierarchischen Grenzen aufrechterhielt.
Emma schüttelte resigniert den Kopf. „Nein, bis heute haben wir kein Lebenszeichen von ihr erhalten. Das ist jetzt 24 Jahre her. Ich war damals 18 Jahre alt. Viola war gerade mal sieben.
Sie wäre im Herbst in die Schule gekommen. Genau wie … “ Emma schloss die Augen.
„ … genau wie Marie“, beendete Malin den Satz. „Wir haben sofort die Gendarmerie geholt, aber Viola blieb verschwunden, genauso wie das fremde Mädchen. Später erfuhren wir, dass sie nur ein Fall in einer langen Kette von ähnlichen Entführungen war, die damals aus der Region gemeldet wurden. Meine Eltern reisten jedes Jahr aufs Neue in die Stadt – erfolglos. Irgendwann hat meine Mutter aufgegeben. Sie ist Ende der Neunzigerjahre an Krebs gestorben. Mein Vater sitzt seit Jahren mit Demenz in einem Pflegeheim. Die Geschichte hat unsere Familie zerstört. Und ich – ich habe mein Medizinstudium geschmissen und bin zur Polizei gegangen. Das erschien mir als das einzig Richtige!“
Sie verfielen wieder in Schweigen und jede hing ihren eigenen, verwirrenden Gedanken nach. War es möglich, dass die Fälle zusammenhingen? Warum hatte der Täter sich dann zwanzig Jahre Zeit gelassen, um wieder zuzuschlagen?
Nach einer Weile richtete Malin sich auf. „Wir müssen zurück, sonst werden zu viele Fragen gestellt. Bist du so weit?“ Emma nickte. Es würde gehen.
Malin trank den letzten Schluck Espresso, winkte den Kellner für die Rechnung herbei und wandte sich wieder an Emma: „Und jetzt? Willst du den Fall abgeben? Wird das zu persönlich?“
Emma schüttelte entschieden den Kopf und erwiderte: