Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug
produzierten Kulturmittel, sondern mutatis mutandis auch für den Abfall, der in Gestalt abgeschlagener Steinsplitter, Asche, Tierknochen usw. bei ihrer Produktion bzw. Konsumtion angefallen ist, Exkremente des Einsatzes stofflicher Kulturmittel. Ohne eine solche zumindest ansatzweise ›Lektüre‹ würden sich dem archäologischen Blick keine archäologischen Objekte aus dem Ausgrabungsmaterial abheben. Es bliebe bei Abraum, einem Haufen indifferenter Naturdinge.
Das Problem, das bei Archäologen und Ethnologen auf der Hand liegt, dass auf dem Weg vom Augenschein zum Verständnis eine Distanz zu überbrücken ist, stellt sich in anderer Form auch in zeitgenössischen Erkenntnisprozessen. Brecht hat das Problem in seiner Schrift Der Dreigroschenprozess – Ein soziologisches Experiment umrissen. Das Wesen eines kapitalistischen Industriebetriebs lässt sich nicht mit den Augen sehen oder mit der Kamera photographieren. Es ist »in die Funktionale« gerutscht. Sie muss folglich erforscht und ans Licht gezogen werden. Ohne Theorie ist das nicht möglich. Louis Althusser hat das gleiche Problem epistemologisch reflektiert. Ohne Abstraktionen lässt die Wirklichkeit sich nicht erkennen. So ist zum Beispiel die kapitalistische Produktionsweise fürs Auge unsichtbar, beherrscht aber die sichtbare Realität »terriblement« mehr als die sicht- und berührbaren Objekte (1969, 10).
Hält man also an der Gleichung materiell = stofflich-physisch fest, lässt sich der Begriff der materiellen Kultur nicht halten. Das Stoffliche ist als solches kein Kulturelles, so wenig wie eine Lautfolge außerhalb einer Sprache schon ein Wort ist. Kurz, man wird zugeben müssen, dass die Funde, um als Kulturmittel oder als Exkremente einer Kultur gelten zu können, als solche gedanklich (re)konstruiert werden müssen. Dies geht aber nur, wenn man sich auf den im Begriff des tätig, durch Arbeit vermittelten und in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen vollzogenen lebensnotwendigen Stoffwechsels Mensch-Natur implizierten Sinn des Stofflichen besinnt. Schneidet man die materielle Kultur dagegen von den Lebensbedürfnissen und von der zur Mittelbeschaffung für ihre Befriedigung ausgeübten Arbeit ab und liefert sie dem toten Stoff aus, verliert sie ihren möglichen Sinn.
Während also zum Erkenntnisobjekt der Ethnologie unmittelbar soziale Gebrauchsweisen von Dingen zählen, ist die Archäologie darauf angewiesen, mögliche Gebrauchsweisen zu ihren Funden hinzuzudenken. Über die archäologische Interpretation der praktisch-funktionalen Bedeutung und die technologische Rekonstruktion der Machart hinaus gehört eine weitere, die ins Feld einer historischen Anthropologie fällt: Die Machart der Funde lässt Rückschlüsse auf die dabei vorausgesetzte epistemische und operative Intelligenz sowie auf den verallgemeinerten Erfahrungsfundus zu.
Wie Marx von der lebendigen Arbeit sagt, dass sie die in den Produktionsmitteln steckende tote Arbeit zum Leben erweckt, so hätte die Archäologie keine Objekte, würde sie diese Leblosen nicht zum Leben erwecken, d. h. einer intuitiven imaginären Wiederbelebung ihrer Rolle im Rahmen einer einstmals lebendigen Kultur unterziehen. Eine Tonscherbe als solche zu identifizieren, ordnet sie in der Vorstellung einem Gefäß oder einer Keramikfigur zu, zu der sie wiederum einen sozialen Gebrauch hinzuvermutet. Diesen Akt kann man die archäologische Ergänzung nennen. Sie ist für die Archäologen so selbstverständlich, dass die methodologische Reflexion solcher Ergänzungshandlungen erst spät auftritt. Unterstützung kann diese Reflexion bei der von Klaus Holzkamp gegründeten »Kritischen Psychologie« finden. Diese hebt an bei der »historischen Rekonstruktion von urgesellschaftlichen Grundformen menschlicher Arbeit […] im Problemgebiet der Anthropogenese, im Umkreis von paläontologischen und archäologischen Fragestellungen und Befunden« (Holzkamp 1973, IV, 106). Ausgehend von Kulturfossilien muss sie Aussagen über Formen der Lebensgewinnung und Gesellschaftlichkeit ableiten. Solche »erschließenden Interpretationen unterliegen der Gefahr der Beliebigkeit« und müssen auf jeden Fall dem Prinzip der »sparsamsten Erklärung« gehorchen, wie es von Lloyd Morgan (1894) als »principle of parsimony« formuliert worden ist (Holzkamp IV, 65): Die an ihren Resultaten ablesbaren Kulturleistungen dürfen niemals »as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty« interpretiert werden, wenn es sich durch eine Fähigkeit erklären lässt, »which stands lower in the psychological scale« (zit. n. ebd.). Dieses Postulat kann analog in Bezug auf die gesellschaftliche Organisation der entsprechenden Tätigkeit Geltung beanspruchen. Zu vermeiden sind Deutungen vom Standpunkt der dem archäologischen Beobachter zeitgenössischen Kultur. Dieser Gefahr sieht ethnologische Feldforschung sich beständig ausgesetzt, wenn sie für die beobachteten Handlungen etwas Homologes in der eigenen Kultur sucht. Ihre Interpretation überbrückt dann eine Ungleichzeitigkeit im Sinne einer gegenwärtig bestehenden kulturell-historischen Distanz. Die Überbrückung beruht auf »an intuitive comparison or comprehension of the processes involved« (Lemonnier 1986, 151). Deutungen, die die kulturelle Distanz vergessen, kann man ›selbstzentristisch‹ oder ›automorphisierend‹ nennen.
Intuitiv vergleichendes Verstehen prägt zunächst auch die archäologische Ergänzung. Zwar sind nicht die sozialen Gebrauchsweisen von Dingen ihr unmittelbares Erkenntnisobjekt, sondern sie hat einzig diese aus dem Leben gerissenen Dinge vor sich bzw. was von ihnen übriggeblieben und gefunden worden ist. Als diese physisch beschreibbaren Dinge sind sie indes keine Kulturgegenstände. Im bloß Stofflichen sind sie als solche nicht zu erfassen. Erst durch die mehr oder weniger intuitive oder epistemologisch reflektierte imaginäre Belebung werden sie als Kulturgegenstände für unser Verstehen konstituiert. »Sehen« in diesem Sinn beschränkt sich also nicht auf den sinnlich-optischen Akt. Immanuel Kants Satz, »Anschauung ohne Begriffe ist blind, Begriffe ohne Anschauung sind leer«, erhält für Archäologen einen professionell-technischen Sinn. ›Sehen‹ heißt für sie, ›Bedeutungen‹ sehen; das aber heißt, stoffliche Beschaffenheiten zu deuten.
Für die archäologische Ergänzung sind die Funde Indizien, Glieder einer Beweiskette, die nur vermutet oder erschlossen werden kann. Am ›Artefakt‹, einem Term, der diskret die Schwebe hält zwischen einem ›Kunstwerk‹ und damit der traditionellen Dominanz des Kunstparadigmas Tribut zollt, und dem, worum es eigentlich geht, einem Arbeitsprodukt, lassen sich Material und etwaige Datierung naturwissenschaftlich getreu feststellen. Arbeitsprodukte werfen außer der Frage nach ihrem Zweck bzw. ihren Gebrauchsweisen die Frage nach den Arbeitenden, ihren Arbeitsmitteln und Arbeitsprozessen mit ihren »operational sequences« (Lemonnier 1986, 149) auf. Von der Bearbeitung des Materials lässt sich auf die Technik und von dieser auf die Technologie schließen. Letztere verweist auf die Akkumulation von Erfahrungen, die zu einer Form von Wissen verallgemeinert und abstrahiert worden sein müssen. »Diese Dokumente verraten eine zunehmende technische Kunstfertigkeit, ein sich ansammelndes Wissen und eine fortschreitende Organisation« (Childe 1959, 41). Die großen »Entdeckungen und Erfindungen«, die den Archäologen zur Periodisierung dienen, sind »verdichtete Verkörperungen und Anzeichen von Neuerungen in der gesellschaftlichen Überlieferung« (37). Derart ›verstandenen‹ Artefakten und ihren unterstellten Voraussetzungen können Hinweise auf Arbeitsteilung innerhalb eines vorgeschichtlichen Gemeinwesens entnommen werden. Oder sie deuten auf Verkehr mit fremden Gemeinwesen, Handel zwischen ihnen. Das Ziel sind hier möglichst fundierte Wissensergänzungen: etwa von Bronzefunden auf Technologie und Wissen zu schließen und darüber hinaus auf Raub, Tribut oder Handel.
5. Gegenständliche Kultur
Der von Raymond Williams begründete Kulturelle Materialismus fasst Kultur als »a (social and material) productive process« (1980, 243). In diesem Rahmen behandelt er traditionell als geistig beschriebene »specific practices, of ›arts‹, as social uses of material means of production (from language as material ›practical consciousness‹ to the specific technologies of writing and forms of writing, through to mechanical and electronic communications systems)« (ebd.). Williams geht es um »all forms of signification, including quite centrally writing, within the actual means and conditions of their production« (1981, 64f). Er kam zu der Auffassung »that a fully historical semiotics would be very much the same thing as cultural materialism« und begrüßte »certain tendencies in this direction, as distinct from some of the narrower structuralist displacements of history« (65).
Indem er Sprache als etwas Materielles begreift, passt der Begriff ›materielle Kultur‹ nicht in Williams’ Forschungsprojekt. Unter Materialität versteht er nicht mehr Stofflichkeit und Dinglichkeit. Sein Begriff der Sprache als »material ›practical consciousness‹« knüpft an