Das Geheimnis vom Oranienburger Thor. Horst Bosetzky

Das Geheimnis vom Oranienburger Thor - Horst Bosetzky


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sah keinen Anlass, Michels auf die Nase zu binden, dass er einen der lebensecht gezeichneten Barrikadenkämpfer erkannt hatte. Es war kein Geringerer als der Königliche Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard, verkleidet als Totengräber! Diese Entdeckung konnte Gold wert sein, und so kaufte Böttschendorf die Federzeichnung März 1848 – Barrikade am Alexanderplatz – Vor dem ersten Schusswechsel für so viel Geld, dass es Michels vorkam, als fielen Ostern und Pfingsten auf denselben Tag. Beide waren so glücklich wie schon lange nicht mehr.

      Als Gontard am nächsten Morgen zum Rasieren und Haareschneiden zu Böttschendorf kam, holte der die Federzeichnung aus einer Schublade hervor und hielt sie seinem Kunden unter die Nase.

      »Das ist der Beweis, Herr Oberst-Lieutenant, der Sie Kopf und Kragen kosten kann. Wie viel ist er Ihnen wert?«

      Ein Institut für Pathologie gab es im Jahre 1852 an der Berliner Charité noch nicht, aber man verfügte seit 21 Jahren über eine Prosektur, in der zur Aufklärung von Todesursachen regelmäßig Obduktionen durchgeführt wurden.

      An diesem Tag lag der Kürschner Charles Corduan auf dem Seziertisch, da sein plötzlicher Tod einige Fragen aufgeworfen hatte. Zu Johann Ludwig Casper, dem Inhaber des Lehrstuhls der praktischen Unterrichtsanstalt für die Staatsarzneikunde, der sich gerade mit einem jungen Kollegen daranmachte, den Leib des Kürschners zu öffnen, hatte sich ein Mann gesellt, der erst Mitte dreißig sein mochte, in Berlin jedoch bereits eine sehr hohe Reputation genoss. Es handelte sich um Emil du Bois-Reymond, den Spross einer Hugenottenfamilie. Er hatte in Berlin Medicin studiert und im Jahre 1846 mit der Arbeit Über die saure Reaktion der Muskelsubstanz nach ihrem Tode seine Habilitation abgeschlossen. Entscheidende Anregungen hatte er von dem Anatomen und Physiologen Johannes Peter Müller erhalten, dessen Handbuch der Physiologe des Menschen für Vorlesungen als Meilenstein in der Medicin angesehen wurde. Seit 1849 war du Bois-Reymond Assistent am Berliner Anatomischen Museum. Am liebsten aber stellte er sich immer wieder selbst an den Seziertisch, denn er strebte an, Professor für Physiologie zu werden und Müllers Nachfolge anzutreten.

      »Wie ist dieser Mann gestorben?«, wollte du Bois-Reymond wissen.

      »Es hat ihn nach dem Nachtmahl erwischt«, hatte Johann Ludwig Casper in Erfahrung bringen können. »Er litt wohl an Übelkeit, Erbrechen und wässrigem Durchfall. Schließlich hat die Atmung ausgesetzt.«

      »Hm …« Emil du Bois-Reymond richtete seine Aufmerksamkeit auf die Haut des Toten, die aschfahl war. »Es scheint mir fast, als sei der Mann mit Arsen vergiftet worden. Die Hautfarbe und die geschilderten Symptome sprechen jedenfalls dafür.«

      Casper winkte ab. »Seitdem man mit der Marsh’schen Probe Arsentrioxyd nachweisen kann, ist das Gift ein bisschen aus der Mode gekommen.«

      »Sie sollten dennoch eine Marsh’sche Probe in Betracht ziehen«, wandte du Bois-Reymond ein.

      »Ich habe sie bereits veranlasst. Das Ergebnis liegt inzwischen bestimmt im Laboratorium.«

      Man schickte einen Boten los. Und tatsächlich war der Kürschner Charles Corduan mit Arsen getötet worden. »Wir haben also eine Giftmörderin in der Stadt. Berlin, nimm dich in Acht!«, rief Emil du Bois-Reymond. Bei Giftmorden dachte man wie selbstverständlich an eine Frau als Täterin. Womöglich lag das daran, dass die Literatur seit der Antike zumeist von weiblichen Giftmördern berichtete.

      Criminal-Commissarius Waldemar Werpel saß mit seiner Frau am Frühstückstisch und ließ seiner schlechten Laune freien Lauf. »Der Winter allein ist schon schlimm genug, aber nun muss ich auch noch einen Giftmord aufklären! Und so ’ne richtige Giftmischerin lässt doch nicht locker, bevor sie nicht ’nen halben Friedhof gefüllt hat. Ich wünschte, ich würde eine Influenza kriegen! Andere Menschen werden doch auch immerzu krank.«

      »Waldemar, versündige dich nicht!«

      »Ist doch wahr! Und befördert worden bin ich immer noch nicht.«

      Seine Frau zeigte auf den Spruch, der am heutigen Tag auf dem Abreißkalender stand:

       Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.

      Werpel reagierte gereizt. »Besonders aus meinen Nierensteinen!«

      In diesem Augenblick wurde am Klingelzug gerissen. Minna Werpel zog die Küchengardine zurück und sah auf die Straße hinunter. »Es ist Krause.«

      Das war der Constabler, der Werpel bei seiner Arbeit assistierte. Der Commissarius, dem Krause vorher zugeteilt gewesen war, hatte einmal gesagt, dieser Mann sei zum Scheißen zu dämlich. Werpel war der Letzte, der dem widersprechen wollte. Mit Krause war er wirklich gestraft. Andererseits ersparte ihm sein Constabler den Weg ins Theater, denn ein komisches Schauspiel erlebte er mit dem oft genug.

      »Wat liejt’n heute an?«, fragte Krause, nachdem Werpel, dick bekleidet, auf die Straße getreten war. Der Constabler kam sich sehr bedeutsam vor, seit die Uniformen der Schutzpolizei der des Militärs angepasst worden waren.

      »Was heute anliegt?«, wiederholte Werpel, der das Gefühl hatte, sein Gehirn arbeite bei dieser Kälte langsamer. »Der Giftmord am Kürschnermeister Corduan aus der Jägerstraße. Da sollten wir auch gleich hingehen.«

      »Könn’ wa nich über die Krausenstraße jehn?«, fragte der Constabler.

      Werpel sah ihn staunend an. »Warum sollten wir das tun? Das ist doch ein gehöriger Umweg.«

      »Ja, aba ick freue ma imma, wenn ick det Straßenschild lesen, weil ick denn denke, det die Straße nach mia benannt is.«

      Werpel fasste sich an die Stirn. »Die heißt schon sehr lange so, mindestens seit 1720. Ein Mann namens Krause soll ein Haus in dieser Straße besessen haben.« Dann lachte er. »Es haben eben nicht alle so viel Glück wie ich.«

      »Wieso? Et jibt doch jar keene Werpelstraße in Berlin.«

      »Nein, aber ein kleiner Pilz heißt wie ich: die zierliche Verpel.« Dass man den Pilz vorn mit einem V schrieb, verschwieg Werpel. Man spreche das V wie ein W, hatte ihm ein Pilzsammler verraten.

      Krause prustete los. »Mit die zierliche Werpel kann aba nich Ihre Frau jemeint sint!«

      Darauf wusste Werpel nichts zu erwidern. Der Constabler hatte schon recht, denn seine Minna war in den vergangenen Jahren wirklich ein wenig in die Breite gegangen.

      Krause war an diesem Morgen in Plauderstimmung. »Wenn wir bei die Indiana am Amazonas wär’n, denn hätten wa et einfacha«, fand er.

      Werpel konnte ihm nicht folgen. »Wieso das?«

      »Die schießen mit Jiftpfeile, und wo ’n Pfeil is, da is ooch ’n Bogen und damit ’n Beweis.«

      »Wenn nicht alles trügt, ist Corduan an einem vergifteten Bohneneintopf gestorben«, stellte Werpel fest.

      Sie brauchten nicht lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Krause konnte kaum lesen und schreiben, war aber in der Lage, das Wort Pelze auf dem Ladenschild von Charles Corduan zu entziffern. »Ick hab manchmal so ’n pelzigen Jeschmack im Mund, vielleicht hätte ick Kirschna wer’n soll’n.«

      Werpel zögerte nicht, den Constabler zu vergackeiern. »Da hätten Sie aber kräftig Kirschen essen müssen.«

      »Schade, Kirschen hatten wa keene im Jarten.«

      Jetzt galt es, den nötigen Ernst an den Tag zu legen. Zuerst befragte Werpel die beiden Gesellen, aber die konnten nichts zur Klärung des Falles beitragen. »Wir haben oben in unseren Kammern geschlafen. Erst als Susanna geschrien hat, sind wir nach unten gerannt, aber da lag unser Meister schon am Boden.«

      »Und in den Tagen zuvor ist Ihnen nichts aufgefallen?«

      »Nein. Was hätte uns denn auffallen sollen?«

      Werpel verdrehte die Augen. »Zum Beispiel, dass jemand ums Haus geschlichen ist oder sich in anderer Weise verdächtig verhalten hat.«

      »Nee,


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