Das Geheimnis vom Oranienburger Thor. Horst Bosetzky
»Et is allet so furchtbar, Herr Commissarius, aba ick war et nich, det schwöre ick bei Gott und allen Heilijen. Dazu habe ick doch zu sehr an ihm jehang’n.«
Werpel wurde hellhörig. Vielleicht war die Magd auf eine Heirat aus gewesen, und Corduan hatte sie abgewiesen. Das Arsen im Eintopf könnte die Rache für die Zurückweisung gewesen sein. Werpel beschloss, unverzüglich zu handeln. »Wir müssen Ihre Kammer, den Keller und die Küche nach Spuren des verwendeten Gifts durchsuchen. Sie folgen uns bitte, damit wir Sie im Auge behalten können!«
»Ick war et nich, Herr Commissarius!«, wiederholte Susanna.
Die Durchsuchung der genannten Räume erbrachte nichts. Aber was mochte das schon besagen? Die Dienstmagd hatte alle Zeit der Welt gehabt, sämtlich Beweise aus dem Haus zu schaffen. Man nahm die Angaben zu ihrer Personen auf, denn verdächtig blieb sie auf alle Fälle. Anschließend machte sich Werpel auf den Weg ins Polizeipräsidium, denn der Polizeipräsident von Hinckeldey höchstpersönlich hatte ihn sprechen wollen. Krause sollte indessen eine Apotheke nach der anderen aufsuchen und sich von den Inhabern aufschreiben lassen, ob in letzter Zeit jemand Arsen erworben hatte. An einen so außergewöhnlichen Kauf konnten sich die Apotheker bestimmt erinnern.
Das Polizeipräsidium war im alten Stadtvogtei-Gebäude am Molkenmarkt No. 1 untergebracht. Werpel hatte also nicht weit zu laufen. Nachdem er die Jägerstraße hinter sich gelassen hatte, überquerte er erst den Werderschen Markt und dann an der Unterwasserstraße einen der Spreearme, um schließlich vom Schloßplatz in die Breite Straße abzubiegen und über den Mühlendamm den Molkenmarkt zu erreichen.
Selbstverständlich hatte Werpel über eine Viertelstunde im Vorzimmer des Polizeipräsidenten zu warten. Das gehörte zum Ritual. So wollte Hinckeldey seine Untergebenen einschüchtern. Werpel wusste, dass von Hinckeldey aus der Nähe von Wasungen kam und bei den Demokraten und Barrikadenkämpfern von 1848 wegen seiner Geheimpolizei verhasst war, aber auch viele Feinde im Adel hatte, weil er sich nicht beeinflussen ließ. Andererseits hatte der Polizeipräsident, der ein Günstling des Königs war, in Berlin bereits einiges vorangebracht. So hatte er die Einführung von Straßenreinigung und Kanalisation veranlasst und den Bau des ersten Berliner Wasserwerkes angeregt. Zudem ließ er Volksküchen und Badeanstalten sowie Altersheime einrichten und brachte gerade die Aufstellung einer Berufsfeuerwehr sowie die Reorganisation der Polizeiverwaltung auf den Weg. Auch öffentliche Pissoirs waren auf seine Weisung hin errichtet worden, was die Berliner ihm mit einem Spottlied dankten, in dem sie ihn Pinkelbey nannten.
Als Werpel zu seinem obersten Vorgesetzten vorgelassen worden war, gab der sich überaus leutselig. »Nehmen Sie Platz, Herr Criminal-Commissarius, und berichten Sie mir, was Sie im Falle des Kürschners Corduan bereits herausgefunden haben!«
Werpel folgte der Aufforderung, anfangs noch etwas stockend, dann aber doch recht flüssig, und schloss damit, dass er Angst habe, in Berlin werde nun eine zweite Gesche Gottfried ihr schauriges Handwerk betreiben.
Hinckeldey staunte. »Wer ist das?«
»Gesche Gottfried war die Tochter eines Schneidermeisters aus Bremen. Zuerst dachte man, sie tut nur Gutes und opfert sich für alle auf, in Wahrheit hat sie aber fünfzehn Menschen mit Arsen vergiftet. Im Jahre 1831 ist sie überführt und hingerichtet worden.«
Hinckeldey lächelte. »Was ausschließt, dass sie auch unseren wackeren Corduan ermordet hat. Das Tragische an der Geschichte ist, dass Seine Majestät ihn in den nächsten Tagen zum Hoflieferanten machen wollte. Der König hat also ein ganz besonderes Augenmerk auf diesen Fall gelegt. Werpel, geben Sie nicht nur Ihr Bestes, sondern übertreffen Sie sich selbst, und verhindern Sie um Gottes willen, dass noch weitere Berliner vergiftet werden! Damit ist unser Gespräch beendet.«
Caroline Schlitt war Witwe. Manche Nachbarn in der Brüderstraße, in der sie mehrere Häuser besaß, waren überzeugt, dass sie ihren Mann aus Habgier umgebracht hatte. Sie bestritt das energisch und hatte auch schon Prozesse gegen diejenigen angestrengt, die diese Behauptung in der Öffentlichkeit kundtaten. Immer wieder erklärte sie, dass ihr Mann, der überaus erfolgreiche Tuchfabrikant und -händler Ludwig Schlitt, beim Verzehr eines Stücks Rindfleisch erstickt sei. Man glaubte ihr nicht, denn der Bolustod, ausgelöst durch einen im Kehlkopf feststeckenden Gegenstand, war noch nicht bekannt.
Nun war Caroline Schlitt wirklich keine herzensgute Frau. Im Gegenteil, sie stänkerte gern und bereitete anderen Leuten mit Vorliebe Schwierigkeiten, vor allem ihren Mietern. Man behauptete, sie habe beim Eintreiben der Miete stets eine kleine Pistole in ihrer Handtasche. Das stimmte zwar nicht, wäre ihr aber durchaus zuzutrauen gewesen. Als sie einmal eine Familie auf die Straße gesetzt hatte, weil sie die heftigen Hustenanfälle des an Tuberkolose erkrankten Mannes in ihrer Nachtruhe gestört hatten, war mit Kreide an ihre Wohnungstür geschrieben worden:
DU HEXE SOLLTEST VERBRANNT WERDEN!!!
Sie störte das nicht sonderlich, denn sie genoss die Macht, die sie dank ihres Eigentums über andere Menschen hatte.
Eigentlich hatte sie an diesem Tag gute Laune, denn durch den Tod ihres Onkels Charles Corduan erbte sie eine ganze Menge. Gerade hatte sie sich zu einem Mittagsschläfchen auf ihrem Canapé wohlig ausgestreckt, da wurde an ihre Wohnungstür geklopft. Sie fühlte sich in ihrer Ruhe gestört. »Wer ist denn da?«, fragte sie ungehalten.
»Magdalena Gnie.«
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Ich bitte noch um einen Tag Aufschub«, kam es vom Treppenhaus in flehentlichem Ton. »Meine Schwester kommt morgen nach Berlin und wird mir das Geld für die ausstehende Miete leihen.«
»Kommt nicht in Frage! Packen Sie Ihre Sachen! In einer Stunde steht ein Fuhrwerk vor der Tür, das Ihren Krempel abholt.« Caroline Schlitt wusste, dass sie nun so schnell keinen Schlaf finden würde, und setzte sich an ihr Klavier, um die Réminiscences des Huguenots von Franz Liszt zu spielen. Das war ihre andere Seite: Sie war eine glänzende Solistin und eine begehrte Klavierlehrerin.
Der Constabler Krause hatte natürlich vergessen, in den Berliner Apotheken nach auffälligen Käufen von Arsen zu fragen. Seine Begründung war einleuchtend: »Ick hab nu mal ’n Jedächtnis wie ’n Sieb, det weeß doch jeda.«
Also war Werpel selbst losgezogen. Jetzt stand er am Oranienburger Thor und sah auf seine Liste. In der Rosengarth’schen Apotheke war er eben gewesen, nun kam die von Ernst Schering an die Reihe. Der Apotheker 1. Klasse kam aus Prenzlau, das wusste Werpel, hatte in der Apulius’schen Apotheke, der besten Berlins, gelernt und dann in Berlin Pharmazie studiert. Obwohl Schering keine dreißig Jahre alt war, hatte er es schon weit gebracht. Er galt als außerordentlich kundig und kam auf immer neue Ideen. Frauen etwa beglückte er mit »Schering’s bekömmlicher Speisenwürze«, mit der man Suppen und Eintöpfe, die schon etwas angegangen waren, noch genießbar machen konnte. Immer mehr Kunden sagten ihrem alten Apotheker ade, um sich ihre Salben und Medikamente fortan aus der »Grünen Apotheke« zu holen. Auf diesen Namen hatte Schering, der Naturliebhaber, die Schmeisser’sche Apotheke nach ihrem Ankauf umgetauft. Sie lag in der Chausseestraße No. 21, nahe dem Oranienburger Thor.
Schering konnte sich denken, warum der Criminal-Commissarius ihn aufsuchte. »Sie kommen wegen des Kürschners Corduan, oder?« Offenbar hatte sich schon herumgesprochen, dass Corduan mit Arsen vergiftet worden war.
Werpel nickte. »In der Tat. Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?«
»Ja, obwohl ich gerade sehr beschäftigt bin, denn ich möchte mir hinter dem Verkaufsraum ein eigenes kleines Laboratorium einrichten. Ich träume schon lange davon, Medikamente nach einem standardisierten Verfahren herzustellen. Kommen Sie, hinten stehen zwei Stühle, dort sind wir ungestört.«
Werpel wollte so schnell wie möglich Feierabend machen und legte keinen großen Wert auf eine Plauderei. »Ich möchte Sie wirklich nicht lange stören. Sie wissen ja, worum es geht, Herr Schering. Wir müssen herausfinden, wer sich das Arsen, mit dem Corduan vergiftet wurde, wann und wo beschafft hat.«
Der Apotheker holte weit aus. »Arsen ist ein weißes und gut in Wasser lösliches Pulver, das etwas nach Knoblauch riecht.«
»Was