Rotlicht. Uwe Schimunek
…» Peter seufzte und begann wieder Leitpfosten zu zählen. Diesmal kam er nur bis zwei. Im Rückspiegel sah er, wie ein Polizeiauto, irgend so ein Ost-Modell – war es ein Wartburg oder ein Moskwitsch? –, sich näherte und hinter den VW Käfer setzte. Peter merkte, wie er unwillkürlich im Sitz versank. Er gehörte nicht zu den Leuten, die den Osten verteufelten, vor dem Mauerbau hatte er sogar eine Freundschaft mit einem Ost-Berliner gepflegt. Doch mit den Volkspolizisten wollte er lieber nichts zu tun haben, unter den Linken in West-Berlin hatten die einen schlechten Ruf. Dabei hatte Peter sogar selbst einen Verwandten bei der Volkspolizei. Doch Onkel Hartmut jagte als Major der Kripo Mörder und keine unschuldigen Studenten aus West-Berlin. Was sollte er tun? Fuhr er zu schnell, würden die Ost-Polizisten ihn stoppen, fuhr er zu langsam, würden sie das vielleicht auch für auffällig halten. Er umklammerte das Lenkrad so fest wie einen Rettungsring und schaute auf den Tachometer. Der Zeiger ruhte auf der Hundert. Nun bloß nicht schneller oder langsamer werden! Peter merkte, wie sich seine Zehen auf dem Gaspedal verkrampften.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Großonkel sich zu dem Polizeiauto herumdrehte und dann wieder zu ihm blickte. «Da siehst du, was auf deinen Lenin folgt!»
«Sei still!», zischte Peter. Er war sich nicht sicher, ob seine Worte im dröhnenden Käfer zu hören waren. Doch das war ihm egal.
Der Polizeiwagen blinkte und überholte. Peter atmete durch und ließ das Lenkrad lockerer. Prompt holperte der Käfer bedrohlich nah an den Mittelstreifen. Schnell umfasste Peter das Lenkrad wieder fester. Die Vopos hatten anscheinend nichts davon mitbekommen, der Wagen verschwand am Horizont.
Peter blickte zum Beifahrersitz und höhnte: «Du musst mir gerade sagen, wie schrecklich die Polizisten im Osten sind! Dein Sohn Hartmut mischt da schließlich kräftig mit.»
«Da sagst du etwas», murmelte sein Großonkel. «Das ist auch ein Grund, warum ich nicht mehr in der Stadt leben möchte. Ich habe nur Polizisten in der Familie. So lässt mich meine eigene Vergangenheit nie los. Wann immer ich Zeitung lese, erfahre ich von Morden. Mein ganzes Leben verbringe ich nun schon mit Leichen und Mördern. Etwas Abstand wird mir guttun!»
Da braucht man aber doch nicht gleich in die westdeutsche Ödnis zu ziehen, dachte Peter. Er wunderte sich über den Sinneswandel seines Großonkels, der sich bis vor Kurzem noch gerne in die Fälle seines Vaters eingemischt hatte und sich nicht mit seinem Rentnerdasein hatte abfinden können. Peter mochte Hermann, und bald würde er quer durch den Osten fahren müssen, wenn er ihn und seine Frau besuchen wollte.
Hermann richtete sich im Beifahrersitz auf. «Zurück zu deinem Vater. Mit dem SHB könnte er sich sicher noch arrangieren. Aber er würde es nicht verkraften, wenn du beim SDS eintrittst.»
Otto Kappe und Hans-Gert Galgenberg stiegen aus ihrem Wagen und traten vor das Haus, in dem der Bruder des Opfers wohnte. Im Erdgeschoss befand sich ein Ladengeschäft, in dessen Schaufenster Bücher lagen. Kappe trat näher und entdeckte eine Bibel. Daneben fanden sich Prospekte über die Reinheit des Lebens und Erlösung durch Askese sowie ein Ratgeber mit dem Titel Mein Weg zur Enthaltsamkeit.
«Det sind ja echte Spaßkanonen hier!» Galgenberg tippte gegen das Schaufenster und grinste.
«Hans-Gert, nimm dich zusammen!», ermahnte Kappe seinen Kollegen. «Wir besuchen den Bruder eines Mordopfers.» Er wandte sich dem Klingelbrett zu. Auf einem kleinen Zettel neben der Schelle für Pasulke stand der Name Mönningsee. Lebte der Mann etwa in wilder Ehe – und das über solch einem frommen Laden?
Kappe klingelte, und der Türöffner summte. Im Hausflur roch es ein wenig modrig, vielleicht stand die Kellertür offen. Kappe schritt die Treppe in den ersten Stock hinauf. Dort fand er zwei Wohnungstüren, an der rechten stand in Frakturlettern Pasulke und darunter pappte wiederum ein schlichtes Zettelchen mit der Aufschrift Mönningsee. Kappes Annahme, es könnte sich um eine wilde Ehe handeln, erwies sich schnell als gegenstandslos, als die Tür von einer älteren Frau geöffnet wurde, die unmöglich mit dem Bruder einer jungen Frau verbandelt sein konnte. Sie trug eine große Brille und mochte um die sechzig sein.
«Sie wünschen?», fragte die Frau.
Kappe zückte seinen Dienstausweis, stellte sich vor und sagte: «Wir würden gern Herrn Dieter Mönningsee sprechen.»
«Der wohnt bei mir zur Untermiete. Kommen Sie herein!» Die Frau schritt durch den Flur, klopfte an eine Tür und rief: «Herr Mönningsee, die Polizei!» Sie klang, als verfasse sie innerlich schon das Kündigungsschreiben für den Untermietvertrag.
Die Tür ging auf, und ein hagerer Mann Mitte zwanzig erschien. «Für mich?», fragte er. «Warum?»
«Das kann ich Ihnen auch nicht sagen», erklärte Frau Pasulke und blieb neben der Tür stehen.
«Es liegt nichts gegen Sie vor, allerdings müssen wir Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen», sagte Kappe und stellte sich und Galgenberg erneut vor. «Können wir irgendwo ungestört reden?», fragte er schließlich und sah Frau Pasulke scharf an.
«Ich ziehe mich dann mal zurück», sagte Frau Pasulke. Sie klang so enttäuscht, als wäre sie von einer Familienfeier ausgeladen worden.
Mönningsee wies in sein Zimmer. Der Raum war spartanisch eingerichtet – eine Kommode, ein Schreibtisch mit einem Schemel davor, eine Schlafcouch. Die Fotografie über der Couch zeigte eine Familie neben einem DKW Junior. Kappe erkannte das Mordopfer und dessen Bruder. Das Bild musste fünf oder sechs Jahre alt sein, denn die beiden waren keine Kinder mehr, aber auch noch nicht so richtig erwachsen. Neben ihnen lehnte ein älteres Pärchen an der Heckflosse des schnittigen Wagens. Offenbar handelte es sich um die Eltern der Geschwister. Der Mann trug einen Anzug, und die Frau erinnerte mit ihrer blonden Pagenfrisur an Doris Day. Das Bild könnte auch als Plakat für eine amerikanische Kinokomödie dienen, dachte Kappe.
«Ich kann Ihnen leider nur den Platz auf meinem bescheidenen Sofa anbieten», sagte Mönningsee und setzte sich selbst auf den Schemel am Schreibtisch.
«Danke sehr», erwiderte Kappe. Sein Mund fühlte sich so trocken an, als hätte er zwei Stunden Sport getrieben und keinen Schluck getrunken. Er nahm Platz und sah, wie Galgenberg sich ebenfalls auf das Sofa plumpsen ließ. Der Kollege schaute demonstrativ zum Fenster hinaus. Das sah ihm ähnlich, die unangenehmen Gespräche überließ er dem Ranghöheren.
«Wir würden gern mit Ihnen über Ihre Schwester sprechen», sagte Kappe. Er merkte, dass er mit jedem Wort leiser geworden war.
«Hat Monika etwas angestellt?», fragte Mönningsee.
«Deswegen sind wir nicht hier.»
«Nein?»
«Herr Mönningsee …» Kappe zögerte einen Moment, dann fuhr er fort: «Wir müssen Ihnen leider eine sehr traurige Mitteilung überbringen. Ihre Schwester, Frau Monika Mönningsee, ist verstorben.»
Der Mann lehnte sich mit dem Rücken gegen seinen Schreibtisch und stammelte: «Wann? Wie? Und warum?»
«Wir ermitteln in der Sache noch, Herr Mönningsee. Doch zum derzeitigen Standpunkt spricht vieles für ein Tötungsdelikt.»
«Sie wurde umgebracht?»
«Davon müssen wir ausgehen.»
Mönningsee ließ den Kopf in seine Hände sinken. Er schluchzte leise und schwieg dann.
«Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen zu Ihrer Schwester stellen. Am liebsten natürlich jetzt gleich. Wenn es Ihnen lieber ist, können wir aber auch am Nachmittag noch einmal zu Ihnen kommen, oder Sie besuchen uns am Montagmorgen auf der Dienststelle», sagte nun Galgenberg. Kappe warf ihm dafür einen dankbaren Blick zu.
«Nein, nein. Das ist schon in Ordnung. Fragen Sie nur», sagte Mönningsee.
«Wie war das Verhältnis zu Ihrer Schwester?»
«Nun …», Mönningsee holte tief Luft, «… es wurde gerade wieder besser. Ich muss vielleicht ein wenig dafür ausholen.» Er zeigte auf das Foto mit der Familie, das über dem Sofa hing. «Unsere Eltern sind im vergangenen Oktober