Der kalte Engel. Horst Bosetzky
gefühlt haben, den er getötet hatte?
Walter Kusian sprang aus dem Bett und ging zu seinem Waschständer. Die weiße Schüssel war bis zum Rand gefüllt. Überall war das Emaille abgesprungen, und die schwarzen Flatschen sahen aus wie Muscheln oder Egel, die sich festgesaugt hatten. Eklig. Das Wasser war so kalt, dass er sich nicht gewundert hätte, wenn er beim Hineinfahren mit den Fingern durch eine dünne Eisdecke gestoßen wäre. Ein paar Spritzer ins Gesicht, das musste genügen. Was machte es schon, wenn er ein wenig müffelte: Es war keine Frau da, der er gefallen wollte. Und wenn er nachher wieder Schutt schippte, war sowieso alles für die Katz. »Also …« Er machte sich auf den Weg zur Toilette. Die lag am Ende des Flures und hatte den Sielaffs wie zwei anderen Untermietern zu dienen. Bei wem es da pressierte, der kam in arge Nöte. So legte Walter Kusian einen Extragang ein, als er nebenan Opa Pausin an seiner Zimmertür schließen hörte. Er war als Erster am Ziel und schloss sich ein, um sich zu einer längeren Sitzung niederzulassen. Je mehr Opa Pausin und Else Lehmann draußen trampelten und zeterten, desto wohler fühlte er sich. Zwar hing an der Decke nur eine müde 15-Watt-Funzel, aber seine Augen waren noch gut, und so konnte er Zeitung lesen. Der Telegraf, den Frau Sielaff in buchdeckelgroße Stücke zerschnitten und als Toilettenpapier hingehängt hatte, war zwar schon vierzehn Tage alt, aber eben kostenlos. Draußen schimpften sie immer erboster. »Was kann ich für meinen harten Stuhlgang!«, rief Walter Kusian. Die anderen Untermieter auf diese Art und Weise zu ärgern, war mit die einzige Freude, die er noch hatte.
»Und so was will nun Krankenpfleger gewesen sein!«, rief Else Lehmann, die bei der AOK am Wöchnerinnen-Schalter saß. »Na, wer bei Ihnen gestorben ist, der hat sich nur verbessern können.«
»Können Sie auch haben, kommen Sie nachher mal mit in mein Zimmer.«
Darauf drehte sie die Sicherung heraus, und er saß im Dunkeln. Was blieb ihm nun, als seine Lektüre für »hinterlistige Zwecke« einzusetzen. Pfeifend spazierte er dann an den beiden anderen vorbei in sein Zimmer zurück und machte sich daran, ein wenig zu frühstücken. Das Wasser für den Muckefuck war mit dem Tauchsieder schnell bereitet. Wenn er auch kein Geld für Bohnenkaffee hatte, so doch wenigstens ausreichend Quark für seine Stulle. Den aß er außerordentlich gern, obwohl Arthur, sein Kumpel, immer spottete: »Weißer Käse ohne Saft gibt viel Kacke, aber keene Kraft.«
Punkt sechs ging Walter Kusian aus dem Haus. Zu frieren brauchte er nicht. Dicke Stiebel hatte er und eine schwarze Cordhose, die er bei einem Kohlenträger für ein geklautes Karnickel eingetauscht hatte. Auch der alte Wehrmachtsmantel, den er trug, war ein Glücksfall. Noch schöner wäre es gewesen, er hätte die Epauletten und die Rangabzeichen nicht abtrennen müssen. Immerhin hatte das gute Stück einem Oberleutnant gehört. Er selber hatte es nur zum Sanitätsgefreiten gebracht. Etwas, das er seinem Führer nie verzieh, war er doch ein sogenannter Alter Kämpfer, einer, der schon sehr früh Mitglied der NSDAP geworden war. PG – Parteigenosse seit 1926. »Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen …« Walter Kusian hatte an die Worte Adolf Hitlers geglaubt. Er stampfte die Treppe hinunter.
Die Sternstraße im Wedding war eine gigantische Filmkulisse. Nieselregen und Ruinen. Die Mörder sind unter uns. Autos und schweifende Scheinwerfer waren selten wie Sternschnuppen am nachtdunklen Himmel. Über die Nordbahnstraße erreichte er den Bahnhof Wollankstraße und stieg dort die Stufen zur S-Bahn hinauf. Der Zug Richtung Stadtmitte rollte gerade heran. Brauchte er nicht lange zu frieren. In zehn Minuten war er am Bahnhof Friedrichstraße und lief zur Stadtbahn hinauf. Schon an der nächsten Station, Lehrter Stadtbahnhof, sprang er wieder aus dem Zug, weil ihm eingefallen war, dass es besser war, mit der Straßenbahn von hier aus direkt zum Knie zu fahren, als vom Bahnhof Zoo zu laufen.
Er hasste diesen langen Arbeitsweg! Dabei war er äußerst reizvoll, denn Walter Kusian reiste durch zwei Städte. Die Teilung Berlins, die nun schon zum Alltag gehörte, hatte im Juni 1948 mit dem Auszug der Sowjetunion aus dem Alliierten Kontrollrat begonnen. Während Ost-Berlin im Oktober 1949 zur Hauptstadt der DDR erklärt wurde, blieb West-Berlin formal Viermächtestadt und bloßes, wenn auch heiliges und teures Anhängsel Bonns und seiner Republik. Es war so, wie es der sozialdemokratische Wirtschaftstadtrat Klingelhöfer auf den Punkt brachte: »Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass Berlin geteilt sein wird, als wären es zwei Städte.« Die Haltestelle lag gleich gegenüber vom Ausgang an der Invalidenstraße. Trotz der frühen Stunde stand schon eine Gruppe anderer Fahrgäste an der Haltestelle. Auch viereinhalb Jahre nach Kriegsende sahen sie noch immer elend aus, blass, mager und verhärmt. Er hörte Elisabeths Stimme: »Wehe den Besiegten.« Männer gab es kaum noch. Die beiden, die er sah, hatten wie er eine Wehrmachtsmütze auf. Wohl dem, der eine hatte. Sogar die Torhüter bei den Fußballern schätzten sie. Die Frauen waren alle dick eingemummelt, und man konnte nur ahnen, dass sie welche waren. Aber vielleicht sind sie schon keine mehr, dachte er, und bei ihnen ist alles zugewachsen, was sie zwischen den Beinen haben. Wer konnte sich schon vorstellen, mit einer Trümmerfrau im Bett zu liegen. Er nicht. Da war er anderes gewohnt. Der Witz, den ihm Arthur gestern erzählt hatte, fiel ihm wieder ein.
»Stehen ein Junge und ein Mädel im Kinderheim und sollen abgeseift werden. Sagt der Junge: ›Ätsch, was ich unten am Bauch hängen habe, das hast du nicht.‹ Antwortet das Mädchen: ›Nein, wir sind Flüchtlinge und haben alles zu Hause zurücklassen müssen.‹«
Nach fünf Minuten kam die Straßenbahn von der Sandkrugbrücke her. Zwar sah der Triebwagen noch immer ziemlich abgewrackt aus, aber wenigstens waren die Fenster jetzt alle wieder verglast. Keine Bretter mehr, keine Pappe. Na bitte. Gerade wollte er sich darüber freuen, da bekam er den grüngrauen Rucksack seines Vordermannes voll ins Gesicht. Die Schnalle riss ihm eine Schramme in die Nasenwurzel.
»Pass doch uff, du Idiot!«, schimpfte Walter Kusian.
»Ick hab’ doch hinten keene Augen, Mann.«
»Klar. Hättest welche jehabt, würdeste ooch nicht mehr rumloofen hier, da hätten se dich unter Adolf schon längst …«
»Sie, soll ich die Polizei holen!«
Die Schaffnerin stieß Walter Kusian in die andere Richtung.
»Ruhe hier im Puff! Wir wollen unsern Fahrplan einhalten.« Walter Kusian schluckte herunter, was ihm auf der Zunge gelegen hatte: dass nämlich im Krieg mindestens einer zu wenig umgekommen war. Scheiße alles. Was wäre aus ihm noch alles geworden, wenn der Führer den Krieg gewonnen hätte. Jetzt aber, jetzt hatte er die letzte Drecksarbeit zu machen und sich mit diesem Plebs hier abzugeben. Nicht mal einen Sitzplatz hatte man für ihn. Na schön, bis zum Knie war es nicht weit. Schon wurde abgeklingelt. Sie bogen in die Rathenower Straße. Gegenüber lag düster und wuchtig das Kriminalgericht Moabit, das mit der angeschlossenen Untersuchungshaftanstalt das ausgedehnte Areal zwischen Alt-Moabit und Turm-, Wilsnacker und Rathenower Straße beherrschte. Er hasste es. Er hasste überhaupt alles.
Bald bogen sie nach links in die Gotzkowskystraße ab, dann ging es über die Spree hinweg und die Franklin- und die Marchstraße hinunter.
»Noch jemand zugestiegen, noch jemand ohne Fahrschein? Wer will noch mal, wer hat noch nicht?«
Walter Kusian hatte schon gehofft, dass es die Schaffnerin nicht mehr schaffen würde, sich bis zu ihm hindurchzuquetschen, nun aber stand sie vor ihm und klimperte mit ihrem Galoppwechsler. Wie Claire Waldoff sah sie aus. Dieselbe Kodderschnauze, dieselbe heisere Stimme: Wer schmeißt denn da mit Lehm … Er mochte diesen Typ von Frau. Eine, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Auch wenn es ihn in diesem Falle 20 Pfennige kostete.
»Knie …« Er hatte seinen Fahrschein gerade eingesteckt, da musste er auch schon aussteigen. Zwar war Ernst Reuter schon West-Berliner Bürgermeister, aber der große Platz, wo die Untergrundbahn auf ihrem Weg zwischen Zoo und Ruhleben mit einem sanften Knick von der Hardenbergin die Bismarckstraße bog, was im Linienplan wie ein gebeugtes Knie aussah, trug seinen Namen noch lange nicht. Die Randbebauung war total zerstört, und langsam begann man, die Riesenfläche freizuräumen. Als sollte hier ein innerstädtischer Flughafen angelegt werden. Die meisten total zerstörten Häuser gab es in der Berliner Straße, später Otto-Suhr-Allee, auf der man zum Charlottenburger Rathaus und zum Schloss gelangte. Dorthin wandte sich Walter Kusian nun.