Der kalte Engel. Horst Bosetzky

Der kalte Engel - Horst Bosetzky


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mehr zur Arbeit musste. Einmal was vom Leben haben.

      Von hinten kam jemand und drückte seine Hutkrempe nach vorn, so dass er nichts mehr sehen konnte. Dazu tönte es: »HO senkt die Preise!« Das konnte nur Arthur sein, der alte Kumpel aus besseren Tagen, der öfter mal in die HO einkaufen ging. HO hieß Handelsorganisation und war vom Osten dazu gedacht, West-Berliner anzulocken. Die kluge West-Berliner Hausfrau kauft in der HO lautete der Reklamespruch. Längs der Sektorengrenze gab es viele HO-Läden. Aber nicht die Frage, wo es etwas gab, war heute Morgen ihr Thema, sondern die Schäden, die der Orkan vom 5. Dezember in Berlin angerichtet hatte, und der Leichenfund vom Stettiner Bahnhof am selben Tag. Heute war Donnerstag, der 8. Dezember 1949.

      »Bei uns is ’ne Birke umgeknickt und uff ’ne Laube ruff,« erzählte Arthur, der 1944 in Weißensee ausgebombt worden war und nun mit Frau und zwei Kindern in einer Laubenkolonie am Bahnhof Blankenburg hauste. »Aber keener tot.«

      »Haben sie Glück gehabt.« In der Innenstadt waren vor allem Ruinen eingestürzt, und es hatte sechs Tote gegeben.

      »Du aber ooch …« Arthur musterte den Freund. »Dass du noch deine beeden Unterschenkel dran hast.« Das bezog sich auf die Leichenteile, die man am Stettiner Bahnhof entdeckt hatte. Die Zeitungen hatten ausführlich davon berichtet.

      Walter Kusian grinste. »Was haben die Kinder da gefunden: einen Arm, einen Oberschenkel und zwei Unterschenkel. Was meinst du wohl, wo die anderen Teile abgeblieben sind?«

      »Bei dir im Kochtopp.«

      »Richtig. Kommst du nachher mit essen?«

      »Menschenfleisch soll ja nicht schlecht schmecken, nur ’n bisschen süßlich.«

      »Was meinst du, was wir alles in der Wurst drin haben.« Arthur verzog das Gesicht. »Hören wa lieber uff zu spotten, denn der da, der det jemacht hat, der wird bestimmt nich so schnell uffhören damit. Einen jeden kann es treffen.«

      Damit hatten sie ihren Arbeitsplatz erreicht. Sie waren bei einer kleinen Klitsche beschäftigt, und ihr Chef hatte den Auftrag bekommen, ein Stück Ruinengrundstück freizuräumen und einen Kiosk hinzusetzen. Arthur hatte seine Bedenken. »Ob dit ma allet hält?« Sein Blick ging nach oben. Das Wohnhaus war von einer Sprengbombe getroffen worden. Die ganze Fassade fehlte. Man hatte einen freien Blick in alle Zimmer. Es war wie bei einem Puppenhaus, nur dass alles in die Tiefe gegangen oder leer geräumt war. Die Tapeten hingen noch an den Wänden. Auch die Türen zu Fluren und anderen Zimmern waren noch vorhanden, und es war anfangs durchaus vorgekommen, dass ein ahnungsloser Mensch sie von der anderen Seite her geöffnet hatte und abgestürzt war. Der hintere Teil des Hauses war noch bewohnt. Natürlich, wo alles eine Wohnung suchte. Wenn sie Pech hatten, krachte ein Stück Schornstein herunter oder eine Zwischenwand, die nicht genügend gesichert worden war.

      Der Chef kam mit seinem Tempo-Dreikanten, brachte ihnen Spaten, Hacken und Brecheisen und gab noch letzte Weisungen. »Und passt auf, da hinten in der Ecke ist die Kellerdecke eingestürzt.« Damit fuhr er wieder davon.

      Arthur wollte hinunter in den Keller und nachsehen, ob alles stabil genug war, doch Walter Kusian hielt ihn zurück.

      »Was soll’n da schon passieren, bei dem Untergewicht, das wir beide haben. Und wenn wir den Schutt wegräumen, wird doch die Last geringer.«

      »Trotzdem …«

      »Mann, bist du’n Angsthase. Kein Wunder, dass wir mit Soldaten wir dir den Krieg verloren haben.«

      Daraufhin verzichtete Arthur auf die Besichtigung des Kellers und begann gottergeben zu schippen. Walter Kusian hob die Mauersteine auf, schlug sie auseinander, klopfte den Mörtel ab, der ihnen noch anhaftete, und schichtete sie fein säuberlich neben sich auf. »Fehlt mir nur noch das Kopftuch, dann bin ich die perfekte Trümmerfrau.«

      So arbeiteten sie Stunde um Stunde. Abwechslung gab es wenig. Mal eine Frau, der man hinterherpfeifen konnte, mal der Pferdewagen mit dem Mann, der eine Glocke schwang und »Brennholz für Kartoffelschalen!«, rief. Gegenüber hatte einer einen Tannenbaum gekauft und hing ihn mit der Spitze nach unten außen ans Fenster, um ihn frisch zu halten. Ach Gott, ja, in vierzehn Tagen war ja Weihnachten.

      »Wat machste ’n so die Feiertage über?«, fragte Arthur.

      »Ich blase …«

      »Weihnachtslieder?«

      »Nee, Trübsal. Höchstens, dass ich mal zu meiner Schwägerin fahre …«

      Arthur lehnte seine Schippe gegen die kleine Mauer, die sein Kollege aufgeschichtet hatte. »Herr Ober, ’n Bier.«

      »Momentchen, Kollege kommt gleich.«

      Dieser Dialog bezog sich darauf, dass Walter Kusian bis vor kurzem in der Casablanca-Bar in der Augsburger Straße als Kellner gearbeitet hatte, dort aber entlassen worden war. Einer der Stammgäste, ein wohlhabender Filmkaufmann, hatte ihn wiedererkannt und es daraufhin abgelehnt, von einem alten Nazi bedient zu werden. Bei dem sich anschließenden Dialog war Walter Kusian dann etwas ausfallend geworden.

      Endlos dehnte sich der Tag. Es war trübe und nasskalt. Walter Kusian hätte nichts dagegen gehabt, wenn ein Mauerbrocken heruntergekracht wäre und ihn getötet hätte. Das Beste am Leben war ein Ende ohne Schrecken. Arthur konnte sich wenigstens auf den Feierabend freuen. Mit seiner Familie draußen in der warmen Laube. Er aber … Den ganzen Abend allein in seiner kalten Bude. Hoffen konnte man nur, wenn man Geld hatte, viel Geld … Der Möbelhändler drüben, der auf seine Träger aufpasste, dass sie die teure Anrichte auch heil nach oben trugen, der hatte bestimmt eine Menge Zaster. Möbel von GG – eine Pfundsidee. Das GG stand für Gregor Göltzsch, wie Walter Kusian aus der Zeitung wusste. Den beiseite schaffen, seinen Tresor öffnen und … Es war ein Gedanke, der ihn mehr erwärmte als der Glühwein, den der Chef spendierte, als es dunkel wurde und er kam, die Werkzeuge wieder einzusammeln. »Feierabend!«

      Walter Kusian ging zur Haltestelle, um auf die nächste Straßenbahn zu warten, und stieg dann in die völlig überfüllte 2. Der Beiwagen hatte keine Türen, und so stand er auf der Plattform halb im Freien und fror sich einen ab. In der Turmstraße sah er zwei gackernde Frauen. Sie kamen gerade aus dem Robert-Koch-Krankenhaus. Es war Elisabeth Kusian mit ihrer Freundin Anni.

      »Hallo, Schwägerin!«, rief er hinüber.

      »Hallo, Schwager.«

      »Hast du heute Abend ’n bisschen Zeit für mich?« Elisabeth Kusian hob die rechte Hand, um damit ein paarmal vor dem Gesicht hin und her zu fahren, als ob er nicht mehr alle hätte. »Nee, bestimmt nicht.«

      »Pass bloß auf, dass sich deine Knochen nicht auch mal in irgend ’ner Ruine finden«, murmelte Walter Kusian beim Weiterfahren.

      Hannes Seidelmann, gelernter Telegraphenbauhandwerker, war Störungssucher bei der Post und als solcher ein ziemlich freier Mann. Sein Vorgesetzter saß in der Skalitzer Straße am Prüfschrank und konnte nur schwer kontrollieren, wie schnell ein kaputtes Telefon repariert war und was er zwischen zwei Aufträgen so alles anstellte – zum Beispiel mal eben schnell nach Hause fuhr und Kaffee trank. Oder in seiner Laube nach dem Rechten sah. Oder seine Geliebte kurz beglückte. Heute aber hatte er sich offiziell abgemeldet.

      »Sie wissen ja, was mit meinem Bruder los ist …« Seit mehr als fünf Tagen warteten sie auf ihn. Vergeblich. Am 3. Dezember hatte Hermann Seidelmann die Wohnung verlassen. Mit über 3000 DM-Ost in der Tasche … Und da war mit dem Schlimmsten zu rechnen. Obwohl … Von der Vermisstenstelle im Britischen Sektor, zu der sie gleich am nächsten Tag gegangen waren, hatten sie noch nichts gehört; was hoffen ließ. Zu Hause war der Bruder im sächsischen Plauen, doch wiederholte Anrufe bei seiner Frau Irma hatten nichts ergeben. »Nein, Hermann ist hier nicht wiederaufgetaucht.« Sehr zu bedauern schien sie das nicht. Am 17. November war Hermann nach Berlin gekommen. Zur Beerdigung seiner Mutter, ihrer Mutter. Mit der Heimreise hatte er sich Zeit lassen wollen. Er wollte noch Geld tauschen, Ost gegen West, und in West-Berlin Ersatzteile für seine Fahrgeschäfte


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