Der kalte Engel. Horst Bosetzky

Der kalte Engel - Horst Bosetzky


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immer resolut im Leben, nahm sie in den Arm. »Nun machen wir’s mal umgekehrt, jetzt bin ich mal dran, mich um Sie zu kümmern. Soll ich Ihnen was borgen?«

      »Das ist lieb von Ihnen, aber wir dürfen das nicht.«

      »Gott, Kindchen, das merkt doch keiner. Ich habe fünfzig Mark im Schrank. Wenn ich nachher auf die Toilette gehe, dann kriegen Sie die. Bis zum neuen Jahr. Dann kommen Sie mal bei mir zu Hause vorbei und bringen mir die zurück. Ohne Zinsen.« Sie lachte, froh über ihre gute Tat.

      Elisabeth Kusian konnte aufatmen. Wieder einmal. Und zugleich war sie niedergedrückt. Was war sie denn: eine Bettlerin. Da hatte sie sich auch ein anderes Leben erträumt. Aber immerhin: Zwei Stunden später hatte sie das Geld und konnte überlegen, worüber sich die Kinder am meisten freuen würden.

      Kurt Muschan war ein Mensch, den alle anderen beneideten. Und dies aus vielerlei Gründen. So unbeschadet wie er hatte kaum einer Krieg und Naziherrschaft überstanden. Während andere Männer seines Jahrgangs in Schützengraben, Panzer oder U-Boot Leben und Gesundheit verloren hatten, war es ihm in der Schreibstube einer Verpflegungseinheit wahrhaft gold gegangen. Wie die Made im Speck hatte er gelebt. Und zu Hause: nicht ausgebombt, kein Angehöriger im Luftschutzkeller ums Leben gekommen. »Ja, was ein echter Glückspilz ist …« Auch seine Uschi galt als ein seltenes Prachtexemplar von Kameradin und Mutter, wenn sie auch in letzter Zeit etwas in die Breite gegangen war. Und last but not least: Arbeit hatte Muschan auch, war gleich nach ’45 bei der Kriminalpolizei eingestellt worden. »Wer hat, dem wird gegeben werden«, sagten die Nachbarn, Freunde und Verwandte.

      Muschan liebte es, im Fenster zu liegen und auf die Bahnanlagen hinunterzusehen. Links von ihm erstreckte sich bis hin zum Innsbrucker Platz der Güterbahnhof, und unmittelbar vor ihm lag der Bahnhof Wilmersdorf. Schon als Kind hatten ihn die gelbroten S-Bahnzüge fasziniert, und immer wieder hatte er ihr langgezogenes Öööööh nachgemacht, wenn sie anfuhren. Oder das Zischen der Druckluft beim Bremsen. In der Gegend um den Bahnhof Wilmersdorf und den Kaiserplatz gab es nur vergleichsweise wenig Ruinen, und auch im Jahre 1949 wehte hier noch ein Hauch jener gediegenen Bürgerlichkeit, die Berlin zur Zeit des Nesthäkchens ausgezeichnet hatte. »Schutzmannsruh« sagten Muschans Kollegen dazu.

      Es war nun genug gelüftet. »Besser warmer Mief als kalter Ozon«, war das Motto dieser Jahre, wo Holz und Kohle Mangelware waren. Muschan schloss das Fenster und wandte sich wieder seinen beiden großen Kindern zu. Manfred, mit seinen zwölf Jahren noch ein »echtes Vorkriegsmodell«, spielte mit den mühsam reparierten Resten einer Märklin-Eisenbahn, und Hannelore, 1941 bei einem Fronturlaub gezeugt, vergnügte sich mit einer Puppe, die ihre Oma aus ein paar Putzlappen gezaubert hatte. Dieses Jahr Weihnachten sollte es endlich neues Spielzeug geben. Jetzt, wo man wieder alles kaufen konnte. Helga, die Jüngste, hatte gerade laufen gelernt und riss alles vom Couchtisch und den Regalen herunter. Uschi kam gar nicht so schnell hinterher, alles wieder aufzuräumen. Und Ordnung lag ihr sehr am Herzen, denn von Hause aus war sie Verwaltungsangestellte und hatte früher im Rathaus Wilmersdorf das Mess- und Eichwesen betreut. Staub lag auf dem Rahmen ihres Hochzeitsfotos von 1936. Sie fuhr mit dem Zeigefinger darüber. Es hatte weit und breit kein schöneres Paar gegeben als sie.

      Es klingelte. Kurt Muschan lief zur Tür. »Das wird der Bernhard sein, mich abholen. Heute ist ja Skatabend. Bei ihm in Neukölln.« Uschi fragte nach, wer denn Bernhard sei, den Namen habe sie noch nie gehört. »Eigentlich einer von der Staatsanwaltschaft, aber der hospitiert bei der Kripo, um Erfahrung zu sammeln.« Einmal im Monat trafen sie sich zu viert bei einem Kollegen, um ihren Skat zu kloppen. Das Geld kam in eine gemeinsame Kasse und wurde dann am Vatertag auf den Kopf gehauen. Muschan öffnete die Tür. »Immer rein, wenn’s kein Schneider ist.«

      Bernhard Bacheran winkte ab. »Nein, keine großen Umstände bitte, wir haben schon eine Viertelstunde Verspätung.« Die Zeit, Ursula Muschan zu begrüßen und ihr formvollendet und mit leichter Ironie die Hand zu küssen, nahm er sich aber. Der Blick, mit dem er sie musterte, hatte etwas von der tiefen Melancholie eines Fadosängers. Und die Kinder bekamen alle ihren Sahnebonbon. Dann schoben sie ab. Vom Bahnsteig aus winkten sie den vier oben im Fenster noch einmal zu. Dann kam der Vollring über Papestraße, und sie fuhren ab. Bis Neukölln waren es sechs Stationen, doch schon an der zweiten, Bahnhof Schöneberg, stieg Muschan aus.

      Bacheran grinste. »Viel Spaß dann auch.«

      »Euch ebenfalls.«

      »Na, so’n Stich wie du wird wohl heute Abend keiner von uns machen.«

      Muschan winkte dem Freund und Kollegen noch kurz zu, dann lief er die Treppe zur Wannseebahn hinunter. Mit einem verdammt schlechten Gefühl, aber … Die Natur war eben stärker. Punktum. So glücklich Kurt Muschan auch schien, er hatte etwas, das ihn sehr bedrückte: seinen Trieb. Er war gerade 37 Jahre alt, und da musste es halt hin und wieder sein, dass ein Mann eine Frau hatte. Richtig, nicht nur platonisch. War da nichts, dann war man recht eigentlich tot. Und seit sie Helga zur Welt gebracht hatte, da wollte seine Uschi nicht mehr. Ließ sie sich wirklich einmal überreden, dann schrie sie vor Schmerzen, wenn er in sie eingedrungen war. Zum Arzt ging sie nicht, es war ihr zu peinlich. »Es wird schon wieder werden, du musst nur ein bisschen warten …« Jetzt wartete er schon länger als zwei Jahre. Nun war es nicht mehr auszuhalten. Sich selber Erleichterung zu verschaffen, verbot ihm seine strenge Erziehung, und zu einer Prostituierten ging er nicht. Aus Angst, sich anzustecken, wie aus Angst, dass ihn einer seiner Vorgesetzten dabei erwischte und dann nicht mehr beförderte. Derart in sexueller Not, war ihm Elisabeth begegnet. Obwohl es während einer dienstlichen Handlung geschehen war und nicht etwa in einem Tanzschuppen, hatte sie sofort gespürt, wie es um ihn stand.

      Sie hatten sich auf dem Bahnhof Zoo verabredet, aber er wollte sie überraschen und fuhr, als er Friedrichstraße umgestiegen war, nur bis Bellevue, um dort auf sie zu warten. Doch die Minuten vergingen. Keine Spur von ihr. Als Kriminalbeamter hatte er sofort ganz bestimmte Bilder im Kopf. Wie sie vom Krankenhaus kam und dabei, wollte sie zur S-Bahn, durch den Kleinen Tiergarten ging … Plötzlich schnellte ein Mann hinter den Büschen hervor, schlang ihr eine Wäscheleine um den Hals, schleifte sie ins Unterholz, verging sich an ihr und würgte sie zu Tode.

      Zu spät fiel ihm ein, dass sie wahrscheinlich mit der Straßenbahn gefahren war. Die 2 hielt ja direkt vor dem Krankenhaus und fuhr zum Zoo. Er sprang in einen gerade anfahrenden Zug, um nicht zu spät zu kommen. Und richtig, unten an der Uhr stand sie schon.

      »Mein Bub, da bist du ja.« Sie umarmte ihn auf offener Straße.

      »Ach, Elisabeth …« Er nutzte den Trubel und das schwache Licht, um schon hier seinen rechten Schenkel, so weit Rock und Mantel es zuließen, zwischen ihre Beine zu schieben und sie mit dem Knie dort zu massieren, wo sie es gerne hatte.

      »Komm, mein kleiner Stier, bezähme dich.« Da sie noch Schwesterntracht trug, fürchtete sie, Aufsehen zu erregen, öffentliches Ärgernis. »Erzähl mir lieber von deiner Arbeit.«

      »Ja, nun …« Sie gingen nun nebeneinander die Joachimsthaler Straße hinauf und bogen, nachdem sie die Hardenbergstraße überquert hatten, nach hundert Metern rechts in die Kantstraße ein. »Mit den Leichenteilen, die sie am Stettiner Bahnhof gefunden haben, muss ich mich ja Gott sei Dank nicht herumquälen. Das machen die Kollegen im Osten. Wir haben im Augenblick nur die kleinen Fische. Buntmetalldiebe, Wohnungseinbrüche, Beischlafdiebstähle …« Schon das Wort allein war Aphrodisiakum genug und sorgte dafür, dass er es gar nicht mehr erwarten konnte, bei ihr im Zimmer zu sein.

      »Und das alles muss ich ins Protokoll schreiben. Mit Bleistift und Papier. Noch immer hab’ ich keine Schreibmaschine … Wenn ich doch bloß ’ne Schreibmaschine hätte! Ein Königreich für eine Schreibmaschine.«

      »Warte mal ab …« Sie lächelte ebenso schelmisch wie geheimnisvoll. »Bald ist ja Weihnachten.«

      »Elisabeth, bist du verrückt?!«

      »Ja, nach dir.«

      »Du kannst mir doch keine Schreibmaschine schenken, so viel verdienst du doch auch wieder nicht.«

      »Lass


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