Eine verborgene Welt. Alina Tamasan

Eine verborgene Welt - Alina Tamasan


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ihrer Schulter. Sie drehte den Kopf und blickte in die Augen eines farbigen Pflegers.

      „Kommen Sie“, sagte er, „ich bringe Sie in die Kantine zum Mittagessen.“

      „Mittagessen?“ Der Gedanke an Essen ließ sie sofort wieder würgen.

      „Sie müssen etwas zu sich nehmen. Es wird Ihnen besser gehen, wenn Sie etwas im Magen haben, vertrauen Sie mir“, sagte der Pfleger freundlich aber bestimmt. Noromadi ließ sich von ihm aufhelfen und zur Kantine bringen. Essensgerüche schlugen ihr entgegen und sie musste neuerlich würgen. Der Mann wies sie an, sich zu setzen und holte ihr das Essen. Teller gab es nicht. Dafür waren in das Tablett Mulden eingelassen, in denen die einzelnen Komponenten lagen. Es gab Geschnetzeltes, Kartoffelbrei und etwas Gemüse. Der Mann drückte ihr eine Plastikgabel in die Hand und forderte sie auf, zu essen. Dann ließ er sie alleine.

      Alles in ihr wehrte sich. Ein Teil von ihr wusste, dass der Pfleger recht hatte. Sie würde sich danach besser fühlen. Sie hielt die Luft an und schob sich etwas Brei in den Mund. Er schmeckte salzig.

      ‚Los jetzt‘, schrie sie sich an, ‚schluck es runter.‘ Mit verzerrtem Gesicht würgte sie den Happen hinunter und quälte sich noch die nächsten drei Bissen, dann wurde es schlagartig besser. Das Gefühl der Übelkeit verschwand. Nach und nach regte sich ihr Appetit. Sie aß schließlich alles auf und lehnte sich entspannt zurück. Ihr Kopf war zwar noch schwer, aber der Würgereiz war verschwunden. Als sie sich von ihrem Platz erhob, fühlte sie eine bleierne Müdigkeit in ihren Knochen, als hätte sie einen 12-Stunden-Arbeitstag hinter sich.

      ‚Dabei will ich mich doch gar nicht umbringen …‘, schwamm es in ihrem Kopf herum, während sie langsam auf ihr Zimmer schlurfte. Sie sank aufs Bett und fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ihr schien, als seien kaum ein paar Minuten vergangen, als sich etwas warmes Schweres auf ihre Schultern legte.

      „Noromadi, wach auf! Du musst zur Therapie!“, drang eine männliche Stimme freundlich aber bestimmt auf sie ein.

      „Maas tufch …“, murmelte sie und wand sich auf dem Kissen.

      „Noromadi?“, er rüttelte sie vorsichtig. Keine Reaktion. Einer plötzlichen Eingebung folgend, versuchte er, ihre Worte zu wiederholen und flüsterte ihr begütigend ins Ohr: „Mas, mas?“

      „Ner … màkia màraf … maas tufch …“ Verwundert lauschte er den fremden Lauten, dann holte er geistesgegenwärtig einen Notizblock aus seiner Tasche und notierte sich, was er verstanden hatte. Er stellte den Wecker und ließ ihn klingeln. Noromadi schreckte empor und blinzelte verschlafen in den Raum.

      „Was? Was? … Hallo, Herr Doktor“, murmelte sie und rieb sich die Augen. „Was ist los?“

      „Es ist Zeit für deine Therapiesitzung! Du hast verschlafen! Komm.“

      „Ich bin müde“, erwiderte sie matt, „können wir die Sitzung verschieben?“

      „Es wird dir gleich besser gehen. Am Anfang, wenn die Medikamente anfangen zu wirken, ist es immer besonders hart. Wenn du jetzt aber nicht aufstehst, wirst du bis zum Abend schlafen und dich nachts schlaflos herumwälzen. Da helfen die allabendlichen Beruhigungsmittel auch nicht mehr viel.“ Noromadi sah ein, dass er recht hatte, sie erhob sich mühsam und wankte zur Tür. Sie spürte die starken Arme des Stationsarztes, die sie umfasst hielten und ließ sich von ihm bereitwillig führen. Im Korridor verfolgte er geduldig ihre kleinen schlurfenden Schritte und leitete sie schließlich in einen hellen Therapieraum. Noromadi ließ sich in den weichen Stuhl sinken und war schon im Begriff wieder einzuschlafen, als ihr ein bekannter Duft in die Nase stieg.

      „Trink’ etwas Kaffee, das macht dich munter.“ Sie ergriff die Tasse und führte sie an die Lippen. Der erste Schluck tat ihr wirklich gut. Mutig trank sie in kleinen Schlucken weiter und wurde immer wacher.

      „Fühlst du dich besser?“, fragte der Arzt freundlich.

      „Ja“, antwortete sie knapp. Ihr Kopf war zwar immer noch schwer, aber sie war so wach, dass sie sich auf seine Worte konzentrieren konnte ohne einzunicken.

      „Ich hoffe, du hast dich in der Kürze der Zeit gut bei uns eingelebt“, begann der Mann die Sitzung.

      „Ja, das Personal kümmert sich gut um mich, besonders Frau Fischer“, antwortete Noromadi langsam.

      „Ja, Frau Fischer ist unsere Perle, eine wirklich fähige Frau!“, antwortete Dr. Müller mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. Dann kramte er einen kleinen Zettel aus der Tasche hervor. Er faltete ihn auseinander und überreichte ihn Noromadi.

      „Was sind das für Worte?“, fragte er vorsichtig.

      „Ner … mas … makia tufich …“, las die junge Frau laut vor. „Öhm, ich weiß nicht“, antwortete sie verwirrt.

      „Du hast sie im Schlaf gesprochen. Ich habe sie aufgeschrieben, aber ich weiß weder die richtige Reihenfolge noch kenne ich die korrekte Schreibweise. Kannst du mir mehr dazu sagen?“ Noromadi beschlich ein seltsames Gefühl. Irgendwoher kannte sie diese Worte. Nur woher? Und was bedeuteten sie? Da erinnerte sie sich auf einmal an jenen Tag, an dem sie das letzte Mal aus dem Wald gekommen war. Damals hatte sie auch etwas vor sich hin gemurmelt, das ähnlich geklungen hatte. Der Zettel begann leicht in ihrer Hand zu zittern. Dr. Müller entging es nicht. „Hab keine Angst“, sagte er sanft, Noromadi blickte zu ihm auf. „Bitte, sag mir die Worte in der richtigen Reihenfolge und, wenn es geht, auch deren Bedeutung“, fügte er freundlich hinzu.

      ‚Spielt er dasselbe Spielchen wie Dr. August? Will er mir eine Aussage entlocken, um mich als verrückt abzustempeln?‘ Sie sah in seine braunen Augen, sein Blick verriet ihr, dass er sie ernst nahm. Sie atmete geräuschvoll aus und sah wieder auf das Papier in ihrer Hand. Derweil sie sich in die Worte einfühlte, fing ihr Herz immer stärker zu pochen an. Sie öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu, öffnete ihn wieder und klappte ihn zu. Sie spürte einen zunehmenden Druck auf ihrem Brustkorb, als würde von dort etwas langsam ihre Kehle hinauf kriechen, groß und klumpig, bis es die Stimmbänder erreichte und …

      „Ner …“, sie schluckte, „ner màkia …“, sie stockte, „hier fehlt ein Wort.“

      „Welches Wort fehlt, Noromadi?“

      „Màraf“, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

      „Und was kommt dann?“

      „Sssss…“, stotterte sie mit bebendem Herzen, derweil sich der dicke Wortklumpen langsam aus ihrer Kehle wand. „Ssss… maas, maas …“, wiederholte sie immer wieder. Dieses Wort fühlte sich so unglaublich befreiend an, „tufch“, beendete sie schließlich den Satz.

      „Bitte schreib es auf.“ Dr. Müller reichte ihr einen Stift. Mit krakeligen Buchstaben setzte sie den Satz auf das Papier.

      „Gut gemacht!“, lobte sie der Arzt. „Nun sag sie alle nacheinander auf.“

      „Ner … màkia màraf … maas tufch“, las sie flüssig und blickte ihn dabei erstaunt an. Ihre Stimme klang seltsam, als würde sie von weit her kommen, und als spräche ein Anderer als sie selbst.

      „Was bedeuten die Worte?“

      „Sie bedeuten: ‚Nein, will nicht, sehr müde’“, stotterte Noromadi und wurde bleich.

      „Was ist das für eine Sprache?“ Die junge Frau rieb sich aufgeregt die spitzen Hände. Sie hatte geahnt, dass diese Frage folgen würde.

      „Ich weiß es nicht“, flüsterte sie.

      „Weißt du es nicht oder hast du Angst, es mir zu sagen?“, wollte Dr. Müller wissen. In Noromadi arbeitete es. Irgendwoher kannte sie diese Worte. Sie waren ihr vertraut, als hätte sie sie schon ihr ganzes Leben lang gesprochen. Sie schloss die Augen und rieb sich das Kinn. Ein Bild wollte sich vor ihr inneres Auge drängen, aber es verblasste so schnell, wie es gekommen war und hinterließ nur einen zarten Duft von blühenden Blumen, Gras, Erde und Baumrinde. Es war der Duft der Natur. Sie seufzte tief und Angst kroch in ihr hoch.

      „Ehrlich,


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