Eine verborgene Welt. Alina Tamasan
während sie in die entsetzten Gesichter ihrer Familienmitglieder starrte.
„Martin lässt sich entschuldigen“, lächelte Mutter Clara verlegen. „Er hat heute eine wichtige Prüfung, deswegen konnte er nicht kommen.“
„Wir freuen uns, dass es dir besser geht“, fügte Wilhelm hinzu und legte ihr seine Hand auf die Schulter. „Dr. Müller sagt, dass die Nebenwirkungen bald vorübergehen. Er meint, wenn die Symptome nachgelassen haben, könntest du wieder nach Hause kommen. Freust du dich?“ Noromadi lächelte gequält. „Ich darf dir übrigens mitteilen“, fuhr er aufmunternd fort, „dass du an der Uni angenommen wurdest. Na, wie findest du das? Nächstes Jahr im Herbst kannst du mit deinem Biologiestudium beginnen!“
„Gut“, antwortete die junge Frau matt.
„Komm, Wilhelm, ich glaube, sie muss sich ausruhen“, drängte Clara ungeduldig und sie verabschiedeten sich eilig. Noromadi saß auf ihrem Bett und fühlte sich mutterseelenallein. Tränen kullerten über ihr Gesicht und sie fragte sich ängstlich, was sie da nur mit sich hatte anstellen lassen. Es beschlich sie der Gedanke, dass sie vielleicht nie wieder so wie früher werden würde. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich alt, einsam und vergessen, wie sie zitternd und stotternd in einer Anstalt saß, während ihre Eltern und Freunde draußen ihr normales Leben führten.
„N… nach Hhause, wenn d… die Symptome … sss … Unsinn“, stolperte es aus ihrem Mund, derweil sie ihre Hände nervös rieb. Sie weinte still vor sich hin und überlegte, Frau Fischer zu rufen, aber die war bestimmt, wie immer, viel zu beschäftigt, um ihr Händchen zu halten.
„Nn… niee tun sssolln hätt ich dass …“, schluchzte sie und schnäuzte sich umständlich. Dann erinnerte sie sich auf einmal an die wohltuende Wirkung des Wortes in dieser merkwürdigen Sprache, als sie es damals ausgesprochen hatte. Wie hatte es doch geheißen? Noromadi suchte krampfhaft in ihren Erinnerungen und verzerrte dabei ihr Gesicht zu einer einzigen Grimasse. Ihre Hände verkrampften sich, dass die Haut weiß wurde, und ihre Beine bäumten sich auf wie wilde Tiere.
„Ssss… sss…“, zischte sie immer wieder. „Ssss… mmm… ssss“, entfuhr es ihr, während die Tränen rannen und ihr Herz hämmerte. Plötzlich barst etwas in ihr, wie ein Knoten, der sich löst. Sie holte tief Luft und rief mit klarer Stimme: „Maas.“ Überrascht hielt sie inne, dann versuchte sie es erneut, und wieder gelang es ihr: „Maas, maas …“ Sie schluckte, schloss die Augen und wartete, dass sich ihr Herz beruhigte, dann schüttelte sie langsam den Kopf und sagte so leise, dass sie es selbst kaum hören konnte: „Nein, maar … maas maar … maas maar …“ Die Worte glitten aus ihr heraus wie Öl. Sie spürte, wie die Zuckungen ihres Körpers nachließen, ihr Herzschlag nahm seinen gewohnten Rhythmus auf und ihr Kopf wurde klar. Dann öffnete sie die Augen und wusste ganz genau: Nie wieder würde sie sich freiwillig in die Psychiatrie begeben.
In den nächsten Wochen wurde die Dosis der Medikamente reduziert und durch schwächere Präparate ersetzt. Mit Erleichterung stellte Noromadi fest, dass die Symptome endlich nachließen. Das Zittern ihrer Gliedmaßen verebbte und Kraft kehrte in ihren Körper zurück. Müdigkeit wechselte – je nach Tageszeit und Präparat – mit Überaktivität ab, aber die Auswirkungen waren nicht mehr ganz so heftig. Das machte Noromadi ausgeglichener, sie nahm konzentrierter an den Therapiesitzungen teil und war mit ihren Bildern wieder zufrieden.
Was sie jedoch für sich behielt, war die Tatsache, dass mit der Reduktion der Medikamente eine ganz andere „Nebenwirkung“ auftrat, die von der Ärzteschaft nicht gerne gesehen werden würde. Noromadi konnte wieder Auren sehen. Ja, mehr noch: Ihre Träume kehrten zurück, und die fremde Sprache, die ihr so wohl tat, fiel ihr wieder ein und ging ihr leicht von den Lippen. Überrascht stellte sie fest, dass diese eigenartigen Worte eine außerordentlich positive Wirkung auf ihren Körper und Geist ausübten, wenn sie sie in einer Art Singsang wiederholte. Also tat sie es immer wieder … nur eben heimlich.
‚Ja, es muss geheim bleiben’, dachte sie in dieser Nacht, als sie zum ersten Mal wieder in der Lage war, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen, wann sie einschlief. ‚Vielleicht sollte ich ein Wörterbuch schreiben. Deutsch und … wie heißt diese Sprache eigentlich?’, ein Geistesblitz schoss ihr durch ihren Kopf, ‚ich nenne sie Gniri-Sprache, was anderes kann es ja nicht sein, sagt selbst der Stationsarzt. Aber warum kann ich sie sprechen, ich bin doch …‘ Plötzlich erinnerte sie sich an die Botschaft des Engels, sie stutzte. ‚An diesen Gedanken muss ich mich erst einmal gewöhnen, mich gewissermaßen empirisch herantasten, damit ich nicht verrückt werde. Ach egal, Hauptsache ich bin wieder ich selbst.‘ Sie blickte zur Zimmerdecke und freute sich zu sehen, dass die wabernde dunkelblaue Energie ihres Schutzengels in ein zartes Rosa überging.
‚Ganz behutsam’, erklang plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf. ‚Nimm dir die Zeit, die du benötigst, gönne sie dir, nur bitte, geh den Weg weiter!‘ Die Bitte klang irgendwie flehentlich, ja fast schmerzlich.
‚Manchmal’, reagierte ihr Schutzgeist, ‚können wir ermessen, wie wichtig es ist, einen Schritt zu gehen!‘
‚Ich werde mir Mühe geben‘, antwortete Noromadi, ‚du verstehst, dass das nicht leicht für mich ist. Schau nur, wie ich mich verstellen muss, damit ich in Ruhe sein kann.‘
‚Es ist kein Verstellen, mein Kind, du gehst zu den Menschen und holst sie dort ab, wo sie sind.‘
‚Kannst du das näher erläutern, bitte?‘
‚Stell dir vor, du stehst mitten in der Natur. Vor dir liegen Felder und Wiesen. In der Ferne plätschert ein Bach. Du siehst auf der anderen Seite des Bachs jemanden stehen. Ein Mensch. Er steht ganz nah am Wasser und beobachtet ängstlich, wie es dahinfließt. Der Bach reicht ihm bis an die Knöchel, dennoch hat der Mensch Angst, ihn zu überqueren. Es nützt nichts, wenn du ihm zurufst, wie schön die Landschaft jenseits des Wassers ist, denn er kennt sie nicht. Also musst du zu ihm gehen, durch den Bach waten, ihn an die Hand nehmen und hinüberbegleiten. Erst wenn ihr am anderen Ufer seid, kannst du ihm die Landschaft nahebringen – ohne ihn zu erschrecken. Je mehr er selbst davon erfährt und verinnerlicht, desto eher ist er imstande, deinen Worten eine Bedeutung zu geben.‘
‚Hat das mit Naturwesen und Weltenverbinden zu tun?‘ Noromadi war etwas verwirrt.
‚Noromadi, du bist eine Vermittlerin. Was du in der Welt der Naturwesen erfahren wirst, dürfen auch die Menschen erfahren. Die Menschen, die mehr darüber wissen möchten, werden zu dir finden, wenn es an der Zeit ist. An dieser Stelle ist dein Einfühlungsvermögen gefragt: Bringe dem Ängstlichen die Botschaft der Harmonie von Natur und Mensch, ohne ihn noch mehr zu ängstigen.‘
‚Ich muss also keinen Zauber weben, um die Welten zu vereinen?‘
‚Mitgefühl ist ein Zauber‘, und Noromadi verstand.
‚Aber diese Mischwesen-Sache?‘, erkundigte sie sich beklommen.
‚Was behagt dir daran nicht?‘
‚Das Bewusstsein, kein Mensch zu sein.‘
‚Aber du bist ein Mensch, innen wie außen. Im Grunde sind alle Menschen Naturwesen, sie haben sich nur von der Natur entfernt und das vergessen.‘
‚Ich weiß‘, meinte Noromadi betrübt, ‚aber da steckt mehr dahinter.‘
‚Was dich von ihnen unterscheiden mag‘, fuhr ihr Gegenüber unbeirrt fort, ‚ist dein Gefühl, in einer vergangenen Inkarnation unter dem Volk der Gniri gelebt zu haben, als einer von ihnen. Dieses Erinnern verwirrt dich, denn deine unterschiedlichen Leben offenbaren sich dir wie eine Perlenkette. Ereignisse, die weit in der Vergangenheit liegen, die geschahen, als du in einem anderen Körper lebtest, treten auf einmal wieder klar zutage, als seien sie erst gestern passiert. Dein Verstand ist jung, er lebt nur so lange wie der Körper Noromadi lebt, und seine Erinnerungen sind nur aus dem jetzigen Dasein. Er kann nicht verstehen, dass sich deine Seele an etwas erinnert, was nicht in diesem Leben stattfand. Deswegen fühlst du in dir eine Diskrepanz, einen Widerspruch zwischen dieser und der anderen Welt, deswegen fällt es dir als Mensch so schwer, den Aspekt des Mischwesens anzunehmen.‘
‚Also